Der gestohlene Bazillus

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»Es ist ja doch ein Traum!« wimmerte ich vor mich hin, während ich wieder ins Bett kletterte. »Ganz gewiß – nur ein Traum!« So recht nach Greisenart wiederholte ich das immer wieder. Ich zog mir die Bettücher über die Schultern – über die Ohren – Ich schob die Hand unters Kissen – fest entschlossen: ich wollte schlafen. Natürlich war es ein Traum. Mit dem Morgen würde der Traum vorüber sein, und ich würde aufwachen wie immer – stark und gesund – – erwachen – zu meiner Jugend und meinen Studien. Ich schloß die Augen, atmete regelmäßig, und – da ich merkte, es ging nicht – fing ich an, das Einmaleins herzusagen.

Aber das Gewünschte wollte sich nicht einstellen. Ich konnte nicht einschlafen. Und eine Überzeugung von der unerbittlichen Wirklichkeit der Veränderung, die mit mir vorgegangen war, wuchs immer mehr in mir. Bald lag ich mit weit offenen Augen da – das Einmaleins war vergessen – und meine knöchernen Finger fuhren an meinem verschrumpelten Zahnfleisch herum. Es war so – ich war plötzlich – unvermittelt – ein alter Mann geworden. Ich war auf irgendeine unbegreifliche, unerklärliche Art gleichsam durch mein Leben durchgerutscht und zum Greis geworden – ich war irgendwie betrogen um alles Beste im Leben – um Liebe, um Kampf, um Kraft und Hoffnung. Ich verkroch mich in die Kissen und versuchte, mir selber vorzureden, daß derartige Halluzinationen ja vorkämen ... Fast unmerklich, stetig ward die Dämmerung heller ... Schließlich, als ich am Weiterschlafen verzweifelte – setzte ich mich im Bett auf und sah mich um. Ein kaltes Zwielicht erhellte das ganze Zimmer. Es war geräumig und gut ausgestattet – besser als je ein Zimmer, in dem ich bisher geschlafen hatte. Auf einem kleinen Gestell in einer Nische erblickte ich bald auch eine Kerze und Streichhölzer. Ich warf die Laken zurück und stand – schaudernd vor der rauhen Morgenluft, obschon es Sommer war – auf und zündete die Kerze an. Darauf wankte ich – mit einem Zittern, so daß das Lichthütchen gegen den Leuchter klapperte – nach dem Spiegel und erblickte – Elveshams Gesicht! Es war nicht weniger schrecklich, weil ich das schon gefürchtet hatte. Er war mir immer schwächlich und jämmerlich elend vorgekommen; aber wie ich ihn jetzt – – so – – bloß mit einem groben Flanellhemd bekleidet, das über der Brust offen stand und den sehnigen, dürren Hals enthüllte – – so – an Stelle meines eigenen Körpers – – sah – – Ich kann diese jämmerliche Verfallenheit gar nicht beschreiben! Die hohlen Wangen, die vereinzelten Strähne schmutzig-grauen Haars, die triefenden, trüben Augen, die zitternden, verschrumpften Lippen, über denen immer ein Streifchen Rosa auftauchte, und hinter denen man immer das scheußliche schwärzliche Zahnfleisch sah! Wer ganz ist – ein Mensch, dessen Körper und Seele eins sind – so wie es die Natur seiner Jahre mit sich bringt – der kann sich nicht vorstellen, was dies teuflische Gefangensein für mich bedeutete! Jung sein und voll von Wünschen und voll von Energie der Jugend – – Und dabei gefangen und bald darauf zermalmt in dieser wankenden Ruine von einem Menschen ...!

Aber ich verliere den Faden meiner Erzählung ...

