Das Mädchen mit den Goldaugen

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Das Mädchen mit den Goldaugen







Honoré de Balzac







Inhaltsverzeichnis





Über den Autoren:







Das Mädchen mit den Goldaugen







Impressum







Über den Autoren:



Honoré de Balzac war ein französischer Schriftsteller. In den Literaturgeschichten wird er, obwohl er eigentlich zur Generation der Romantiker zählt, mit dem 16 Jahre älteren Stendhal und dem 22 Jahre jüngeren Flaubert als Dreigestirn der großen Realisten gesehen.







Das Mädchen mit den Goldaugen






»E ines der Schauspiele, darin das höchste Maß von Schrecken sich birgt, ist sicherlich der allgemeine Anblick der Pariser Bevölkerung, dieses bleichen, gelben, verbrannten, furchtbar anzusehenden Volkes. Ist Paris nicht ein unermeßliches Feld, fortwährend bewegt von einem Sturm von Begierden, der die Menschen gleich Ähren durcheinanderschüttelt? Der Tod hält hier häufiger Mahd als anderswo, aber immer wachsen diese Menschen, dicht aneinandergedrängt, wieder nach. Ihre schiefen, verzogenen Gesichter strömen aus allen Poren den Geist, die Begierden, die Gifte, von denen ihr Gehirn geschwängert ist. Keine Gesichter mehr, sondern bloß noch Masken. Masken der Schwäche, Masken der Kraft, Masken des Elends, Masken der Freude, Masken der Heuchelei. Alle abgezehrt, alle geprägt mit dem untilgbaren Zeichen einer keuchenden Gier. Was wollen sie? Gold oder Vergnügen?



Ein paar Bemerkungen über die Seele von Paris mögen die Ursachen des leichenhaften Antlitzes dieser Stadt erklären, dass nur zwei Lebensalter kennt: Jugend oder Verfall. Bleifahle, farblose Jugend — geschminkten, als jung aufgeputzten Verfall. Beim Anblick dieses gleichsam aus dem Grabe hervorgezerrten Volkes empfinden die Fremden, die nicht nachzudenken brauchen, zuerst eine Regung des Ekels vor dieser Stadt, die nichts ist als eine ungeheure Werkstatt des Genusses. Aber bald vermögen sie nicht mehr, sie zu verlassen, und bleiben, um sich freiwillig zu verunstalten. Wenig Worte reichen aus, um physiologisch die fast höllische Färbung der Pariser Gesichter zu erklären. Denn nicht zum Scherz bloß hat man Paris eine Hölle genannt. Nehmt dies Wort für wahr. Dort raucht alles, brennt und glitzert, alles siedet, lodert, verdampft, erlischt, entzündet sich aufs Neue, funkelt, knistert und verzehrt sich. Niemals war das Leben in irgendeinem Land feuriger und kochender als hier. Diese unaufhörlich im Schmelzfluß begriffene gesellschaftliche Natur scheint nach jedem vollbrachten Werk zu sagen: ›Auf zu einem neuen!‹ wie es die Natur selber zu sich sagt. Wie die große Natur beschäftigt sich ihr gesellschaftliches Abbild mit Insekten, rasch verblühenden Blumen, Nichtigkeiten, Eintagsgeschöpfen, und wie sie stößt sie Flammen und Feuer aus ihrem ewigen Krater. Ehe man die Ursachen zergliedert, die jeder Klasse dieses klugen und regsamen Volkes ihr besonderes Gesicht geben, muß man vielleicht die allgemeine Ursache kennzeichnen, die dort den einzelnen Menschen mehr oder weniger entfärbt, bleicht, blau macht oder bräunt.



