Anton und Gerda

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Der Traum

Zum Waschbecken ging er, beugte sein Haupt vor, ließ Ströme des Kühlen über das Glühende gleiten, doch immer von neuem brannte sie heiß hindurch, die Haut, und die gesuchte Linderung wich dem Drängenden aus. Da ging er zum Sofa, ausgehöhlt von einer Unruhe, für die er keinen Namen und nicht einen Grund wußte, lehnte sich zurück und versuchte einzudämmern. Das Ticken der Weckuhr vermurmelte, die Geräusche wurden flach, als strichen Hände darüber hin, sie abzuschleifen, dann schwoll das Ticken an, wurde hart, laut, lauter, nistete sich in sein Ohr, bekam Rhythmus, Wortlaut selbst, und nun hackte es in ihm: Ich muß ja – zum Essen gehen! Ich muß ja – zum Essen gehen!

Aber die Hitze wuchs, noch mehr zerrte die Unruhe, warf den Körper hierum, dorthin. Dort war wie Linderung, und da er den Atem stiller gehen ließ, schien’s der Wind vom Fenster zu sein, der so kühlend sich auf die Wangen legte, die Lippen weich und still machte. Das Verlangen wuchs aus Wunsch zum Willen, ihn zu spüren, diesen Kühlewind, über die ganze heiße Dehnung und Verschwellung des Leibes: da zerrte er schon an den Knöpfen, riß an Haken, warf alles zurück, das Weiße der Wäsche und das Schwarze der Kleider, glitt auf das Sofa und dehnte sich befreit.

Und nun blies der kühlende Wind über heilsam erschauernde Haut. Nun glitt es wie Streicheln des größsten Atems über das verhetzt Erhitzte, und die Güte einer nicht liebegebundenen Weltseele war’s, die allein so kühlen konnte. Hinter den schmerzenden Augendeckeln glomm ein kleiner Traum auf, ein Julitraum von Glück, unklar, verschwommen zuerst, doch nun unterschied er belaubte Zweige, die gefiederten Blätter eines Walnußbaums, eine weiße Bank darunter, Rosen rankten, Geißblatt fiel von Fichtenstützen, ein Bienenhaus … Und über eine sanfte Wiese gingen zwei, verschränkter Arme, beide in Weiß; mit ihrem Haar wehten die Birkenäste, Blumen huschten und erblühten zwischen den Schritten, ganz in der Ferne riefen Hörner, und ewige Wolken reisten stetig und langsam im Blauen über den besonnt glänzenden Häuptern.

Näher kamen sie, nun unterschied er die beiden einander zugeneigten Gesichter, seine Hand hielt ihr Haupt im Nacken – und er kannte die Hand. Sein Gesicht neigte sich über das ihre – und er kannte dies Gesicht. Ein seliger Abglanz schwoll auf beiden wie ein endlos ausgehaltener, immer aufs neue verstärkter Orgelton … Nun wehten ihre Wimpern, vom Lippenhauch gestreift, zu, so nahe, daß er erschreckt zurückfuhr, aber es war, als fiele ein endlos seliger Vorhang über eine herrliche Landschaft, fiel, fiel – Engel jubilierten –, war meergrün, wechselte in tieferes Blau, fiel, fiel, wechselte in Schwarz, ward ganz dunkel, daß er nichts mehr sah, nur die Ahnung dieses endlosen, rasenden Sturzes war noch da und eine Stimme rief: »Mittagessen!«

»Ja doch!«

»Mittagessen!«

Er erhob sich langsam, taumelnd. Durch das Zimmer lag ein breiter goldener Sonnenbalken, in dem Stäubchen tanzten, fielen; er endete bei dem gebrannten Spruchsegen, und mechanisch las Anton die Worte: »Der Herr ist meine Zuflucht, die Liebe aber mein Berg Tabor.«