Eine Zeitlang muß ich geradezu betäubt gewesen sein über die Veränderung, die über mich hereingebrochen war. Der Tag schien hell, als ich mich endlich so weit zusammenraffte, um denken zu können. Ich war – auf irgendeine unerklärliche Art – verwandelt. Obschon – wie das – wenn nicht Hexerei im Spiel war – hatte zugehen können das wußte ich nicht. Und während ich darüber nachdachte, ward mir das teuflische Genie Elveshams klar. Es kam mir ganz selbstverständlich vor: so wie ich in seinem Körper steckte, so war er jetzt Herr des meinen, das heißt, meiner Kraft, meiner Zukunft. Aber wie das beweisen? Dann – als ich weiter darüber nachdachte, erschien mir selber das alles so unglaublich, und meine Gedanken wirbelten so durcheinander, daß ich mich selber kneifen, meine zahnlosen Gaumen befühlen, mich im Spiegel betrachten, die Dinge um mich berühren mußte, eh' ich wieder den Tatsachen nüchtern gegenüberstand. War alles Leben Halluzination? War ich wirklich Elvesham? Und Elvesham ich? Hatte ich einfach einmal nachts von Eden geträumt? Existierte überhaupt ein Eden? Aber – wenn ich Elvesham war, so müßte ich mich doch am nächsten Morgen darauf besinnen, wo ich war, – auf den Namen der Stadt, in der ich lebte – auf das, was geschehen war, eh' ich anfing zu träumen ... Ich kämpfte mit meinen Gedanken. Ich rief mir die seltsame Zweiheit meiner nächtlichen Erinnerungen zurück. Aber mein Geist war jetzt ganz klar. Auch nicht die Spur einer Erinnerung außer der aus meinen Edentagen wollte noch in mir aufsteigen.

»Es ist einfach zum Verrücktwerden!« rief ich in meiner dünnen Greisenstimme. Ich stolperte auf vom Bett, schleppte meine schwächlichen, bleiernen Glieder zum Waschtisch und steckte mein graues Haupt in eine Waschschüssel voll kalten Wassers. Dann – während ich mich abtrocknete, versuchte ich es aufs neue ... Es half nichts. Ich fühlte – – es war ganz fraglos: Ich war Eden, nicht Elvesham! Aber Eden in Elveshams Körper!

Hätte ich in irgendeinem andern Jahrhundert gelebt – ich hätte eben mein Schicksal auf mich genommen und mich als Verhexten betrachtet. Aber in unsern skeptischen Tagen gelten Wunder nicht mehr. Es war einfach ein psychologischer Trick. Und was ein Mittel und ein festes Anstarren angerichtet hatten, das konnte irgendein anderes Mittel und ein anderes festes Anstarren oder irgendeine derartige Behandlung auch wieder zurechtbringen. Es war ja nicht das erstemal, daß ein Mensch die Erinnerung verlor. Aber Erinnerungen vertauschen – verwechseln, wie man Regenschirme verwechselt – –! Ich mußte lachen. Ach! es war kein gesundes Lachen! Es war ein greisenhaft-winselndes Gekicher. Ich hatte auf einmal die Vorstellung, wie der alte Elvesham mich auslachte, und ein Taumel kleinlichen Zorns, wie ich ihn sonst gar nicht kannte, überfiel mich plötzlich. Ich fing hastig an, mir die Kleidungsstücke anzuziehen, die überall auf dem Boden herumlagen, und erst als ich angezogen war, merkte ich, daß ich im Gesellschaftsanzug war. Ich öffnete den Schrank und fand darin einige Straßenanzüge, ein paar karierte Hosen und einen altmodischen Schlafrock. Die letzteren Stücke zog ich an, stülpte ein ehrwürdiges Hauskäppchen auf mein Haupt und wankte – ein bißchen hustend von der Anstrengung – auf den Korridor hinaus.

Es war ungefähr dreiviertel auf sechs; die Läden waren noch alle geschlossen; das Haus war ganz still. Es war ein geräumiger Flur, eine breite Treppe mit üppigem Läufer führte in die dunkle Tiefe der unteren Halle; und durch eine halbgeöffnete Tür gerade vor mir erblickte ich ein Schreibpult, einen drehbaren Bücherständer, den Rücken eines Schreibsessels und Reihen auf Reihen von gebundenen Büchern ...

»Mein Arbeitszimmer!« murmelte ich und ging über den Flur. Dann – beim Klang meiner Stimme – durchzuckte mich ein Gedanke. Ich ging zurück ins Schlafzimmer und schob mein Gebiß in den Mund. Leicht und gewohnheitsmäßig schlüpfte es an seinen Platz. »So ist's besser!« sagte ich, kauend und fletschend, und kehrte zum Arbeitszimmer zurück.

Die Schiebladen des Schreibtischs waren verschlossen. Auch der Pultdeckel war geschlossen. Nirgends bemerkte ich etwas von Schlüsseln; und auch in meinen Hosentaschen waren sie nicht. Ich stolperte wieder in mein Schlafzimmer, suchte in meinem Gesellschaftsanzug nach und überhaupt in allen Kleidungsstücken, deren ich habhaft werden konnte. Ich war voller Eifer; man hätte glauben können, Einbrecher hätten in meinem Zimmer gehaust, als ich endlich fertig war. Nicht nur, daß nirgends Schlüssel waren – – aber auch kein Stück Geld – keinen Fetzen Papier fand ich – – mit Ausnahme der Quittung vom vorhergehenden Abend.