Für alles interessiert, was es gibt, endet der Pariser damit, sich für nichts mehr zu interessieren. Da keinerlei Empfindung sein durch die unaufhörliche Reibung abgestumpftes Gesicht beherrscht, so wird es grau wie der Stuck der Häuser, an dem Staub und Rauch haften geblieben sind. Am Abend gleichgültig gegen das, woran er sich am nächsten Morgen berauschen wird, lebt der Pariser, wie alt er immer sein mag, als ewiges Kind. Er murrt über alles, tröstet sich über alles, verspottet, vergißt, begehrt, versucht alles, ergreift alles mit Leidenschaft und läßt es mit Gleichgültigkeit wieder fahren: seine Könige, seine Eroberungen, seinen Ruhm, seinen Abgott, sei er aus Erz oder aus Glas, genau so wie er seine Strümpfe, seine Hüte und sein Vermögen fort wirft. Keine Empfindung widersteht in Paris dem Strom der Dinge. Ihr reißender Lauf zwingt zu einem Kampf, der die Leidenschaften entbindet. Liebe ist hier eine Begierde und Haß ein Aufwallung. Es gibt keinen wahren Verwandten außer dem Tausendfrankenschein, keinen anderen Freund als das Leihhaus. Dieses allgemeine Gehenlassen trägt seine Früchte: im Salon wie auf der Straße ist niemand zuviel. Niemand ist durchaus nützlich, niemand durchaus schädlich, weder Narren und Spitzbuben, noch Leute von Geist und Rechtschaffenheit. Alles wird hier geduldet, Regierung und Guillotine, Religion und Cholera. Man kommt dieser Welt zu jeder Stunde recht, man fehlt ihr niemals. Wer aber herrscht in diesem Land ohne Sitten, ohne Glauben, ohne Gefühl, darin doch alle Gefühle, Aller Glaube und alle Sitten entstehen und enden? Gold und Vergnügen! Nehmt diese beiden Worte als eine Leuchte in die Hand und durchwandert diesen großen Stuckkäfig, diesen Bienenkorb mit seinen schwarzen Lachen, und folgt dem Schlangenlauf des Gedankens, der ihn antreibt, bewegt, aufhebt und bearbeitet. Schaut um euch, seht zunächst die Welt, die nichts besitzt.



Der Arbeiter, der Proletarier, der Mann, der Füße, Hände, Zunge, Rücken, der einen Arm und seine fünf Finger regt, um zu leben, dieser Mann, der mehr als irgend ein anderer ein haushälterisches Leben sich zum Grundsatz machen müßte, er überspannt seine Kräfte, sperrt seine Frau an irgendeine Maschine, nutzt sein Kind aus und nagelt es an ein Rad. Der Fabrikant oder sonst irgendein untergeordneter Strang, dessen Getriebe dies Volk bewegt, das mit seinen schmutzigen Händen Porzellan formt und vergoldet, Kleider und Röcke näht, Eisen abflacht, Holz behobelt, Stahl hämmert, Hanf und Flachs festdreht, Erz glättet, Kristall ausschweift, Blumen nachbildet, Wolle spinnt, Pferde zureitet, Sattelzeug und Litzen flicht, Kupfer treibt, Wagen anstreicht, Bäume rundschneidet, Baumwolle verdampfen läßt, Glas bläst, Diamanten schleift, Metall glättet, Marmor behaut, Kiesel ausglüht, seinen Gedanken aufputzt, alles färbt, bleicht oder schwärzt — wohlan, dieser Unterbefehlshaber hat jener Welt aus Schweiß und Willen, aus Arbeit und Geduld einen außerordentlichen Lohn versprochen, sei es im Namen der Launen dieser Stadt oder auf Befehl jenes Ungeheuers, das Spekulation heißt. Darauf haben sich diese Vierhänder daran gemacht, zu wachen, zu leiden, zu arbeiten, zu fluchen, zu fasten, zu laufen; alle haben sie sich überanstrengt, um das Gold zu gewinnen, das sie im Bann hält. Und dann verschleudern sie, gleichgültig gegen die Zukunft, begierig nach Genuß, vertrauend auf die Kraft ihrer Arme wie der Maler auf seine Palette, als große Herren

eines

 Tages, am Montag ihr Geld in den Schenken, die einen Kotgürtel um diese Stadt ziehen. Den Gürtel der schamlosesten der Liebesgöttinnen, unaufhörlich geknüpft und wieder gelöst