»Die Liebe aber mein Berg Tabor –? Seltsam. Was heißt das –?« fragte er sich grübelnd, als er treppab stieg. Dann kam ihm die Idee, daß er träume, noch nicht ganz wach sei, denn seine Gedanken und selbst die Dinge um ihn schienen sonderbar verändert, – und selbst die Treppenstufen, auf denen er hinabstieg, waren nicht mehr hölzern, sondern ein Gewachsen-Wachsendes, das im Begriffe stand, unter seinem Fuß Laut zu geben und ein Unerhörtes zu sprechen. Die grüne Samtportiere verweilte auf seiner Schulter, ihr Gewebe schien sich zu lösen, nein, es war, als ginge er durch sie hindurch, ließe seinen Leib durch sie hindurchstreichen und schlösse sich hinter ihr wieder auf eine magische Art, unbeschädigt und doch verändert, als sei seinem Leib nun ein Partikel jener Schultern infiziert, die schon durch den Vorhang geschritten, ihn gestreift, ihn hastig, ihn gleichgiltig zurückgeschlagen hatten.

Aber nun war er im Speisezimmer. Die andern saßen schon da, am Kopfende des Tisches der Onkel, neben ihm links und rechts Mama und Papa, unten sein Platz frei. Sie sahen nicht auf, blickten in ihre Suppenteller, in denen etwas Rötliches schwamm, und so konnte Anton unbemerkt seinen Stuhl erreichen. »Ach, Tomatensuppe«, sagte er, zum Löffel greifend.

»Ganz recht«, setzte der Onkel ein, als habe er diese und grade diese zwei Worte erwartet, »dies ist der gekochte Saft und das gekochte Mark des Liebesapfels, auch Tomate genannt.« Und er griff in die Tasche seines faltigen Rockes, zog eine dunkelrote Tomate hervor und zeigte sie zwischen zwei Fingern hoch.

Doch der Vater griff danach, hielt sie vor sich hin, genau wie der Onkel, blickte starr darauf und fuhr fort: »Eines der wenigen zur Familie der Nachtschattengewächse gehörenden Pflanzenreises, dessen Früchte ungiftig, ja, dem menschlichen Gaumen zuträglich und angenehm sind.«

Doch schon war die Mama an der Reihe: »Man macht diese zuträgliche und angenehme Suppe mit Mehl sämig – ich nahm das knistrige Kartoffelmehl …«

›Wie verrückt reden sie, wie verstiegen!‹ dachte Anton. ›Oder ist es vielleicht ihre Art so? Beobachte ich heute nur besonders scharf? Es kam mir schon vorhin so vor – ah, ich bin daran!‹

Zwischen Zeigefinger und Daumen drehte er den rötlichen Apfel, dessen Haut seidig und kühl, geheimnisvoll unter seinen Fingern strammte und wich, als ein Automat in ihm losschnurrte: »Das knistrige Kartoffelmehl, das aus der Stärke der Kartoffelknolle gewonnen wird, auch eines Nachtschattengewächses, dessen Früchte oder Beeren hinwiederum durch ihren hohen Solaningehalt giftig sind.«

Die Tomate flog auf den Onkel zu, er empfing sie mit seinem Tischmesser, sie zerteilte sich im Fluge, noch im Fallen streute er auf die saftigen Schnittflächen Salz und Pfeffer, und mit jeder Hand bot er Schwester und Schwager das Gericht. »Man nennt es eine Barbarei, diese Früchte mit Pfeffer …«, begann er von neuem.

Aber Anton hörte nicht mehr. Sein vom Schnellen der Tomate in die Ruhelage rückkehrender Arm hatte die Messerbank berührt, eine unerwartete Kühle hatte seine Nerven erschreckt, er sah auf den Arm, seine Brust, an sich nieder – rieb seine Augen, atmete einmal ganz tief, aber es blieb, wie es war: er saß splitterfadennackt am häuslichen Mittagstisch!