Eine seltsame Müdigkeit überfiel mich plötzlich. Ich setzte mich und blickte starr auf das Kleiderzeug, das herumlag – hier – dort – mit umgedrehten Taschen. Von Sekunde zu Sekunde ward mir mehr und mehr klar, wie klug mein Feind seine Minen gelegt hatte, begann ich mehr und mehr einzusehen, wie hoffnungslos meine Lage war. Mit einer Kraftanstrengung erhob ich mich wieder und humpelte in das Arbeitszimmer zurück.

Auf der Treppe öffnete eben ein Hausmädchen die Läden. Sie sah mich starr an ... Ich glaube, wegen des Ausdrucks auf meinem Gesicht ... Ich machte die Tür meines Arbeitszimmers hinter mir zu, ergriff einen Feuerhaken und hieb damit auf das Schreibpult ein. Und so haben sie mich gefunden. Der Deckel des Pults war zersplittert, das Schloß zertrümmert – die Briefe aus den Fächern gerissen und übers ganze Zimmer verstreut. In meiner senilen Wut hatte ich die Federn und all derartiges Schreibmaterial im Zimmer herumgeschleudert und die Tinte umgeworfen. Eine große Vase auf dem Kaminsims war auch zerbrochen – ich weiß nicht wie. Ich fand nirgends ein Scheckbuch – nirgends Geld – nirgends irgendwelche Anhaltspunkte, die mir zur Wiedererlangung meines eigenen Ich hätten dienen können. Wie ein Verrückter hämmerte ich auf die Schiebladen los, als der Hausdiener, gefolgt von zwei Hausmädchen, eintrat.

Das – in aller Einfachheit – ist die Geschichte meiner Verwandlung. Niemand schenkt meinen verzweifelten Versicherungen Glauben. Ich werde als Geistesgestörter behandelt; während ich dies niederschreibe, überwacht man mich. Aber ich bin geistig gesund – vollkommen gesund. – Und zum Beweis hab' ich diese Geschichte niedergeschrieben, genau so, wie alles sich zugetragen hat. Ich wende mich an den Leser: Ist irgendwo auch nur eine Spur von Verrücktheit in Stil oder Methode der Geschichte, die er da gelesen hat? Ich bin ein junger Mann – der in den Körper eines alten Mannes eingeschlossen ist. Aber diese einfache Tatsache ist für jedermann unverständlich. Natürlich werd' ich allen, die mir nicht glauben, verrückt vorkommen; natürlich kenn' ich die Namen meiner Sekretäre, der Ärzte, die mich besuchen, meiner Dienerschaft, der Nachbarn, der Stadt (wo sie auch liegen mag) in der ich jetzt lebe, nicht. Natürlich verirre ich mich in meinem eigenen Haus und habe Unannehmlichkeiten aller Arten. Natürlich frage ich die seltsamsten Fragen. Natürlich wein' ich oder schrei' ich und habe Anfälle von Verzweiflung. Ich habe kein Geld und kein Scheckbuch. Die Bank erkennt meine Unterschrift nicht an; ich vermute, dank der schwachen Muskeln, die ich jetzt habe, ist meine Handschrift noch die Edens. Die Menschen wollen mich nicht selber nach der Bank gehen lassen. Das heißt, es scheint wirklich, daß hier in der Stadt überhaupt keine Bank ist, und daß ich irgendwo in London mein Konto habe. Es scheint, daß Elvesham den Namen seines Bankiers ganz geheim gehalten hat. – – – Ich kann es nicht ergründen. Elvesham war ja berühmt als Forscher auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten, und alle meine Auseinandersetzungen der Tatsachen dienen bloß dazu, die allgemeine Annahme zu bestätigen, daß meine Geisteskrankheit eine Folge übermäßigen Studiums psychologischer Probleme ist. Träume von persönlicher Identität! Ach Gott! Vor zwei Tagen noch war ich ein gesunder, junger Mensch, vor dem das Leben offen dalag. Heute kriech' ich – – ein übellauniger, alter Mann – ingrimmig – verzweifelt – jammervoll – in einem großen, luxuriösen, fremden Haus herum – von jedermann als Irrsinniger angesehen – beobachtet – gefürchtet – gescheut ... Und in London fängt Elvesham sein Leben aufs neue an – in einem kraftvollen Körper – mit all dem Wissen und den Erfahrungen von siebenzig Jahren! Er hat mir mein Leben gestohlen.