darin sich wie im Spiel das kurzlebige Vermögen dieses Volkes verliert, das ebenso wild ist in seinen Vergnügungen wie ruhig bei der Arbeit. Fünf Tage lang gibt es dann keine Rast für diesen werktätigen Teil von Paris. Er befaßt sich mit Geschäften, die ihn krumm, aufgeschwollen, abgezehrt, blaß machen und in tausend Strahlen des Schöpferwillens aufspringen lassen. Danach ist sein Vergnügen, seine Ruhe eine ermattende Ausschweifung, braun und blau vom Raufen, bleich vom Rausche oder gelb von der Magenstörung. Sie dauert nur zwei Tage und stiehlt doch das Brot der Zukunft, die Suppe der Woche, die Kleider der Frau, die zerlumpten Windeln des Kindes. Diese Menschen, die doch geboren sind, um schön zu sein, denn jedes Geschöpf hat seine relative Schönheit, haben sich von Kindheit auf eingereiht unter den Oberbefehl der Gewalt, unter die Herrschaft des Hammers, der Schere, des Webstuhls und haben sich rasch vulkanisiert. Ist Vulkan, der starke, häßliche Gott, nicht das Sinnbild dieses starken und häßlichen Volkes, das voller kluger Einsicht ist für das Mechanische, geduldig zu seiner Zeit, einen Tag in jedem Jahrhundert furchtbar, entzündbar wie Pulver und auf die revolutionäre Feuersbrunst durch Branntwein vorbereitet, regsam genug, auf ein gewinnendes Wort hin Feuer zu fangen, das diesen Leuten doch immer nur eines bedeutet: Gold oder Vergnügen? Die eingerechnet, die ihre Hand nach einem Almosen ausstrecken, nach ihrem recht mäßigen Lohn und jenen fünf Franken, die allen Ab arten der Pariser Prostitution bewilligt werden, zählt dieses Volk dreimalhunderttausend Menschen. Würde nicht ohne die Schenken die Regierung jeden Dienstag umgestoßen werden? Zum Glück ist dies Volk am Dienstag erstarrt, schläft seinen Rausch aus, hat keinen Sou mehr in der Tasche und kehrt zur Arbeit, zum trocknen Brot zurück, gestachelt von dem Bedürfnis nach einer verdienstbringenden Beschäftigung, die ihm zur Gewohnheit geworden ist. Gleichwohl hat dieses Volk seine Tugendphänomene, seine vollkommenen Menschen, seine verborgenen Napoleone, die der Typus seiner zu ihrem höchsten Ausdruck geführten Kräfte sind und seine gesellschaftliche Bedeutung in einer Existenz zusammenfassen, in der Gedanke und Tat sich weniger verbinden, um ihm Freude zu schenken als um die Wirkung des Schmerzes zu regulieren.



Der Zufall hat einen Arbeiter sparsam gemacht, der Zufall hat ihm ein paar Gedanken gegeben, er hat mit seinen Augen die Zukunft überschauen können, er hat eine Frau getroffen, er ist Vater geworden und nach einigen Jahren harter Entbehrung tut er einen kleinen Kramladen auf und mietet ein Geschäft. Wenn weder Krankheit noch Laster ihn auf seinem Weg aufhalten, wenn er Glück hat, so ist das im allgemeinen die Skizze seines Lebens.



