Anton und Gerda

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Denkens Beginn

Verging Zeit –?

Vielleicht. Arne war streitsüchtig gewesen, dann lachend geräuschvoll, er hatte Zoten gerissen, Komplimente gedrechselt, nun musterte er mürrisch trübe die beiden, schwieg.

Doch Anton lernte sich anders kennen, fühlte Erwachen, ein nie erlebtes. Zartes feuriges Rieseln lief durch den Leib, seine Hände erneuten sich, und tasteten sie, fühlten die Finger wirklich. So stark drang durch die Haut Ansturm intensivsten Lebens, daß er einen Augenblick die Augen schloß, um nicht ganz an die Fülle verlorenzugehen. Wie ein Schmerz war es, ein heißer Schmerz, ein guter, daß er den Mund verzog.

»Lächelst du, Jo?«

»Nein. Nicht. Aber ich muß daran denken, daß ich es im Grunde immer gewußt habe. Es lag in mir, Kern in der Nuß, und nun … ja, immer habe ich es gewußt, schon ganz früh …«

»Was ist es, das du gewußt hast?«

»So war es. Sieh, daheim hörte ich nur von Pflicht, von Arbeit, Frömmigkeit. Nicht anders waren die Eltern. Sonst nichts. Gar nichts. Man war sie. Wurde wie sie. War’s anders möglich? Denken war nie not, alles Erlebte Beweis, daß stets die Eltern recht hatten. Und mit ihnen ich Folgsamer. Siegte ich mit meinem Fleiß über die Faulen, zeigte nicht das schon, wie sehr sie recht hatten? Alles Abweichen trug seine Strafe in sich, und nur Schein war der Triumph des Betrügers, denn dem unentdeckten selbst wurde als mildeste Strafe das Bewußtsein, Sünder zu heißen, versetzt.«

Ins Leere gesprochen, zögernd, suchend, mit zager Stimme: angstvolle Nichtigkeiten, unwichtige, angeglüht doch schon von dem Glanz des ungeheuren Sonnenaufgangs, der alles, alles sichtbar machen wird. Jetzt noch: schrecklich sichtbar. Eine Erhellung, die erschüttert, blinzeln läßt. Wo ist der gute Dämmerwinkel, da du haustest, Nachttier Bürger? Tastest in zu viel Licht nun, stolperst, suchst, tastest …

Finger, schmale, klägliche Knabenfinger, deren mittelster von Schreibarbeit knotig verdickt ist, Finger tupfen leise über die Messingplatte, als wollten sie dies Gelbe schmecken. Nun hebt er den Blick, steil im Licht steht sein Gesicht, eine Strähne schlägt zärtlichen Bogen über die Stirn zum sinnenden Auge, feine Hände krampfen sich – und wie ein Schluchzen aus Glück schwingt’s in der Stimme des Rufers: »Und zu denken, beinahe war man sein ganzes Leben zu solchem Betruge verdammt! Ohne es zu wissen. Man hätte mitgemacht, von Treue und Stolz und Arbeit geredet und Pflicht – und die Elenden und die andern verachtet … Nun kann man wohl niemand mehr verachten –?«

Er zweifelte, hob die Achsel, und seinen Blick in dem ihren, begann er plötzlich zu lächeln, ratlos. Der Bürger suchte den Winkel; rasch warf er den Kopf zurück, sprang auf. »Aber was kümmert uns das? Komm, die Musik spielt, wir tanzen …«

Sie glitt um die Theke, ging ihm entgegen und staunend sah er, wie klein sie war, ein Junge, zart, doch mit Schultern, mit Hüften, die … O nein, nicht denken, nicht überlegen, nur nicht zergliedern … Aber du fühlst wohl, wie ihr Gang dich verwirrt, dieser streifende, sachte, der ein wenig breit ist; nicht wahr doch –? Ein wenig breit –?