Sein erstes Gefühl war: aufspringen, davonlaufen; doch wie leicht konnten sie dann aufschauen, seine Blöße entdecken. Unglaublicher Gedanke: sie hatten noch nichts gemerkt! Nein, es schien so. Der angstvoll und scheu Aufblickende sah gleichmütige Mienen, unbeschäftigte, alltägliche, aber doch wie aus der Alltagsbasis verschobene …, er hörte die seltsam verstiegenen Worte, die mit abseitigen Ausdrücken glatteste Alltäglichkeit verbrämten, und er tastete nach der Serviette – »Gott sei Dank, die ist wenigstens da« –, schlang sie um seinen Hals, zerrte sie vorn auf den Bauch hinab und preßte die nackten Arme fest an die Stuhllehne, während eine wilde Unruhe ihn aus dem Zimmer jagen wollte, indes ihm sein Verstand das Bleiben befahl. »Es ist sicherer so. Ich lasse sie alle aufstehen und hinausgehn. Und dann schleiche ich fort.«

Aber das Fleisch juckte schlimmer, er mußte in seinen Schoß spähen, wo das neue bräunliche Haar so erregend wuchs, ein Muttermal am Oberschenkel saß höhnend grell dort. Ein Gefühl wuchs, als habe er allein die Schmach und Schande, so nackt sein zu müssen: ein haarloser, kärglicher Leib, spärlichen, ungesund gelblichen Fleisches, indes doch die andern – alle! alle! bekleidet seien, Kleidermenschen selbst ohne Kleider, und die Schmach solcher Nacktheit allein für ihn bereitet sei.

»Mann!« sprach die Mutter, »unser gemeinsamer Sohn Anton ißt seine Taube nicht, obschon es eine junge Taube ist.«

»Verzehre sie, Anton, verzehre sie immerhin.«

Aus weiter Ferne drangen diese Worte zu ihm, er lauschte auf die Nähe, die Tür hinter ihm hatte ein leises Geräusch gemacht; nun strich es heran, behutsam, sacht, streifte ihn seidig, und neben dem Onkel saß sie am Tisch, sie! Gerda! Neigte ein wenig das Haupt und lächelte.

Doch dies seltsame Mahl ging fort, niemand schien jemanden zu sehen, immer sprach einer und spickte seine Sätze mit entlegenen Worten, die niemand hörte außer dem angstvollen Anton, sondern jeder nur Automat seiner selbst, der sein Sprüchlein knarrte und schwieg … Sprüchlein knarrte und schwieg. Schauer liefen heftig über Antons Leib, sein Blick trübte sich, er konnte nicht mehr unterscheiden, ob jemand ihn vielleicht doch angesehen, die Serviette ging auf, fiel in den Teller, färbte sich fettig braun, und da war es, als habe ihm Gerda rasch und verstohlen zugezwinkert. Er sah hin: nichts. Aber dies Zwinkern wiederholte sich, es sprang aus dem Winkel, die Facetten der Lampe zwinkerten blau auf und erloschen, über das Gesicht des Onkels lief ein boshaftes Zucken, als könne er Lachen nicht ganz mehr unterdrücken; des Vaters Klemmer stürzte in das Kompott, wütend riß er ihn an der Schnur heraus, schleuderte den spritzenden von sich, und wie ein Vogel ritt er durch die Luft auf Gerda zu, die ihn gleichmütig einfing, ihren Seidenrock hochnahm und daran abrieb. Der Vater zerrte an der Schnur, er flog zurück auf die Nase des Herrn, von der kleine zuckende Rinnsale zum Munde liefen.

Laut klagend rief die Mutter: »Er ißt nicht! Unser gemeinschaftlicher Sohn, Gatte aller Gatten, ißt nicht!«

Kalt sagte der Vater: »Seiner Nacktheit schämt sich wohl das Kind.«

Der Onkel brummte: »Auf eure Leisten aber werde ich Geschwüre setzen und auf eure Lenden das Horn des Herrn«, wozu Gerda schrill lachend über den Tisch jubelte, mit den Händen applaudierend.