Aber zuerst grüßt diesen König der Pariser Beweglichkeit, der sich Raum und Zeit unterworfen hat. Ja, grüßt dies Geschöpf von Salpeter und Gas, das in seinen arbeitsvollen Nächten Frankreich Kinder schenkt und tagsüber sein Wesen vervielfältigt für den Dienst, den Ruhm und das Vergnügen seiner Mitbürger. Dieser Mann löst das Problem, gleichzeitig einer liebenswürdigen Frau, seiner Haushaltung, dem ›Constitutionel‹, seinem Geschäft, der Nationalgarde, der Oper und Gott zu genügen; aber nur um ›Constitutionel‹, Geschäft, Oper, Nationalgarde, Frau und Gott in Taler umzuwandeln. Kurz, begrüßt in ihm einen untadligen Verwalter von vielerlei Geschäften. Um fünf Uhr steht er auf und schon hat er wie ein Vogel den Raum, der seine Wohnung von der Rue Montmartre trennt, durchmessen. Mag es winden oder donnern, regnen oder schneien, er ist beim ›Constitutionel‹ und erwartet den Zeitungspack, dessen Austeilung er übernommen hat. Mit Begierde empfängt er dieses politische Brot, packt es auf und trägt es fort. Um neun Uhr ist er im Schoße seiner Familie, trägt seiner Frau einen Kalauer vor, raubt ihr einen tüchtigen Kuß, trinkt eine Tasse Kaffee oder schilt seine Kinder. Um dreiviertel zehn erscheint er auf dem Stadthaus. Dort läßt er sich auf einem Armsessel nieder wie ein Papagei auf seiner Stange und schreibt, auf städtische Kosten gewärmt, die Todesfälle und Geburten eines ganzen Bezirkes ein, ohne ihnen ein Lächeln oder eine Träne zu schenken. Glück und Unglück des Stadtviertels wandert durch die Spitze seiner Feder wie vorher der Geist des, ›Constitutionel‹ auf seinen Schultern reiste. Nichts vermag ihn zu beschweren. Er geht immer seinen Weg geradeaus, erhält seinen Patriotismus schon vollkommen fertig aus der Zeitung, widerspricht niemandem, schreit oder klatscht Beifall mit der ganzen Welt und lebt wie eine Schwalbe. Da er nur zwei Schritt von seinem Kirchspiel entfernt ist, kann er, wenn es eben eine bedeutsame Feierlichkeit gibt, seinen Platz einem Anwärter anvertrauen und ein Requiem im Kirchenchor mitsingen, dessen schönste Zierde seine eindrucksvolle

 



Stimme an Sonn- und Festtagen ist, und wo er voller Eifer sein großes Maul verzerrt, um ein fröhliches Amen erdröhnen zu lassen. Er ist Vorsänger. Um vier Uhr mit seinen Amtsgeschäften fertig, erscheint er, um Freude und Fröhlichkeit im Herzen des berühmtesten Ladens der Innenstadt zu verbreiten. Seine Frau hat es gut: er hat keine Zeit eifersüchtig zu sein, er ist eher ein Mann der Tat als des Gefühls. Sofort nach seinem Erscheinen beginnt er, mit den Ladenmädchen zu schäkern, deren blitzende Augen eine Unmenge von Käufern herbeilocken. Er vergnügt sich inmitten des Putzes, der Halstücher und der von geschickten Arbeiterinnen zugerichteten Seidengespinste. Öfter noch bedient er vor dem Abendessen einen Kunden, kopiert eine Seite des Geschäftsbuches oder trägt einen verspäteten Wechsel zum Gerichtsvollzieher. Jeden zweiten Tag um sechs Uhr ist er treu auf seinem Posten. Als unentwegter Chorbaß begibt er sich zur Oper, bereit, Soldat zu werden, Araber, Gefangener, Wilder, Bauer, Geist, Kamelsbein, Löwe, Teufel, Genius, Sklave, weißer oder schwarzer Eunuch, — gleichmäßig geschickt, Freude, Schmerz, Mitleid, Erstaunen vorzuführen, unveränderliche Schreie auszustoßen, zu schweigen, zu jagen, sich zu schlagen und Rom oder Ägypten darzustellen, aber immer als Kramwarenhändler. Um Mitternacht wird er wieder guter Ehemann, Gatte, zärtlicher Vater; er schlüpft, die Phantasie noch gespannt durch die täuschenden Formen der Opernnymphen, ins Ehebett und kehrt so die Verdorbenheit der Welt und die wollüstigen Beinbewegungen der Taglioni zum Nutzen der ehelichen Liebe. Wenn er dann endlich schläft, schläft er rasch und beeilt sich mit seinem Schlaf, wie er sich mit seinem Leben beeilt. Ist er nicht die menschgewordene Bewegung, der wandelnde Raum, der Proteus der Kultur? Dieser Mensch drängt alles in sich zusammen: Geschichte, Literatur, Politik, Regierung, Religion, Kriegskunst. Ist er nicht eine lebendige Enzyklopädie, ein grotesker Atlas, ohne Unterbrechung unterwegs wie Paris und ebenso ruhe los? Alles an ihm ist Bein. Kein Gesichtsausdruck könnte sich bei solchen Beschäftigungen rein bewahren. Vielleicht wird man den Arbeiter, der mit dreißig Jahren als ein alter Mann stirbt, den Magen ausgebrannt, durch die immer gesteigerten Dosen des Branntweins, wenigstens nach Ansicht einiger wohlsituierter Philosophen, glücklicher finden, als es der Kramhändler ist. Der eine stirbt mit einem Schlag, der andere Stück um Stück. Und dieser zieht aus seinen acht Gewerben, aus seinen Schultern, aus seiner Kehle, aus seinen Händen, aus seiner Frau und aus seinem Handel gleichsam als Pachtgeld: Kinder, ein paar tausend Franken und das arbeitsamste Glück, das jemals eines Menschen Herz erquickt hat. Dies Vermögen und diese Kinder, oder vielmehr diese Kinder, die für ihn alles bedeuten, fallen dann der nächsten Stufe dieser Welt zu, der er seine Taler und seine Tochter oder seinen im Gymnasium erzogenen Sohn zugeführt hat. Der Sohn aber, mit seiner höheren Bildung, läßt auch seinen Ehrgeiz höher schweifen als der Vater, und häufig will der jüngste Sohn eines kleinen Krämers eine Staatsstellung erreichen.