»Ach, wie dumm! Ein Walzer!«

»Warum? Ist Walzer nicht schön?«

»O du! Wo hast du Tanzen gelernt? Nein, so: eines, zweie, drei …«

Durch die Seide stieg die Kühle ihrer schmiegsamen Schulter, eine Kühle, von weither seltsam erneuert durch ruhende Wärme – er zog die Hand zurück, taumelte, stand. »Es geht nicht.«

»Nein, tanzen kannst du nicht. Aber was macht es? Ich bringe dir’s schon bei.«

»Du willst –?« Doch ganz enttäuscht: »Aber nein, es geht doch nicht.«

»Warum nicht? Was sollte nicht gehen?«

»Nein. Du denkst doch daran, daß ich arm bin?«

Kurzes Besinnen, wegwerfend: »Oh, auch ich habe nie Geld.«

»Aber –« Er sah sie fassungslos an. »Wer wie du –«

»Versteh doch! Frieren und hungern tu ich nicht, aber oft begehre ich toll etwas: einen Putz, irgendeinen Ring …« Ihr Blick verflattert, fällt. »Und …«

»Und …«

»Und es gibt nichts, das ich dann nicht täte.«

»Das sagt man so.«

»Sei still, du verstehst nichts davon, sollst es nie verstehen, nie –! Aber wo lebt denn ihr? Woher kommst denn du, daß du nicht einmal dies weißt? Wir wußten’s schon als Kinder, und der Apfel beim Bruder, die Puppe der Schwester wurden lieber vernichtet als gegönnt.«

»Wie du gelitten hast! Man muß sehr gut sein zu dir.«

»Sei es. Versuch’s. Sei es.«

»Durchdacht muß es werden, all das. Auf der Fischerbastion werde ich morgen sitzen; über mir Wind in Bäumen, unten das gerauhte Band der Warnow, werde ich daran denken …«

»An was, Lieber?«

»An alles. An die Welt und dich. – Hast du nie Angst?«

»O ich kann böse sein.«

»Siehst du, auch dich haben sie gestraft mit falschem Denken. Denn das muß falsch sein. Ich glaube nun, niemand ist böse. All das ist Lüge.

Aber ich habe es gewußt, ganz drunten in mir hat’s gewußt und gewartet und nun brach’s hervor, als ich dich … Sieh, das ist so gewesen: wenn ich arbeitete und die Ziele sah und den Ehrgeiz fühlte und Wachsen des Wissens, dann war ich am frohesten, wenn ich die Vorhänge schließen konnte, das Gas summte leise, und kaum je, daß ein fliegender Ruf mich streifte.«

Listig: »Aber das war es, da steckte der Betrug, und in mir hat’s ihn geahnt: die Welt war draußen. Um mich Bücher – oh, es muß noch andere Bücher geben, und ich werde sie finden! –, Möbel, deren Häßlichkeit ich nun erst sehe, Spruchbänder, die mich immer anlogen, Nippes, versteinerte Gewordenheit –: aber die Welt war draußen.«

Und mit freier Gebärde – als würfe er sich einer Sonne zu, erglänzte feierlich sein Gesicht –: »Warum wäre denn der Flieder gar so schön? Warum wäre die Welt einmal weiß und blau, einmal golden und grün? Warum krampfen Reihen von gereimten Worten mein Herz wunderbar schmerzvoll zusammen? Und warum ist es froh im tiefsten Grunde, da es dich sieht und nun bis an alles Ende weiß, daß es ein Lächeln wie deines auf der Welt gibt?«

»Danke, Liebster.«

»Oh, ich ahne es erst, welcher Dumpfheit ich entkam. Noch ziehen die Nebel, und wenn ich erst die Sonne sehe … Ich werde sie sehen!«

Und Arne. »Sie muß bald aufgehen. Ich denke, es ist Zeit für uns.«

Ernüchtert: »Ja, natürlich. Wir sind wohl die letzten. Adieu, Gerda.«

Ihre Hände sanken ineinander. Ihre Augen.

»Wartet, Buben, ich komme mit euch. Ihr bringt mich nach Haus.«

(Nachhall: »Wartet, Buben –!«)

Heimgang in der Frühe

Dunkle Straßen. Kalter Wind vom Meer.