 

»Ich bin verraten!« schreit Anton klagend und springt auf. Die Serviette ist zurückgeglitten: er ist nackt, er ist nackt! Alle starren auf ihn, ihre Gesichter haben etwas gespenstisch Bekümmertes … Und er fühlt mit Schrecken, wie sein Fleisch sich rührt, er muß fliehen, sonst geschieht Unglück – gleich! gleich! –, aber seine Füße kleben am Boden, er kann nicht … Ein wahnsinniger Taumel jagt durch ihn …

»Gerda! Gerda, sieh weg!« schreit er jammernd.

Aber sie blickt auf ihn, blickt mit diesen ruhevollen grünen Augen ein wenig traurig auf ihn, der sich zu fliehen bemüht, seine Blöße bedecken will, seine Geilheit kaschieren und sich immer schlimmer preisgibt …

Blickt auf ihn …

Auf ihn …

Eine Stimme schreit: »Mittagessen! Anton! Höchste Zeit! Mit – tag – essen!«

Er blickt um sich: angekleidet liegt er auf dem Sofa, und sein Blick fällt auf das Spruchband: »Der Herr ist meine Zuflucht für und für.«

Angst

Im Zimmer stand er. Sah an sich hin, zitternd. Eine Angst verzog sein Gesicht, wie ein kümmerliches Lächeln war es. Angst, als würde sich alles um ihn in dieser Sekunde noch verwandeln: Tisch, Stuhl, das Sofa, und er nichts mehr erkennen. »Was geschieht mit mir –?« fragte er leise.

»Wie hat sich die Welt gewandelt seit jener Nachtstunde? Bin ich nirgend mehr zu Haus? Fremd, fortgegeben, eine sinnlose Welt?«

Worte des Betens wollten ausgehn aus seinem Mund, aber ihr Sinn staute sich im Hirn, lag wie Blöcke dort, verwirrend, und er irrte um sie.

Da ließ er sich fallen. Vor so entfremdeter Welt fiel ab von ihm die Kraft seines Verlangens, sein Sehnen zerbrach, und es blieb nur das eine, dieses: Hinabstürzen in das Eßzimmer, zu den Eltern, zum Onkel, seine Hände fassen und flehen: »Ich will reisen mit dir! Sofort reisen!«

Und der Onkel sprach sanft: »Aber gewiß doch, Junge. Wir fahren noch heute. – Und nun wollen wir uns stärken,«

Worauf er das Tischgebet absang.

Im Garten

Besonnt lag der Garten. Die kleinen Vögel liefen hurtig durch seine frisch und dünn belaubten Zweige, die Bienen zogen zu den blühenden Johannisbeersträuchern, der leise Westwind verlor sich in den Gängen voller Gras dem Flusse zu. Hier, wo im trocknen Boden die Hühner ihre Sandnester gescharrt hatten, lag Anton, auf dem Rücken, nach den Wolken blinzelnd und wundersam erwärmt von der Sonne, die immer noch eine tiefere Stelle seines Leibes zum Einnisten und Einkuscheln zu finden schien. So war es schön! Die kleinen gezackten Blätter des Stachelbeerstrauchs tanzten leise über ihm, die Sonne wärmte Gesicht und Hände, und rechts unten, wo Erlen standen, sprach immerfort der Fluß seine nahen Worte.