 

Was eigentlich geschehen ist, weiß ich nicht genau. Im Studierzimmer sind Bände voll geschriebener Notizen, die sich hauptsächlich auf die Psychologie des Gedächtnisses beziehen – teilweise in Zahlen oder symbolischen Ziffern, die mir ganz und gar fremd sind. Ab und zu finden sich auch Anzeichen, daß er sich mit der Philosophie der Mathematik beschäftigt hat. Ich fasse es so auf: er hat die ganze Last seiner Erinnerungen, alles, was seine eigene Persönlichkeit ausmacht, von seinem alten, verbrauchten Gehirn auf das meine übertragen und hat – gleicherweise – meines in seinen verbrauchten Körper gelockt. Das heißt – er hat einfach die Körper vertauscht. Aber wie so etwas möglich sein kann – das steht außerhalb der Grenzen meiner Philosophie. Ich bin – solange ich zurückdenken kann – Materialist gewesen. Aber dies hier ist – unzweifelhaft – ein Fall von Loslösbarkeit des Menschen von der Materie ...

Ein verzweifeltes Experiment will ich noch versuchen. Ich schreibe dies nieder, eh' sich die Sache entscheidet. Heut' morgen gelang es mir – mit Hilfe eines Messers, das ich beim Frühstück heimlich beiseite geschmuggelt habe, ein im übrigen ziemlich in die Augen fallendes Geheimfach des Schreibpults aufzubrechen. Ich fand darin nichts als ein kleines, grünes Glasfläschchen mit einem weißen Pulver. Um den Hals der Flasche lief eine Etikette, darauf stand das eine Wort: »Erlösung«. Das bedeutet ja wohl – – ist wahrscheinlich – Gift! Ich kann gut verstehen, daß Elvesham mir Gift in die Hände gespielt hat ... Und ich wäre ja auch ganz überzeugt von seiner Absicht, sich auf diese Weise des einzigen Menschen zu entledigen, der gegen ihn zeugen könnte – – wenn er es nicht so sorgfältig versteckt hätte ... Ja, der Mann hat das Problem der Unsterblichkeit in der Praxis gelöst. Wenn nicht grade der Zufall ihm besonders übel mitspielt, so wird er in meinem Körper weiterleben, bis er alt ist, und wird dann – unter Beiseiteschiebung des alten – sich wieder der Jugend und Kraft eines neuen Opfers bemächtigen. Wenn man seine Herzlosigkeit bedenkt, so ist es geradezu grauenhaft, sich seine immer wachsende Erfahrung vorzustellen, mit der er ... Wie lang er wohl schon so von Körper zu Körper übergesprungen ist – –? Aber ich bin müde des Schreibens. Das Pulver scheint in Wasser auflösbar zu sein ... Der Geschmack ist nicht unangenehm ...

Hier endet die auf Mr. Elveshams Schreibtisch aufgefundene Erzählung.

Sein Leichnam lag zwischen Tisch und Stuhl ... Der letztere war zurückgeschoben – vermutlich im letzten Krampf des Sterbenden. Die Geschichte war in einer ganz verrückten Handschrift geschrieben – ganz verschieden von seiner gewohnten, peinlich sauberen Schrift. Bloß zwei seltsame Tatsachen bleiben noch zu erwähnen. Eine Beziehung zwischen Eden und Elvesham existierte ganz fraglos; denn das gesamte Vermögen Elveshams war dem jungen Mann vermacht. Bloß daß dieser sein Erbe nie antrat. Denn als Elvesham Selbstmord beging, war Eden – merkwürdigerweise – schon tot. Vierundzwanzig Stunden vorher war er – im Gedränge der Kreuzung von Gower Street und Euston Road, von einer Droschke überfahren und auf der Stelle getötet worden. So daß das einzige menschliche Wesen, das Licht in diese phantastische Erzählung hätte bringen können, außerhalb des Bereichs aller Fragen steht ... Ich überlasse also diese außergewöhnliche Angelegenheit ohne weiteren Kommentar dem persönlichen Urteil des Lesers ...