Dem Jungen ist’s, als müsse er aufhorchen, als würde er dann über dem endlosen Sturmessausen die hellen und wilden Rufe der Möwen vom Meere her hören, die ewig das Gefühl endlosester Einsamkeit in die Seele des Horchers schreien. Ihn fröstelt, ein wenig taumelt er, aber schon glitt eine warme Hand in seine, hielt ihn, eine Stimme fragte: »Mein Junge ist traurig?«

»Oh –«

»Soll es nicht sein. Bin ich doch da.«

»Freilich, du bist da.«

Und heiß, innen: »Aber bald wird sie wieder fort sein. Morgen schon! Morgen? Heute noch! Schon beginnt es zu dämmern, die Umrisse des Kröpeliner Tors treten aus der Nacht, so wenig Schritte noch und der neue wolkige Tag wird mit Regenschauern und Sturm die frohhellen Konturen dieser Nacht vage machen …«

Ein wenig zögerte er, dann rührte sich seine Hand in der ihren, und diese Bewegung schien seinen Wünschen Hoffnung, seinen Entschlüssen Feuer gegeben zu haben. Warum denn sollte man verzichten? Heimkehren wie ein Odysseus etwa, dem allein vom Locklied der Sirenen Strickmale an Arm und Bein blieben? Ins Wasser hinein! Vorwärts schnellen dich deine Schwimmstöße, und nun am Strande beugst du Nackter die Knie vor den nie geahnten Köstlichkeiten dieser. »Sterben –? Aber bei ihnen sterben! Nicht wieder heimkehren müssen in das Grau, dort arbeiten, Pflichten erfüllen und dort, dort, dort im Sumpfe sterben müssen! Nein, heitere Salzluft der erschwommenen Insel, heiteres Gesträuch, heitere Sonne, heiteres Lachen und –.«

Und er sieht das Heim, Denkens Aus- und Eingang bis heut; die Sonntagvormittag-Sonne liegt im gezirkten, gezierten Gärtchen, der Vater schlurft auf Pantoffeln – »Du könntest eben mal das Exerzitium der Obersekunda durchsehn, Anton. Merke die Fehler mit Bleistift an.« –, das Frühstücksei liegt im Wattekorb – »schön wachsweich ist es noch, mein Tonerl« –, und das ist der Sonntag und morgen ist Penne und in drei Wochen ist Penne und Universität ist Penne und Beruf ist Penne und Heiraten ist Penne und Kinder-Aufbörnen ist Penne und … ist Penne und … ist Penne …

»Aber doch! Sie sind zu klug gewesen, arglistig und klug. Wer bin ich denn? Ein Junior von siebzehn mit herrlichen Prospekten, durch väterliches Einkommen zu verwirklichen. Denn ich selbst, ich werde in zehn Jahren noch kaum genug Geld verdienen, sie einmal wöchentlich in der Bar zu besuchen. In zehn Jahren –? Zehn Jahre warten –!?! Oh, wo bin ich in kurzem so klug geworden zu wissen, eine zehnjährige Verlobtentreue sei in keinem Belang so rührend schön und gefühlvoll, wie jene rühmen –? Sondern ein Geschäft, bei dem beide Teile betrogen werden –! Nein, sollen wir leben, gemeinsam, für einander, so heute oder nie!«

Er fand eine Karte in seiner Hand, umtastete sie mechanisch, steckte sie in die Tasche und griff wieder nach den Fingern jener, rastlos weiterdenkend: »Heute –? Wer bin ich denn, was hat man mich denn lernen lassen, daß ich leben könnte außer ihren Umkoppelungen? Sieh doch, sieh: gleich achtzehn und so hilflos, daß ich nicht einen Tag ohne Eltern zu leben hätte. Doch mit herrlichem, kostbarem Wissen im Kopf! Das haben sie sehr gut gemacht, die sie uns gerade soviel und gerade das lernen lassen, was in ihren Händen Geltung hat, aber nicht einen Schritt draußen. Also eine Verschwörung ist das, eine große, über die ganze Welt erstreckte, die schlecht heißt, was sich zu ihrem Zeichen nicht bekennt, aber vorgibt, Gesinnungen jeder Art zu achten, auf daß sie die Wölfe erkenne … So ist das also –?«

 

Er schluckte ein paarmal, ihn schwindelte, zu viele Gedanken drängten, er verlor den Faden, doch nun war es schon eine Helle über den ganzen Horizont, seltsam anders sehen in ihr Sprüche und Taten von Lehrer, Pastor, von Eltern aus … Als ob man sie hassen müsse …