Hier, dem so Liegenden, war es unmöglich zu glauben, daß es Stadt, enge Gassen, in die schwer und naß Dunkelheit einbrach, daß es solch alles gebe; Welt war frei, besonnt oder überwölkt, und völliger Nonsens war’s wohl zu glauben, neben der Weinhandlung hause der Papierfritze, dann der Optiker, und hinter ihm tue sich der bunt bemalte Flurschlund der Bar auf …, da doch ein Hochblick belehrte, an den Garten stieße Sommerung, dann Wiese, dann ein grasiger Hügel, dessen Schopf Birken waren, und dann der Himmel mit Wolken, mit Glanz und, nächtens, dem flimmernden Gepunkte endloser Sterne … Unmöglich, anders zu denken, denn dieses allein war Natur, hier verlor man sich in der Harmonie erdhaften Gewelles, und nie doch war man verloren. Eines allein, Mitgebrachtes von dort hinten, wo Erde Ende hieß, war geblieben und wert zu bleiben: das sanghaft wellende Gestrophe von einem Halbhundert Versen, die man sich vorsprach, tief drinnen, und die einen weiter machten, ausgesponnen und die atmende Brust in einen Takt mit tanzendem Blatt und Streichelwind. Guter Frühling, der im Vorsommer wächst!

Nun läuten die Glocken. »Richtig, es ist Sonntag heute, und es war so schön und friedlich, wie’s nur an einem Alltag auf dem Lande sein kann. Aufstehn –? Kirchegehn –? Ach bah!«

Aber die Büsche rauschten, ein paar Zweige tanzten, und Cousine Inge fragte: »Nun, Anton? Und die Kirche? Mach schnell! Alle warten.«

»Ach, weiß du, ich glaube, Ingerl, ich bleib liegen.«

»Aber Vater schilt.«

»Das tut er auch so. Bleib auch schon. Hier ist gut sein. Meine Mutter ist die Sonne, und ich weiß, sie hat mich lieb.«

»Kirche ist dumm. Darf ich auch hier liegen?«

»Immerzu. Nein leg dich dorthin, an den Apfelbaum, und sieh zum Giebel hin. Recht so.«

»Aber warum?«

»Weil ich dich gern ansehe.«

»Wirklich? Tust du wirklich? Das ist nett von dir, aber –«

»Anton! – Inge!! Inge!! – Anton!«

»Sie rufen uns.«

»Laß sie.«

»Jetzt suchen sie im Garten.«

»Laß sie.«

Er blinzelte nach ihr. Schritte und Rufe kamen näher, etwas streifte die Büsche, prustete, rief schnaufend. Sie lag auf der Seite, Kopf in der Hand, kaute an einem Grashalm, und mit geöffneten Fingern lag die andere Hand still und verhalten im Schoß. Ihre Augen lachten und freuten sich. Über der großen bauschigen Haarflechte, die stracks aus der Stirn zum Nacken gezogen war, wo sie Zopf wurde, saß die breite, weißseidene Schleife, nickte, hob sich, flatterte ein wenig im Wind.

Sie flüstert: »Jetzt sucht er am Fluß.«

»Ssssst!«

Wirklich kommt noch jemand gelaufen, rasch, ruft immerzu: »Herr Superintendent! Herr Superintendent!«

Dann murmelt und schwätzt wieder der Fluß, die Glocken läuten noch einmal, rasch, bimmlig, und in den Fort hall des letzten Klangs sagt Inge: »Nun haben wir zwei Stunden Ruh.«

»Mindestens.«

»Und mittags Schelte, Stubenarrest, und die süße Speise werde ich auch nicht bekommen.«

»Bitter! Bitter!«

»Heute gibt’s solche mit Makronen …« Sie denkt nach, wehmutsvoll bewegt. Plötzlich jubelnd: »Nachher klettern wir am Spalier in die Speisekammer! Machst du mit?«

»Natürlich. Rausgeworfen werde ich doch bald.«

»Das glaube ich auch, Tonerl. Vater meinte heute zu Mama, du seiest noch immer nicht zu ihm gekommen, du seiest verstockt. Und er meinte …«