Der Zauberladen

Von weitem hatte ich den Zauberladen schon öfter gesehen; ein- oder zweimal war ich auch daran vorbeigekommen – ein Schaufenster voll von verführerischen kleinen Gegenständen – Zauberbällen, Zauberhennen, wundervollen Kegeln, Puppen, die bauchredeten, sämtlichem Zubehör zum Korbtrick, Kartenspielen, die aussahen, als wären sie ganz harmlos und all solchem Zeug. Aber nie war mir der Gedanke gekommen hineinzugehen, bis mich eines Tages Gip ganz unversehens am Finger zu dem Fenster hinlotste und sich derartig aufführte, daß ich ihn einfach hineinführen mußte. Ich hatte – aufrichtig gesagt – gar nicht daran gedacht, daß der Laden hier sein könnte – eine bescheidene Front in Regent Street, zwischen einer Kunsthandlung und einem Geschäft, wo Kücken, die eben aus ihren Patent-Brutapparaten gekrochen sind, herumlaufen –; aber es half nichts – er war da. Ich hatte immer geglaubt, er wäre weiter unten in der Nähe des Zirkus oder um die Ecke in Oxford Street oder gar in Holborn; jedenfalls hatte er mir immer ein bißchen aus dem Weg und nicht leicht zu erreichen geschienen – so eine Art von Fata-Morgana-Lage. Aber er war nun einmal hier – ganz unbestreitbar, und das dicke Ende von Gips Zeigefinger hämmerte gegen das Glas.

»Wenn ich reich wäre,« sagte Gip, mit dem Finger auf das ›Unsichtbare Ei‹ deutend, »so würde ich mir das kaufen. Und das da« – nämlich ›Das schreiende Wickelkind, völlig menschlich‹ – und das da« – ein geheimnisvolles Etwas, namens (wie ein sauberes kleines Schild besagte) ›Kaufe mich und überrasche deine Freunde!‹

»Und da,« sagte Gip, »unter den Rollen da verschwindet alles, einfach alles. Ich hab' es einmal in einem Buch gelesen.«

»Und dort, Väterchen, ist der ›Unsichtbare Groschen‹ – bloß daß sie es so 'rum hingelegt haben, und man nicht sieht, wie's gemacht wird.«

Gip, der liebe Junge, hat ganz die Wohlerzogenheit seiner Mutter geerbt; er machte nicht etwa den Vorschlag, wir wollten in den Laden gehen, oder quälte und quängelte; er lotste mich bloß so ganz instinktiv an einem Finger nach der Tür zu und zeigte sein Interesse recht deutlich.

»Das da,« sagte er und deutete auf die Zauberflasche ...

»Wenn du das hättest ...?« sagte ich, auf welche vielversprechende Frage hin er mit einem plötzlichen Aufstrahlen aufschaute.

»Dann könnt' ich es Jessie zeigen!« sagte er, wie immer auch an andere denkend.

»Es sind nicht einmal mehr ganz hundert Tage bis zu deinem Geburtstag, Gibbles,« sagte ich und legte meine Hand auf die Türklinke.

Gip antwortete nicht; aber er packte meinen Finger fester, und wir betraten den Laden.

Es war wirklich kein gewöhnlicher Laden; es war ein Zauberladen. Und all die großartige Überlegenheit, die Gip sonst, wo es sich einfach um Spielsachen handelt, zeigte, ließ ihn hier gänzlich im Stich. Er überließ die ganze Last der Konversation mir.

Es war ein kleiner, enger, nicht besonders glänzend erleuchteter Laden; die Glocke an der Tür gab einen jämmerlichen Ton von sich, als wir hinter uns zumachten. Einen Augenblick waren wir beide allein und konnten uns umsehen. Auf dem Glasdeckel, der den niederen Ladentisch bedeckte, stand ein Tiger in Papiermaché – ein ernsthafter, gutmütig aussehender Tiger, der unentwegt mit dem Kopf nickte; daneben ein paar Kristallkugeln, eine Porzellanhand, die Zauberkarten hielt, ein Satz Zauberfischgläser in verschiedenen Größen und ein recht aufdringlicher Zauberhut, der seine Federn schamlos preisgab. Auf dem Fußboden standen Zauberspiegel; einer, der lang und dünn machte, einer, in dem der Kopf aufquoll und die Beine gänzlich verschwanden, und wiederum einer, der einen ganz kurz und dick machte, wie eine Null. Und während wir uns noch daran belustigten, kam – so vermute ich wenigstens – der Ladeninhaber herein.

Jedenfalls stand er auf einmal hinter seinem Tisch. Ein merkwürdiger, brünetter, fahler Mensch – ein Ohr länger als das andere und ein Kinn wie die Spitze eines Stiefels.

»Womit kann ich dienen?« sagte er, seine langen Zauberfinger auf der Glasplatte ausspreizend. Worauf wir zusammenfuhren. Wir merkten erst jetzt, daß er da war.