Dieser Ehrgeiz leitet uns in die zweite der Pariser Sphären. Steigt also eine Treppe hinauf und tretet ins Zwischengeschoß oder steigt vom Boden her ab und bleibt im vierten Stock, kurz, dringt in die Welt, die etwas besitzt, und ihr werdet dasselbe Ergebnis finden. Die Großhändler und ihre Gehilfen, die Angestellten, die Leute mit kleinen Bankgeschäften und großer Rechtschaffenheit, die Gewitzigten und die vom Unglück Verfolgten, die ersten und die letzten Geschäftsdiener, die Schreiber des Gerichtsvollziehers, des Anwaltes, des Notars, kurz die schaffenden, denken den, spekulierenden Glieder jenes Kleinbürgertums, das die Interessen von Paris zerreibt und auf sein Korn wartet, das wucherisch Lebensmittel zusammenkauft, die Erzeugnisse der Proletarier aufhäuft, Südfrüchte, Meerfische und die Weine jeder sonnengeliebten Küste verschließt, das seine Hände über den Orient ausstreckt, um die von Türken und Russen verschmähten Schals zu erwerben, das sogar in Indien einerntet, sich klein macht, um den Verkauf abzuwarten, nach dem Gewinn aufatmet, Wechsel diskontiert, alle Werte in Bewegung setzt und einkassiert, ganz Paris im kleinen ein wickelt und transportiert, die Liebhabereien der Kinder ausspäht, die Launen und Laster der Erwachsenen belauert und ihre Krankheiten ausnutzt — wohlan, auch diese überspannen, ohne wie der Arbeiter Branntwein zu trinken oder sich im Schlamme der Vorstädte zu wälzen, sämtlich ihre Kräfte. Sie überanstrengen maß los ihren Körper und ihren Geist, den einen durch den anderen, lassen sich ausdörren von ihren Begierden und richten sich zugrunde durch ihre wahnsinnige Hast. Bei ihnen vollzieht sich die Verunstaltung des Körpers unter der Peitsche der Erwerbsgier und unter der Geißel des Ehrgeizes, die diese höheren Welten der furchtbaren Stadt peinigen, wie die der Proletarier sich vollendet unter der grausamen Unruhe der stofflichen Verarbeitung, die der despotische Anspruch des aristokratischen ›Ich will es‹ unaufhörlich fordert. Auch hier also muß man, den Diensten des allmächtigen Meisters, der sich Vergnügen oder Gold nennt, gehorsam, die Zeit gierig aufzehren, jeden Augenblick hetzen, mehr als 24 Stunden in Tag und Nacht finden, sich krank machen, sich umbringen und für zwei Jahre einer kränklichen Ruhe dreißig Jahre des Greisenalters er kaufen. Mit dem einzigen Unterschied, daß der Arbeiter im Krankenhaus stirbt, wenn der höchste Grad seiner Verkrüppelung erreicht ist, während der Kleinbürger darauf besteht, weiterzuleben und auch wirklich weiterlebt, aber mit geschwächtem Geiste. Man trifft ihn, mit abgenutztem, flachem, gealtertem Gesicht, die Augen glanzlos und die Beine ohne Kraft, wie er sich mit stumpfsinnigem Ausdruck über den Boulevard schleppt, den Gürtel seiner Venus, seiner geliebten Stadt. Was wollte der Bürger? Das Seitengewehr des Nationalgardisten, einen immer