Er ließ Gerdas Hand fallen, streifte ihre Schulter, blieb stehen, neigte sich vor, und ihr Gesicht hinter der geäderten Haut des Schleiers ahnend in einer fahlen Weiße, die ihre Tönung von dem Ziehenden, Jagenden dort oben entnommen zu haben schien, – ihr Gesicht nahe dem seinen, sprach er rasch, angstvoll verfliegend: »Entweder jetzt oder nie! Gefunden und verloren! Wer wäre ich! Ich habe nun begriffen. Und nie, nie will ich mehr verachten. Entweder jetzt oder nie! Jetzt kann nie sein, also muß nie jetzt sein. Du bist das Schönste, das Absonderlichste, das Weißeste, was je –. Haben wir denn miteinander gesprochen –? Woher kennen wir denn uns – etwa? Ist es nur der Blick gewesen, dieser eine Blick, in dessen Beginn du noch lächeltest, während sich deine Pupillen weiteten, weiteten –? Ja, vielleicht war es nur der Blick. Lebe wohl, sei tausendmal bedankt, lebe wohl …«

Ihm war, als griffen Hände zu, als tönten Rufe, eine atemraubende Stille fiel ein, wenige kleine, klagende Schreie, und um die Ecke, um noch eine … Nun nur noch der Klang der eigenen Schritte, und auf der Bank des Wallbergs hockt er, die Hände vorm Gesicht, die spärlichen Schultern beben, und etwas spricht in ihm: »Aber was ist denn das? Ich weine ja! Das darf doch nicht sein … Nicht –?«

Horche auf, Kleiner …

Horche auf, Kleiner. Horche auf mich!

Der Wind geht in den kahlen Bäumen, Rieselregen tropft leise, in der Ferne schlägt eine Uhr – und nichts kann trübseliger sein als diese gleichgültige Mahnung, daß auch die Stunde der Trauer vorübergehen wird und du bald wieder zu sprechen, zu arbeiten, zu lächeln hast und daß Löwenzahn blühen wird und Weißdorn.

Wie eine Qual ist’s ihm, seine Schmerzen dem stachligen Gesperre solcher Zweige gleich gegen die Brust zu drücken, doch ahnt er, daß sie sein werden wie der weiße Saft jener andern Blüten, der gar zu rasch in ein häßliches Braun sich verfärbt.

Liebes eigenwilliges Gesicht. Kleine Finger, schmale, stolze. Und du Gang, der du ein wenig breit bist und so haftend, wie Katzen in der Sonne gehen. Liebes eigenwilliges Gesicht.

»Wenn man sterben könnte! Sterben müßte so gut sein, hier, zwischen den entfärbten Blättern, deren dumpfer Geruch an die Frühlingsauferstehung erinnert. Aber nicht einmal das kann man. Denn irgendwie ist es gesetzt zwischen dir und mir, daß wir da waren, uns zu grüßen und voneinander zu gehen mit dem Wissen, diese sei bis ans Ende zu tragen – diese Liebe …«

Er horchte dem zum ersten Male durchfühlten Wort nach, die Miene versonnen; doch nun schlug eine Verzweiflung auf, die Hände ballten sich. »Nein! Nein!«

Und da fand er sie, fand die kleine Karte mit einem Namen, der ihn stutzen machte, denn anders lautete er wie Gerda, aber: »Bah, ich habe sie doch von ihr!«

Er liest die Adresse, macht zwei, macht drei Schritte, und schon ist er fort.

Horche auf mich, Kleiner!

Wind geht in kahlem Geäst. Rieselregen tropft leise.

Der Träumer legt sich von der Herzseite auf die rechte

Der Wind streicht über die Dünen, spielt im Strandhafer und im Haar des Träumers, geht weiter zu den Kiefernkuschern, deren Zweige zurückwogen, – kommt, spielt, geht – und erfüllt ist der Himmel von der Melodie des Meeres.

Über das bleiche Gesicht huscht ein Zucken. Er rührt sich im Schlaf, legt sich von der Herz- auf die rechte Seite. Nun ist es, als wolle er erwachen, seine Lippen regen sich, und die Worte, welche nicht laut werden, heißen so: »Nicht dies. Nein, so war es nicht. Heimgang, Ermatten, Zweifeln und das Schlimmste: das Ungläubigwerden an ihr … das Ungläu…«

Der Mond ist fort, hinter Wolken. Es ist ganz dunkel.