»Verstockt? Nicht übel. Und er meinte –«

»Was?«

»Was meinte er noch, Ingraban?«

»Noch? Nichts.«

»Doch, du hast etwas sagen wollen.«

»Aber gar nichts.«

»Wenn du also nicht willst – bitte!«

Sie schweigen. Zwischen den Büschen scharren glucksend die Hühner, eine Gans schreit. Anton sieht spähend nach Inge, ihr Fuß im Halbschuh schlägt taktmäßig die Erde, das kurze schottische Röckchen reicht kaum über die Knie, und immer, einen Sekundenbruchteil, sieht er zwischen Aufschlag und Aufschlag etwas Weißes leuchten. Wie ist es gut, so zu liegen, indes ganz langsam verschwimmende Wünsche und Träume durchs Herz ziehen!

›Fett von Pollen surren die Bienen; so etwas zu denken ist tausendmal schöner als …‹ Aber nun liegt sie auf dem Rücken. Zwischen Arm und Brust flimmern ein paar Strähnen Haars. Die Wimpern tanzen. Der blaßrote Mund ist ein wenig geöffnet, die Zähne schimmern, aber mehr noch schimmert die hohe stille Stirn, das Unbegreiflichste an diesem Mädel.

Nun fragt sie langsam: »Jetzt habe ich es auch gefühlt. Eben jetzt. Wie war das mit den Versen vorhin? Oder waren es keine Verse?«

»Doch. So hieß das: meine Mutter ist die Sonne, und ich weiß, sie hat mich lieb.«

»Meine Mutter ist die Sonne … gut tut das, weißt du, sehr gut …« Herumfahrend: »Aber nun fühle ich nichts mehr. Gar nichts. Es ist weg. Nur heiß ist mir.«

Weise: »Das ist immer so; wenn man etwas fühlen will, ist man ganz leer. Nur der Körper plagt einen dann. Wenn man genießen will, darf man gar nicht mehr da sein …«

Sie wirft rasch ein paar Bröcklein Erde gegen den Stamm, trifft oder trifft nicht, und sie hält inne. »Tonerl?«

»Ja, Ingraban?«

»… ist es mit dem Verlieben auch so?«

»Nanu?!« Er sieht ihr Gesicht nicht, auf dem Bauch liegt sie, Haar fällt hinein. »Was wissen wohl so kleine Mädchen vom Verlieben?«

»Sei nicht dumm, großer Anton! Gar nichts wissen sie, aber möchten alles wissen.«

»Ich bin erst achtzehn, liebe Inge, auch ich weiß nichts.«

»Bitte, sprich doch, Tonerl!«

»Auch du erzählst nichts. Vorhin –«

»Wenn ich dir doch sage …«

»Wenn ich dich bitte, Engelein …«

Er hat sich ganz zurückgelegt, und späht er nun verstohlen, kann er zwischen den Händen das feste Kinn und fast den ganzen Mund sehen. Der ist leise geöffnet, und als er mit seiner Schmeichelanrede schloß, kam dort die Zungenspitze hervor, von der Mitte des Mundes zum Winkel, und wie sie dort eine Wendung machte und verschwand, war es ein kleines, holdes, entzückendes und entzücktes Wunder, und noch einmal sagte er: »Engelein, Ingelein, bitte, sag doch …«

»Das ist schön. Du bist gut. Woher hast du es?«

»Gar nicht. Es kam, als ich dich ansah.«

»So? Kam es? Willst du mir die Wahrheit sagen, ganz die Wahrheit, Anton?«

»Gewiß will ich, wenn ich kann …«

»Anton, sage mir ganz ehrlich … Anton … bin ich hübsch?«

Sie sehen sich an. Ihr Gesicht, von den Händen abgehoben, ist ernst, so ernst, ihre Augen, weit offen, begegnen den seinen, halten den Blick, plötzlich träuft Lächeln in ihnen, alles erhellt sich, ihre Hand tastet hoch … sie wirft sich zurück, sie lacht selig … Und die Lerchen singen im Blau, die kleinen Vögel huschen geschäftig im Gezweig, dicke Hummeln burren schwer Zickzack, und das kühle Wasser setzt unten am Schilf eine dunklere Begleitung zu dem süßen Lach- und Loblied ihrer Kehle.