»Ich möchte,« sagte ich, »ein paar einfache Tricks für meinen Kleinen.«

»Handgeschicklichkeit?« fragte er. »Oder Mechanik? Für den Salon?«

»Irgendwas Lustiges,« sagte ich.

»Hm!« bemerkte der Ladenmensch und kratzte sich den Kopf, als überlegte er. Dann zog er – ganz deutlich sichtbar – eine gläserne Kugel aus seinem Kopf. »Etwas derart?« sagte er und hielt sie uns hin.

Es kam mir ganz unerwartet. Ich hatte ja das Kunststück oft genug bei Vorstellungen ausführen sehen – es gehört einmal zum allgemeinen Programm der Zauberkünstler. – Aber hier war ich nicht darauf gefaßt gewesen. »Bravo!« sagte ich lachend.

»Nicht?« sagte der Ladenmensch.

Gip streckte seine freie Hand aus, um den Gegenstand an sich zu nehmen, fand aber nichts als eine leere Handfläche.

»Es ist in deiner Tasche!« sagte der Mann. Wo es auch wirklich war!

»Wie hoch kommt das?« fragte ich.

»Glaskugeln berechnen wir nicht,« sagte der Mann höflich. »Wir beziehen sie« – er zog sich, während er sprach, eine aus dem Ellbogen – »gratis.« Darauf förderte er eine dritte aus seinem Nacken zutage und legte sie neben ihre Vorgängerin auf den Ladentisch. Gip besah sich seine Glaskugel aufmerksam, warf dann einen fragenden Blick auf die beiden andern auf dem Ladentisch und richtete hierauf seine rundäugige Aufmerksamkeit auf den Mann, der lächelte. »Du darfst die da auch nehmen,« sagte er, »und wenn du magst, noch eine dazu aus meinem Mund. Da!«

Gip befragte mich einen Augenblick stumm um Rat, schob dann unter tiefem Stillschweigen die vier Bälle ein, kehrte zu meinem rettenden Finger zurück und bereitete seine Kräfte auf das nächste Ereignis vor.

»Unsere kleineren Tricks beziehen wir alle nur auf die Weise,« bemerkte der Mann.

Ich lachte, wie man über einen alten Witz lacht. »Statt nach dem Hauptdepot zu gehen,« sagte ich. »Selbstverständlich. Es kommt billiger.«

»Auf eine Art,« sagte der Mann. »Obschon wir schließlich doch bezahlen. Aber nicht so viel, als die Leute meinen ... Unsere größeren Tricks und unsere Tagesbedürfnisse und was wir sonst brauchen beziehen wir hier aus dem Hut ... Sie müssen wissen, Herr – entschuldigen Sie die Freiheit! – es gibt kein Hauptdepot – nicht für echte Zauberartikel, Herr! Ich weiß nicht, ob Sie unser Firmenschild gesehen haben – ›Der echte Zauberladen‹ .« Er zog eine Geschäftskarte aus seiner Backe und händigte sie mir ein. »Der echte!« wiederholte er, mit dem Finger auf das Wort deutend, und fügte hinzu: »Kein Betrug – in keiner Weise, Herr!«

Der scheint den Scherz ja recht ernsthaft durchzuführen, dachte ich.

Darauf wandte er sich mit einem Lächeln von auffallender Beflissenheit an Gip. »Junge, weißt du, du bist von der rechten Sorte!« Ich war überrascht ob seiner Sachkenntnis. Denn im Interesse der Disziplin halten wir das sogar bei uns zu Hause ziemlich geheim. Gip dagegen nahm es mit unerschütterlichem Stillschweigen auf und sah ihn nur unentwegt fest an.

»Bloß Jungens von der rechten Sorte kommen überhaupt durch die Tür da!«

Und als eine Art Illustration zu diesem Ausspruch vernahmen wir im selben Augenblick ein Rütteln an der Tür und hörten eine schwächliche, piepsende, kleine Stimme: »'rein! Ich will aber 'rein, Väterchen, ich will 'rein! 'rein!« und darauf Töne eines mißhandelten Vaters, der tröstete und beschwichtigte.

 

»Es ist geschlossen, Eduard!« klang es.

»Aber es ist doch nicht,« sagte ich.