gefüllten Suppentopf am Feuer, einen anständigen Platz auf dem Père-Lachaise und für sein Alter ein bißchen ehrlich erworbenes Geld. Sein Montag ist der Sonntag, seine Erholung die Spazierfahrt im Mietswagen, die Landpartie, auf der Frau und Kinder fröhlich Staub schlucken oder sich von der Sonne braten lassen, seine Vorstadtunterhaltung ist der Gastwirt, dessen giftiges Essen Ruf genießt, oder ein Familienball, wo man sich bis Mitternacht erdrückt. Manche Tröpfe verwundern sich über den Veitstanz, den die Monaden aufführen, wenn man einen Tropfen Wasser unter dem Mikroskop betrachtet; aber was würde der Gargantua des Rabelais sagen — diese Gestalt von erhabener und unverstandener Kühnheit — was würde dieser aus den himmlischen Sphären herabgefallene Riese sagen, wenn er sich damit unterhielte, die Ruhelosigkeit dieses zweiten Pariser Lebens zu betrachten, dessen eine Formel hier gegeben wurde? Habt ihr diese kleinen, selbst im Sommer kalten Buden gesehen, die auch im Winter keine andere Heizung haben als ein kleines Kohlenbecken, das unter dem ungeheuren Kupferdeckel steht, der die Getreidemarkthalle überspannt? Dort weilt die Frau vom Morgen an, sie ist Verkäuferin in der Markthalle und verdient, wie man sagt, bei diesem Geschäft zwölftausend Franken im Jahr. Der Mann begibt sich, wenn seine Frau aufsteht, in ein dunkles Zimmerchen, wo er an die Krämer seines Viertels bis zum Wochenende Geld ausleiht. Um neun Uhr trifft man ihn auf dem Paßamt, wo er das Amt eines Unterdirektors versieht. Am Abend sitzt er an der Kasse des italienischen oder irgendeines anderen Theaters. Die Kinder sind auswärts in Pflege gegeben und kehren erst zurück, um in die Schule oder in ein Pensionat zu gehen. Man wohnt im dritten Stock, hat nur eine Köchin und gibt Bälle in einem Salon von zwölf auf acht Fuß, der durch Quiquet-Lamven erhellt wird. Aber die Tochter bekommt hundertfünfzig tausend Franken Mitgift, und mit fünfzig Jahren setzen sich die Eltern zur Ruhe und fangen an, in einer dritten Rangloge in der Oper zu erscheinen oder auch im Wagen in Longchamps oder an sonnigen Tagen in verblichenen Kleidern auf den Boulevards, dem Spalier dieser Fruchtentfaltung. In ihrem Viertel geachtet, von der Regierung geliebt und in gutem Einvernehmen mit der hohen Bürgerschaft, erhält der Herr mit fünfundsechzig Jahren das Kreuz der Ehrenlegion, und der Vater seines Schwiegersohnes, der Vorsteher eines Stadtbezirkes ist, lädt ihn zu seinen Gesellschaften ein. Diese Anstrengungen eines ganzen Lebens geschehen also zum Nutzen der Kinder, die das Kleinbürgertum unweigerlich zur ersten Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zu erheben sucht. Der Sohn des reichen Krämers wird Notar, der Sohn des Holzhändlers städtischer Beamter. Jeder Zahn paßt genau in seine Kerbe, und alles spornt den aufsteigenden Lauf des Goldes noch stärker.