»Engelein … Ingelein … Engelein …«

»Du bist lieb, du!« Herumgewälzt, seinen Kopf gefaßt, sein Haar gezaust und nun wild das Gesicht geküßt, mit vollen Lippen, ungeschickt, kindhaft, wie es trifft. »Lieb bist du, so lieb!«

Und da sein Arm um ihre Schulter sich tastet, ist sie auf, schüttelt Haar und Rock. »Zur Schaukel! Wer zuerst da ist!«

Und ist fort.

Schaukel und Kokotte

»Es ist nur schön, wenn man beinahe fällt«, sagt sie.

Und er: »Freilich.« Sie streifen mit dem Fuß Blattwerk, und ganz unten sieht er, neben ihrem Kopf, kleine grüne Gräser, auf die geschwind der Schatten zufliegt.

»Manchmal ist Schlaf schön, ist er auch wie Schwingen, endloses Schwingen und dann …« Sie stößt, wird klein, krümmt sich und nun in freiem Schwung: »Und man schwingt immer weiter, weiter, und dann fällt man, aber es ist wie Fallen nach oben …«

Sie verstummt, holt aus, er denkt: ›Warum sieht sie mich nicht an? Ihre Augen sind so nah …‹

»Als wenn es solch Fallen nach oben gäbe! Aber man ist so leicht. Hat man auch die Augen zu …«

›Sie schaut mich nicht an. Jetzt berühre ich ihre Hand. Nun –? Nichts.‹

»Auch mit geschlossenen Augen weiß man: dies ist nicht Schlaf, ist Schwingen, Schwingen … Schläfst du auch so?«

»Nein. Nie.«

»Sag wirklich, Anton, warst du schon verliebt?«

Sie sehen sich an. Es scheint, als habe mit der verschwingenden Schaukel auch ihr Sinn Langsameres, Haftendes bekommen.

»Inge! Inge!«

»Was ist? Darf ich nicht fragen?«

»Nein.« Er springt ab, geht zur Bank, setzt sich. Über die Schulter späht sie ihm nach, lächelt, läuft zu ihm, beschaut ihn, lockt: nichts. Ein Grashalm kitzelt, er schlägt nach ihrer Hand, wütend, im Ernst. Sie beugt sich näher, fragt sanft und still: »Anton – darf ich denn fragen, was … eine Kokotte ist?«

Fassungslos starrt er sie an. Aufgejagt ist er, entdeckt. Schon nur noch wütend, und so schnell springt sie nicht zurück, daß er sie nicht fasse, würge, hinwerfe, über sie; Gewälz, Keuchen, Zugriffe, Schreie: »Ich werde dich lehren, Luder!« – »Anton, ich kratze …« – Verschlingen, Stöhnen, Schläge, rasch, sinnlos … Stille … und ein Schluchzen hebt an, Schluchzen …

Er späht nach ihr, will fortschleichen, und in einer zerrissenen Bluse glimmt Weiß unbegreiflich gerundeter Schulter, von Gold wirrer Strähnen überspült. Seligkeit ist es, Wonne, maßlos frevelnde Wonne, dies zu betrachten … es weicht, tränengefüllte Augen schauen zum Späher, ein zuckender Mund, und er glättet sich, lächelt, lacht: »Wie du ausschaust, Anton! Wie du nur ausschaust!«

Sieht an sich hin: hier hängt der Kragen, aus zerrissener Weste schlängelt der Schlips, an einem Knopf baumelt die Hose, über den Schuhen aufstauchend, und die im Gesicht tastende Hand fühlt schmutzig verriebene Feuchte von Tränen, klebrig trocknendes Blut.