Sprach jemand?

Entgleite, zögernder Schatten, dem Leibe des Träumers, gehe ans Ufer!

Auf dem Meeresgrund wandert einer, leis leuchtend durchstreifen ihn Fische, langsam rudernder Blasentang gleitet durch seine Hände.

Ist er verirrt? Sucht er? Schicksale? Sind diese ungeheuren Tangwälder überfüllt von ungestalteten Träumen, versäumten Leben?

Wen sieht er doch?

Er lächelt, er spricht, klagt an – ach, er weint! Schon ist er wieder fort, er entgleitet, er ist hier, dort, zehn sind’s, hundert, tausend … Wie sie streiten! Sie kämpfen, manche fallen, andere eilen herbei, sie umschlingen sich, sie scheinen ein Lied zu singen –: sie sind fort.

Nein, einer schleicht noch durch Tang und Gras, du siehst ihn kaum. Ist er verirrt? Sucht er? Er lächelt, er klagt an – ach, er weint!

Ein Wassertropfen. Ein Dichter, der versäumtes Leben träumt …

Wind weht, Strandhafer raschelt, über die Hand eines Träumenden läuft klingender Sand.

Abgetan im Unratwinkel

»Dies ist der Weg, und dies ist das Tor. Was schlug die Uhr –? Vier –? Ah, zu wird das Haus sein, erst um sieben geht’s auf, und wie soll denn ich, am hellichten Tag, zu ihr gehen, die nur ein Barmädel –«

Ein Anprall war es, ein Schlag ins Gesicht, ein rasender Schmerz. Seine ganze Vergangenheit steht in ihm, seine Gewordenheit steht auf … jene meinte das Beiseitewort der Eltern, jene ihr Achselzucken, der Druck mit der Schulter, der fortschob … jene auch manches Pennälerwort, in der Latrine aufgeschnappt … ihr Busen wird lüstern entblößt, ihre Wange begeifert vom zotigen Wort …

»Gerda, liebe, liebe Gerda, warum hast du das getan!

O Traum von Büchern, friedlichen Zimmern, in denen bei klarem Sommerwind weiße Gardinen wehen – Traum von Kindern, um meine Knie tanzend – Traum von jener Frau, die blond, blauäugig, schlank, mich grüßt mit ihrem schönsten Lächeln!«

Nun auf die feuchte Erde geworfen, das Haupt gegen eine Baumwurzel gelehnt – nun, in dem Dunst des Abfallwinkels, den eisig nassen Vorfrühlingsregen auf Lippen und Wangen – nun, Bitterkeit im Herzen gegen sie und eine wilde Anklage auf der Zunge gegen sie, kleine, holde Traumzerstörerin – nun sah er eine andere Zukunft vor sich, eine dunkle, fahl Wetterschein erhellte: kaum brach das Licht der Bar durch abgestandenen Rauch, pelzig die Zunge vom Schnaps des vorigen Tags, doch deine Liebste hinter der Theke führt mit jedem, den’s gelüstet, zotendes Gespräch.

Und er warf den Kopf zurück, ganz preis gab er sich Regen, Wind und Verderben, hinter seinen Lidern entstand Bild um Bild des Geahnten, und je weniger er wußte, was es eigentlich war, das so schrecklich sein sollte, um so fürchterlicher schien es.

Das ist der Schmerz, er blutet, er tropft; schreit er gleich tief da drinnen, auch im Körper tanzt er und reißt, wirft den Jungenleib umher und sein Ah und Oh entsteigt blasig dem Laokoonsmunde.