»Doch, Herr!« entgegnete der Ladenbesitzer, »immer – für die Sorte von Kindern;« und während er das sagte, tauchte draußen flüchtig ein kleines, weißes, von Süßigkeiten und Überfütterung aufgedunsenes und von schlechten Neigungen verzogenes, fahles Gesichtchen auf – der andere Junge, ein trotziger, kleiner Egoist, der gegen die verzauberte Ladenfensterscheibe hämmerte. »Hilft nichts, Herr!« sagte der Mann, als ich, von meiner angeborenen Menschenfreundlichkeit getrieben, auf die Tür zuging. Gleich darauf hörten wir, wie das verzogene Kind heulend abgeführt ward.

»Wie bringen Sie denn das zuwege?« fragte ich aufatmend.

»Zauberei!« sagte der Mann mit einer gleichmütigen Handbewegung; und siehe da! Funken farbigen Feuers sprühten aus seinen Fingern und entschwanden im Dunkel des Ladens.

»Hast du nicht gesagt,« wandte er sich darauf an Gip, »eben eh' du hereinkamst, du möchtest gerne eine Schachtel ›Kaufe mich und überrasche deine Freunde‹ ?«

Gip, nach einer tüchtigen Kraftanstrengung, sagte: »Ja.«

»Es ist in deiner Tasche.«

Und sich über den Ladentisch beugend – der Kerl hatte wirklich einen ganz außergewöhnlich langen Körper – förderte der erstaunliche Mensch den genannten Gegenstand zutage – ganz auf die Art des üblichen Zauberkünstlers. »Papier!« sagte er dann und holte einen Bogen aus dem leeren Hut mit den Federn. »Bindfaden!« Und siehe da, sein Mund war ein Bindfadenbeutel, aus dem er ein endloses Stück Schnur zog, das er schließlich, nachdem er das Paket zugebunden hatte, abbiß und worauf er – so wenigstens erschien es mir – den Bindfadenknäuel verschluckte. Darauf steckte er an der Nase einer Bauchrednerpuppe eine Kerze an, streckte den einen Finger (der rot wie Siegellack aussah) in die Flamme und versiegelte damit das Paket. »Dann war da noch das ›Unsichtbare Ei‹ ,« fuhr er fort, zog eins aus meiner Brusttasche und packte es ein; ebenso das ›Schreiende Wickelkind, völlig menschlich‹ . Und ich reichte jedes Paket, sobald es fertig war, Gip, der es innig an sich drückte.

Sagen tat er ja wenig; aber um so beredter waren seine Augen. Auch die Art, wie er mich anfaßte, war recht beredt. Er war der Spielball unaussprechlichster Erregungen. Man bedenke: echte Zauberei!

Gleich darauf machte ich einen Luftsprung: ich entdeckte, daß sich in meinem Hut etwas bewegte – etwas Weiches, Flatterndes. Ich riß ihn vom Kopf und eine zerzauste Taube – zweifellos eine Mitverschworene – fiel heraus und lief über den Ladentisch, um – wie ich glaube – in einer Pappschachtel hinter dem Papiermachétiger zu verschwinden.

»Ei, ei!« sagte der Ladenbesitzer, mir gewandt meinen Hut aus der Hand nehmend. »Leichtsinniger Vogel! Und hat – so wahr ich lebe – gebrütet!«

Er schüttelte meinen Hut und schüttete in seine ausgestreckte Hand zwei oder drei Eier, einen großen Schusser, eine Uhr, ungefähr ein halbes Dutzend der unvermeidlichen Glaskugeln und zuletzt zerknittertes, zusammengeknülltes Papier, immer mehr und mehr und mehr, wobei er die ganze Zeit darüber redete, wie nachlässig die Menschen ihre Hüte innen und außen ausbürsteten – höflich natürlich, aber doch mit einer gewissen persönlichen Anzüglichkeit. »Alle möglichen Dinge sammeln sich an, Herr ... Ich meine nicht Sie im besondern ... aber fast bei jedem Kunden ... Ganz erstaunlich,was sie alles mit sich herumschleppen ...« Das zerknitterte Papier wogte und stieg auf dem Ladentisch, immer höher und höher, bis der Mann fast ganz verschwunden war, bis es ihn ganz und gar verdeckte; und immer noch ertönte die Stimme – fort und fort: »Keiner von uns weiß, was der äußere Schein eines menschlichen Wesens verbergen kann, Herr! Sind wir nicht alle nur glattgebürstete Außenseiten, weiße Grabmäler – –« Seine Stimme verstummte – genau wie wenn man mit einem wohlgezielten Backstein nach dem Grammophon seines Nachbars wirft – dasselbe plötzliche Verstummen; das Rascheln des Papiers hörte auf und alles war still ...