 

Er sah nun zu ihr, wie im Traum … und eine trübe Ahnung wächst in ihm, als werde es irgendwie stets so sein: schmutzig, zerkämpft, lachhaft er, aber in ihre Stirn wirft sich nur schöner die zerzauste Strähne, die gekrümmte Braue zuckt betörend – Lust oder Schmerz? Weiß sie es nur? –, und die blasse vom Kampf entblößte Schulter läßt sie nur holder noch sein. »O du!« murmelt er. »Du …!«

Sie hängt sich ein, kuschelnd, zärtlich, Überstrom: »Wie du bös werden kannst!«

»Geh doch! Nein, laß schon.«

»Aber jetzt bist du wieder gut?«

»Woher hattest du das?«

»Alles sage ich –. Nein, nun schäme ich mich gar nicht mehr vor dir. Seit du mich schlugst …«

»Sprich schon.«

»Von der Kokotte? Mach kein Gesicht. Ist das Wort so schlimm? Ich sag es nicht wieder …« Und beiseite, leise, auf der Zunge probend: »Kokotte … was es nur ist? Es klingt nicht wie andere Worte … beinahe, als schmecke man es. Oder ein Geruch?«

»Sprich endlich.«

»Ich habe gelauscht. Gestern abend an der Veranda. Und Papa sagte, du seiest verstockt, hoffnungslos, weil verliebt in eine …«

»Ah! – Nein, nichts mehr. Laß.«

Er hat sie losgelassen. Er steht allein. Der Garten versinkt und der Wind verstummt. Wo sind die pollenbehosten Hummeln hingeburrt? Unter welchem Himmel singen Lerchen – etwa?

Einsamer und an dein Herz Verratener, wieder siehst du den feisten Onkel in dem frühlingshaften Zimmer, er hebt beteuernd die Hände, er versichert nichts zu wissen, nichts; gar nichts hat ihm die Mutter gesagt, gar nichts der Vater geschrieben … krank ist der Neffe, nichts sonst –.

Nun – Fuß im Gras, Haupt in durchsonnter Luft, Hand halb erhoben –, nun steht er in schwärzester, regenwindgepeitschter Nacht, nun hört er sie tuscheln, bestellte Arbeit war der vorgewiesene Brief, in die Falte eines andern geschoben? Was wurde getuschelt, unten, ehe der Onkel hinaufstieg? Sagte er, satt und selbstzufrieden, als er zurückkehrte: »Den haben wir eingewickelt, den Parsifal!« –?

Stimme läutet, Stimme ruft: »Anton! – An – ton!«

Alles muß stille sein. »Schweige, du!«

»So ist es gewesen, so, und nicht anders. Was nie Schande war, nun ist es meine Schande geworden, durch ihr Heimlichtun, ihre Verdächte …«

Sie trat hervor; wie sie damals hervorgetreten, hinter einer Theke, zum Tanze gerufen, zum Tanze bereit.

Wie klein sie war! Nichts Holderes konnte man träumen als die süße Bubenhaftigkeit ihrer Figur, die irgendwie verquickt war mit der wissenden Frauenhaftigkeit keuscher Tiere. Und der Gang …

Er stöhnte auf.

Das rauchig Dunkle – nun sind die Kerzen neu entzündet und ihr Schein fällt auf jenes liebelächelnde Antlitz, das ihn einst meinte. Aber im Schatten flüstern …

Er wandte sich um. Hand glitt durch Haar, und jene andere war es, jene Inge, die sanft flüsterte: »Armer Bub. Armer lieber Bub.«

›Klang es nicht einmal schon so? Wann doch?‹

»Wir müssen uns zurechtmachen. Die Kirche wird bald aus sein.«

Fuß stand im Grase, Haupt umfloß besonnte Luft und mit der Hand nach ihrer greifend: »Gehen wir also, uns zurechtzumachen.«

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