Denn das ist es, daß er nicht trennen kann: ihre Schande ist seine Schande – – –, aber Schande … Schande …! Der so sorgsam Behütete ahnt in diesem Winkel schon die viel bittrer beizende Verachtung der aufrechten Wandler. »Und die werde ich nie ertragen können –!«

»Und warum sollte ich es? Steh auf, geh heim: nichts ist geschehen. Nicht einmal deinen Namen weiß sie, deine Wohnung nicht. Es ist, als sei es nie gewesen. (Und Arne kann man morgen früh verständigen, daß er nichts sagt.)«

Er steht auf. Er zittert am ganzen Leibe. Er flüstert: »Und ich bin es doch gewesen, der vor wenigen Stunden erst sagte, man könne nicht schlecht sein? Was bin ich nun? Wie gemein? Freue mich, daß sie meinen Namen nicht weiß, sie, die nichts von mir wollte, die mir meinen Wein bezahlte –?«

Schüttelnd: »Nein, so geht es nicht. Anders müßte man … Aber wie denn entscheiden –? Hat man’s nicht im Blut? Denn unberührt von allem saß Arne dabei und konnte sogar mit ihr streiten …«

Plötzlich lächelt er. Ihr kleines, wie getuschtes, zärtliches Bild war ihm von neuem erschienen und Zweifel Torheit geworden. »Was ist denn? Liebe ich denn nicht –?«

»Aber sie hat gelacht zu Arnes Zoten! Und wenn! Bewiese das etwas –? Ja schon. Aber jedenfalls: nun gehe ich zu ihr. Keine Eile, keine Eile, denn wenn es sein soll, soll es sein, und wenn es nicht sein soll – so soll es doch sein!«

Fiebertag

Längst schlug die Uhr fünf. Lichter wurde die Nacht.

Schon erkennt er, vernebelt noch, die schnörkligen Hochgiebel der alten Häuser mit ihren Ladeluken, am Wall.

Nicht nur sie. Eine kleine holde Gestalt streicht ihm entgegen – sein Herz stockt: »Nein, nein, wie sollte sie es sein?« –, eine Hand faßt ihn, und aus dem Stimmklang ahnt er das frohe Lächeln hinterm Schleierhauch, als sie ihn grüßt: »Siehst du, da bist du!« Und: »Du mußtest ja kommen.«

»Freilich, ich wollte wählen, überlegen, doch dann merkte ich, daß alles längst beschlossen.«

(›Aber das sage ich dir nicht, daß ich dich verriet. Selbst dir nicht!‹)

»Nun aber hinauf mit dir! Wie kalt deine Hände sind und wie feucht!«

(›Ja – doch! Einmal werde ich dir auch das sagen können … einst.‹)

»So, und nun hier die Stufen. Wart einen Augenblick, schließe das Haus nur noch zu. – Hier sind wir.«

Der Schalter knackt, Licht flammt auf, und in ihrem Aufschrei – »Gott, wie siehst du aus!« – erblickt er vor sich einen Jungen, blutleeren Gesichtes, Haare wild in der Stirn, mit flammendem Mund wie ein Wundriß, gebeutelten Kleidern, feuchten, verdreckten, und dem irrenden Blick eines Zweiflers.

Ja, auch er zweifelt, wendet sich ab, zweifelt mit dem Mund, irrt mit den Augen, wendet sich ab.

Da begreift der Achtzehnjährige, daß er in diesen regengestrichenen, winddurchsausten Nachtstunden noch andere Wege ging wie die lehmfeuchten des Walls, bittere Wege, begreift’s, daß die gradlinigen amönen Wiesenpfade passiert sind, daß nun die Hecken und Knicks kommen, die so stachlig sind, unübersichtlich, eng.

War es dies, das ihn murmeln machte: »Verurteilt vor der Schuld und verdammt ohne Berufung …?«

Sie stand neben ihm, sah das Weicherwerden des Gesichts – schon zuckte die Lippe –, und sie ahnte vielleicht, dunkel und trübe, das Zerren der alten Bande, das Erwachen einer Stallmüdigkeit, das Erinnern an welche Eltern, aber weichhändig spielt sie die Strähnen aus der Stirn, schmeichelt die Falten fort, ruft: »Was schaust du dich an? Wirst dich doch kennen. Dort hinein und ins Bett. Einen Tee koch ich dir …«

Im Zimmer stand er, sah um sich, atmete auf. »Allein! Sie hat mich nicht erraten!«