Damit sind wir in den dritten Umkreis dieser Hölle gekommen, die vielleicht eines Tages ihren Dante finden wird. In dieser dritten sozialen Sphäre, die eine Art von Pariser Bauch darstellt, darin die Bedürfnisse der Stadt verdaut und unter der .Geschäfte’ genannten Form zusammengepreßt werden, rührt und bewegt sich in einer ätzenden und galligen Darmbewegung die Masse der Anwälte, Ärzte, Notare, Advokaten, Geschäftsleute, Bankiers, Großkaufleute, Spekulanten und Beamten. Hier treffen noch mehr Ursachen für die körperliche und moralische Zerrüttung zusammen als irgendwo sonst. Diese Leute leben fast sämtlich in stinkenden Schreibstuben, in verpesteten Hörsälen, in kleinen vergitterten Zimmern. Sie verbringen ihren Tag gebeugt unter der Last der Geschäfte, erheben sich mit Tagesanbruch, um auf ihrem Platz zu sein, um sich nicht übers Ohr hauen zu lassen, um alles zu gewinnen oder nichts zu verlieren, um einen Menschen oder sein Geld zu fangen, ein Geschäft in Gang zu bringen oder zu verwirren, aus einem flüchtigen Umstand Nutzen zu ziehen, um einen Menschen hängen oder freisprechen zu lassen. Ihre Hast erstreckt sich bis herab auf ihre Pferde: sie hetzen sie zu Tode, überlasten sie und lassen auch ihre Beine vor der Zeit gebrechlich werden. Die Zeit ist ihr Tyrann, sie fehlt ihnen, sie entgleitet ihnen; sie können sie weder ausdehnen noch begrenzen. Welche Seele kann groß, rein, sittlich, großmütig bleiben, und folglich welches Gesicht sich schön erhalten in der verrohenden Ausübung eines Handwerks, das dazu zwingt, die Lasten der Volksnot sich vorzunehmen, sie zu zergliedern, abzuschätzen und Gewinn daraus zu ziehen? Diese Menschen stellen ihr Herz beiseite, wohin? . . . ich weiß es nicht; aber sie lassen es irgendwo, wenn sie überhaupt eines besitzen, ehe sie jeden Morgen auf den Grund der Sorgen hinabsteigen, die die Familien bedrängen. Für sie gibt es keine Mysterien, sie sehen die Rückseite der Gesellschaft, deren Beichtiger sie sind, und verachten sie. Da sie sich mit der Verderbnis messen, haben sie, was sie auch tun, Abscheu davor und werden traurig, oder sie verbinden sich mit ihr aus Ermattung, durch einen geheimen Ausgleich. Zuletzt werden sie notwendig abgestumpft gegen alle Empfindungen, sie, die durch Gesetze, Menschen, Einrichtungen dazu getrieben werden, gleich Dohlen auf den noch warmen Leichen zu räubern. Zu jeder Stunde prüft der Geldmensch die Lebenden, der Mann der Verträge die Toten, der Mann des Gesetzes das Gewissen. Gezwungen, unaufhörlich zu sprechen, ersetzen sie alle den Gedanken durch das Wort, die Empfindung durch die Phrase, und ihre Seele wandelt sich zum Kehlkopf. Sie nutzen sich ab und kommen moralisch herunter. Weder der Großkaufmann noch der Richter noch der Rechtsanwalt bewahren ihre geraden Sinne; sie empfinden nicht mehr, sie wenden nur noch Regeln an, die der Einzelfall Lügen straft. Fortgezogen von ihrem reißenden Dasein sind sie weder Gatten noch Väter noch Liebhaber. Sie gleiten gleichsam im Schlitten über Dinge des Lebens, und alle ihre Stunden sind getrieben durch die Geschäfte der großen Stadt. Wenn sie nach Hause kommen, müssen sie auf einen Ball, zur Oper, in eine Gesellschaft gehen, wo sie sich Kunden, Bekanntschaften, Beschützer suchen. Alle essen sie unmäßig, spielen, schlafen wenig, und ihre Gesichter quellen auf, werden schlaff und röten sich. So furchtbarer Verausgabung geistiger Kräfte, so vielfältigen moralischen Widersprüchen