»Sind Sie fertig mit meinem Hut?« sagte ich nach einer Pause.

Es kam keine Antwort.

Ich starrte Gip an und Gip starrte mich an; und in den Zauberspiegeln standen unsere Zerrbilder und sahen ganz sonderbar und ernsthaft und still aus ...

»Ich denke, wir gehen jetzt,« sagte ich. »Wollen Sie mir sagen, was ich schuldig bin?«

»Hören Sie?« sagte ich in etwas stärkerem Ton, »ich möchte die Rechnung; und meinen Hut, bitte!«

Hinter dem Papier vor kam etwas wie ein Schnuppern ... »Wir wollen hinter dem Ladentisch nachsehen, Gip,« sagte ich. »Er hält uns zum Narren.«

Ich führte Gip um den kopfnickenden Tiger herum. Und was glauben Sie, daß hinter dem Ladentisch war? Überhaupt niemand! Nichts als mein Hut auf dem Boden und ein gewöhnliches stutzohriges, weißes Zauberkaninchen, das in tiefe Betrachtung versunken dasaß und so dumm und zerzaust aussah, wie bloß ein Zauberkaninchen aussehen kann. Ich hob meinen Hut auf, und das Kaninchen setzte mit einem kleinen, trägen Satz mir aus dem Weg.

»Väterchen!« sagte Gip in schuldbewußtem Flüsterton.

»Was gibt's, Gip?« sagte ich.

»Der Laden gefällt mir, Väterchen!«

»Mir auch,« sagte ich zu mir selbst, »wenn bloß nicht der Ladentisch auf einmal so lang würde, daß er einen von der Tür absperrt.« Aber hierauf machte ich Gip nicht weiter aufmerksam. »Pussy!« sagte er und streckte eine Hand nach dem Kaninchen aus, das an uns vorüberhopste. »Pussy, mach' uns ein Zauberkunststückchen vor!« Und er verfolgte es mit den Blicken, während es sich durch eine Tür zwängte, die ich einen Augenblick zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Die Tür öffnete sich weiter und der Mann mit dem einen Ohr größer als dem andern erschien wieder. Er lächelte noch immer, aber sein Auge begegnete dem meinen mit einem Ausdruck, der zwischen Belustigung und Herausforderung schwankte. »Vielleicht würde es Ihnen Spaß machen, unser Magazin zu sehen, Herr!« sagte er mit einer Art harmloser Beflissenheit. Gip zerrte meinen Finger vorwärts. Ich sah nach dem Ladentisch und begegnete wieder dem Auge des Mannes. Ich fing an, den Zauber ein bißchen zu echt zu finden! »Sehr viel Zeit haben wir nicht,« sagte ich. Aber noch eh' ich das ausgesprochen hatte, waren wir schon irgendwie im Magazin drin.

»Alle unsere Ware ist von ein und derselben Qualität,« sagte der Mann, seine geschmeidigen Hände aneinander reibend, »nämlich von der besten. Wir haben in diesem ganzen Raum nichts, was nicht echte Zauberei ist und für dessen Originalität wir nicht garantieren. Bitte um Entschuldigung, mein Herr!«

Ich fühlte, wie er an etwas zog, das an meinem Rockärmel hing; und dann sah ich ihn einen kleinen, sich krümmenden, roten Dämon am Schwanz halten – das kleine Wesen fauchte und schlug um sich und versuchte ihn in die Hand zu beißen – im nächsten Augenblick schleuderte er es gleichmütig hinter einen Tisch. Ohne Zweifel war das Ding ja nichts weiter als eine kleine Gummipuppe; aber so im Augenblick ...! Und das ganze Gebaren des Mannes war genau so, als ob er ein ekles, bissiges, kleines Stück Ungeziefer in der Hand hielte. Ich blickte nach Gip, aber Gip besah sich eben ein Zauberschaukelpferd. Ich war froh, daß er das Ding nicht gesehen hatte. »Hören Sie mal,« sagte ich leise, mit meinen Augen auf Gip und den kleinen roten Teufel weisend, – »Sie haben wohl nicht viel Derartiges hier, was?«

»Das war keiner von unsern! Wahrscheinlich haben Sie ihn mitgebracht!« sagte der Mann, ebenfalls leise und mit strahlenderem Lächeln als je. »Ganz erstaunlich, was die Leute immer mit sich herumschleppen, ohne daß sie's merken!« Dann zu Gip: »Siehst du hier irgendwas, was dir gefällt?«

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