Wundersam streichelt die glatte Kühle der Laken die erhitzten Glieder, seidig schmiegt sich das Kissen in den Nacken, die Lider sinken zu, und nur die Nase noch schnuppert nach einem Gemisch von Düften, das sie zu unterscheiden beginnt, aber dessen Bestandteile sie nicht bestimmen kann. Kleine Bilder blühen hinter den geschlossenen Lidern auf: ein ovaler Ring in lila Farbe, bläuliche Flämmchen zacken von ihm, dann ein tiefblauer Ball mit weißgoldenem Rand, dann – und er reißt die Augen auf, faltet die Hände, als ihm einfällt, daß es vielleicht sinnlos ist, das Abendgebet zu sprechen, da sich doch alles so veränderte. Aber auch das muß erst durchdacht werden, er wird das Gebet so lange zurückstellen und auch gerade hier, ob es nicht hier geschmacklos ist –?

»Aber nein, grade hier …«, und steigenden Trotz in sich und das Bewußtsein, wie kindisch doch solcher Trotz, betet er – gegen die andern, gegen die Eltern und auch gegen ihn, den Gott – sein Vaterunser, atmet ein paarmal rasch, schluckt, fühlt das Bedürfnis, laut zu sagen: »Alles egal!«, und bläst wieder in die Kissen –.

Als die Tür aufgeht und er hellwach tastenden Schritten lauscht.

»Jo?«

»Ja?«

»Ich habe dir deinen Tee gebracht. Aber alles Licht ist aus. Ja, hättest du nur wenigstens die Nachtlampe angelassen. Wie soll man denn …«

 

Ganz leise und zag: »Verzeih nur.«

Das Licht glüht sanft, sie sagt: »O du Dummer du, wie soll ich denn im Dunkel mein Bett finden?«

»Ich dachte … dein Bett …«

»Ja, mein Bett … wie …?«

»O verzeih nur …«

»Da schaust du. Wo steht es wohl, mein Bett –?«

»Aber, Gerda! Hättest du das doch gesagt. Ich gehe, einen Moment –«

Und er will hinaus, hält voll Scham inne, angelt mit dem nackten Fuß in der Kühle, sieht sie so verzweifelt an, daß sie ihn auslacht. »Dieses eine Zimmer hab ich eben nur. Nein, schau nicht so ängstlich aus, wir werden uns schon vertragen. Leg dich rum, schau dir die Tapete an, gleich bin ich bei dir.«

(›Es ist ein Märchen. Ein Traum. Gleich wache ich auf, und Martha ruft mich zum Kaffee. Aufstehn, junger Herr …! Gott!‹)

»O Gerda, Gerda, was habe ich gemacht! Ich muß doch nach Haus. Was sollen denn die Eltern denken, wenn ich um sieben nicht zum Kaffee da bin?«

»Gleich legst du dich wieder hin.«

Aber er hat es schon getan, denn im Auffahren sah er etwas Weißes, atmend Bewegtes. ›O Gott ich habe ihre Brust gesehen. Nein, nein, ich darf nicht so an sie denken. Ich beschmutze sie und mich und all meine Gefühle für sie, wenn ich so an sie denke. Aber wenn sie wüßte –!‹

Und wieder kommt die Angst, und wieder bettelt er: »Laß mich doch aufstehen, Gerda. Du weißt nicht, was geschieht –«

»Du bleibst liegen. Das wäre noch schöner, so naß und verfroren gleich wieder heraus. Wo du grade ein bißchen warm geworden bist. Da trinken die Herren Eltern eben einmal allein Kaffee. Was ist dabei –? Ein so großer Sohn –«

»Aber du verstehst nicht, es ist unmöglich –«

Doch sie lacht nur, lacht seine Unmöglichkeiten in den Grund. »Wenn du jetzt nicht ganz still bist, so stelle ich mich wie ich bin, splitterfadennackt, vor dein Bett und nehme dich in meine Arme –«