stellen sie nicht das Vergnügen gegenüber — das wäre zu blaß und brächte nicht den notwendigen Gegensatz — sondern die Ausschweifung: eine heimliche, entsetzliche Ausschweifung, denn sie verfügen über alles und bestimmen die Sittlichkeit der Gesellschaft. Ihr tatsächlicher Stumpfsinn verbirgt sich hinter irgendeiner Fachwissenschaft. Sie kennen ihr Handwerk, aber von allem anderen wissen sie nichts. Um ihre Eigenliebe zu retten, bezweifeln sie alles, bemäkeln kreuz und quer, erscheinen als Zweifler, wo sie in Wirklichkeit nichts sind als Einfaltspinsel, und ersäufen ihren Verstand in ihren endlosen Diskussionen. Fast alle nehmen sie ebenso leicht die gesellschaftlichen, literarischen, politischen Vorurteile an, um keine eigene Meinung haben zu müssen, wie sich ihr Gewissen durch das Gesetzbuch oder das Handelsgericht gedeckt fühlt. Sie brechen früh auf, um bedeutende Männer zu werden, aber sie entwickeln sich zur Mittelmäßigkeit und kriechen im Staub über die Gipfel der Welt. So zeigen ihre Gesichter denn auch jene scharfe Blässe, jene falschen Färbungen, die trüben, umränderten Augen und den schwatzhaften, sinnlichen Mund, die der erfahrene Beobachter als Symptome der geistigen Entartung er kennt und als Ausdruck jenes Kreislaufes der Gedanken innerhalb der Grenzen eines Sonderinteresses, der den Tod der schöpferischen Gehirnfähigkeiten und der Kraft, im großen zu sehen, zu verallgemeinern oder zu bekämpfen, bedeutet. Fast alle schrumpfen sie zusammen in dem feurigen Ofen der Geschäfte. Auch kann kein Mann, der sich von der zermalmenden Triebkraft dieser ungeheuren Maschinen hat fassen lassen, jemals groß werden. Ist er ein Arzt, so hat er entweder sich wenig mit der Medizin befaßt oder er ist eine Ausnahme, ein Bichat, der jung stirbt. Wenn er als Großkaufmann sich auf der Höhe hält, ist er fast Jacques Coeur. Hat Robespierre gearbeitet? Danton war ein Faulpelz, der abwartete. Aber wer hat jemals einen Danton oder Robespierre beneidet, wie hervorragend sie auch sein mögen! Diese vollkommenen Geschäftsleute ziehen das Geld an sich und stapeln es auf, um sich mit den aristokratischen Familien zu verbinden. Wie der Ehrgeiz des Arbeiters der gleiche ist wie der des Kleinbürgers, so herrschen hier auch die gleichen Leidenschaften. In Paris vereinigt die Eitelkeit alle Leidenschaften in sich. Der Typus dieser Klasse wäre etwa der ehrgeizige Bürger, der nach einem Leben voller Qualen und fortgesetzter Experimente in den Staatsrat kommt, wie eine Ameise durch eine Ritze schlüpft. Oder auch ein von Intrigen geräderter Zeitungsredakteur, den der König, vielleicht um sich am Adel zu rächen, zum Pair von Frankreich macht, der irgend ein Notar, der Bürgermeister seines Stadtbezirkes geworden ist, lauter Menschen, die von der Walze der Geschäfte plattgedrückt sind und, wenn sie überhaupt ankommen, gebrochen ans Ziel gelangen.

 



In Frankreich ist es Brauch, die alten Perrücken feierlich ins Amt zu setzen. Allein die größten Könige, Napoleon und Ludwig XIV., haben stets junge Leute gefordert, um ihre Pläne auszuführen.



Oberhalb dieser Sphäre lebt die Welt der Künstler. Aber selbst da sind die mit dem Stempel der Eigenart geprägten Gesichter gebrochen, ermattet, durchfurcht, wenn auch freilich auf eine edle Art. Überanstrengt von dem immerwachen Bedürfnis, hervorzubringen, von ihren kostspieligen Launen überholt, ermattet durch ihren unersätt

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