Er sagt kein Aber mehr, er schweigt, doch er muß immer daran denken, was sein wird, morgen früh, am Kaffeetisch, die Eltern, das unberührte Bett, die Fragen … Und sein Kopf ist so seltsam heiß, nun dreht sich alles, das Bett scheint unter ihm fortzurutschen, wird lang, länger, schräg, und er gleitet darauf hinab, reißend schnell … Nein, das ist ja die Warnow. Er steht auf dem Dampfersteg, das Wasser gleitet so schnell unter ihm, gluckst an den Pfosten, als lachte es … Nun treiben Blasen, schwindlig greift er zum Geländer, will sich halten, aber das Geländer ist fort, er greift ins Leere. Und immer schneller treibt das Wasser, immer schneller, singt leise, kühl, kühl, etwas Weißes treibt darauf, ein Blatt Papier, der Examensaufsatz: Iphigenie, ein Inbegriff deutscher Sehnsucht, nein, es ist eine Blüte, eine große weiße Blüte, und sie treibt näher, immer näher, sie rührt ihn kühl an –: er schreit, er reißt die Augen auf. Da ist ihr Gesicht über ihn geneigt: ein Leben genügt nicht, diesen ihren Blick zu erschöpfen, in dem alles liegt: Liebe, Not, Nichthelfenkönnen und die Angst der zu oft Enttäuschten.

»Ist dir besser, armer Junge?«

»Das ist dein Gesicht, Gerda? O das ist gut. Halte es nahe. Es weht kühl von ihm, aber in mir ist eine Hitze, ich verbrenne. Das ist die Sünde in mir, die den Leib verbrennt …«

»Was solltest du wohl für eine Sünde in dir haben, mein kleiner Kerl?«

»Das ist die Sünde, daß ich falsch gedacht habe und sündhaft, daß ich hochmütig gewesen bin und ehrgeizig und stolz. Er aber hat gesagt: ich will deine Sünden von dir nehmen und dich rein waschen wie ein Lamm, das zur Scherbank kommt. Nein, das ist nicht der Spruch, den ich meine. Wo steht er doch? Er steht im ersten Buche Mosis und lautet daselbst vom ersten bis zum dreizehnten Vers –«

»Willst du nicht zu schlafen versuchen?«

»Doch will ich das. Sofort. Aber du darfst nicht vergessen, daß Arne in der Schifferade der Bar gesagt hat, daß die Kinderzeiten vorbei seien, verführen müsse ich die Frauen … denn ich bin ein Mann!«

»Ach der dumme Kerl!«

»Ja, dumm ist er schon. Aber ich muß doch darum zum Frühstück zu Haus sein. Welche Zeit ist es? Halb elf?«

»Jo, hörst du mich, lieber Jo! Willst du hören, was ich sage?«

»Natürlich höre ich dich. Ich höre alles, was du sagst und was Arne sagt. Aber –«

»Jo, sage eines, wie heißt du? Jo, bitte, lieber Jo, wo wohnst du? Ich muß doch deine Eltern –«

»Meine Eltern –?« Und der Kranke fuhr hoch. »Meine Eltern? Fragst du nach denen?« Flüsternd, nach ihrer Hand tastend: »Ich verstoße sie. Ich reiße sie aus meinem Herzen aus. Sie haben mich lügen gelehrt, und nun ist die Lüge eine Wunde geworden über meinen ganzen Leib hin. Und sie brennt. Und ich liege auf dem Rost und brenne …«

»Jo! Jo!!«

Aber der Kranke hörte sie nicht mehr. Eilfertig huschten die Hände über die Decke, als müßten sie weite Wege zu imaginären Zielen gehen, seine Augen schienen nach innen zu schauen, und er sprach immerzu, mit sich, mit andern, klagte an und verteidigte sich, lächelte, erflehte Vergebung, die er nicht erhielt, und zürnte einem, der zu weinen schien. Es war, als eitere sein ganzes bisheriges Leben in ihm, habe sich in kalten Brand versetzt und kämpfe mit den gesunden Säften seiner Seele.

Neben ihm hockte das Mädchen, mit der Schnauze stieß der kleine Hund an ihre Knie, sie achtete seiner nicht, rastlos glitten ihre Hände über die fieberheiße Stirn, kühlten, strichen die feuchten Strähnen fort. Auch sie flüsterte. War Mutter geworden, sprach zum kranken Kinde, nannte es bei allen Kosenamen, und eine neue Bedeutung stieg aus den abgenutzten auf, da sie in dieser Nachtstunde sie brauchte. Stunden schlugen. Durch die Vorhänge einfallende Strahlen wurden aus Dämmergrau weißlich und weiß, doch immer huschten die Hände, flüsterte der Kranke, war eine junge Mutter selig betrübt.

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