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Bobbie oder die Liebe eines Knaben

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Hier stießen Bobs Gedanken an eine unüberbrückbare Mauer. Sein unschuldvolles Gemüt ahnte nichts von den verbrecherischen Instinkten verderbter Menschen, von den bestialischen Trieben kranker Wüstlinge. Aber er hatte Geschichten von Zigeunern gelesen, die Kinder entführen, um sie für ihre Wandertruppen abzurichten. Bobs Klugheit sträubte sich gegen solche Vermutungen. Gertie war schließlich kein Baby mehr, das sich willenlos wegschleppen ließ. Und dann hätte man ja solche Zigeuner in dieser stillen, ruhigen Gegend auch bemerken müssen. Dann erinnerte er sich daran, daß vor kurzer Zeit die Zeitungen berichtet hatten, wie die Tochter eines amerikanischen Bankiers von Männern geraubt worden war, die für ihre Freigabe ein riesiges Lösegeld erpreßten. Bob mußte lachen. Solche Leute würden vorher wohl genau die Vermögensverhältnisse der Eltern erforschen und nicht das Kind einer armen Offizierswitwe rauben, die ein Lösegeld gar nicht zahlen konnte. Nein, wären es Erpresser, Mitglieder einer Verbrecherbande gewesen, dann hätten sie wohl ihn, den einzigen Sohn des reichen Fabriksbesitzers, geraubt, aber nicht die arme, kleine Gertie.

Der Morgen dämmerte heran und die ersten Sonnenstrahlen fielen schräge auf die dunklen Locken Bobs, als er endlich eingeschlafen war. Diesmal verfolgte ihn aber im Traum das holde Bild Gerties, neben der ein furchtbar häßlicher Kerl mit Pockennarben im grinsenden Gesicht auftauchte.

VIII. Kapitel. Der Fall Gertie Sehring

Sämtliche Morgenblätter beschäftigten sich schon mit dem Fall Gertie Sehring. Die meisten begnügten sich allerdings mit der polizeilichen Darstellung, die kurz und bündig das Verschwinden des kleines Mädchens sowie eine genaue Personsbeschreibung enthielt und jedem, der zur Aufklärung der Sache beitragen würde, eine hohe Belohnung zusicherte. Nur die »Morgenpost« machte das Verschwinden Gertie Sehrings zu einer Sensationsangelegenheit. In einem sehr lebhaft geschriebenen Artikel wies sie auf die vorhergegangenen zwei fast gleichen Fälle hin und schrieb:

»Es ist also ganz klar, daß in unserer Mitte ein menschliches Ungeheuer sein Unwesen treibt, das systematisch darauf ausgeht, Kinder zu rauben. Da es sich aber immer wieder um auffällig hübsche Kinder weiblichen Geschlechtes handelt, so dürfte der Zweck solchen Menschenraubes klar sein. Um so furchtbarer muß jeder Mutter in dieser Stadt der Gedanke sein, daß auch ihr Kind ein ähnliches Schicksal finden könnte. Der Fall der kleinen Sehring ist geeignet, die größte Beunruhigung unter den Müttern wie unter den Kindern hervorzurufen. Nur unsere verehrliche Polizei scheint sich nicht zu beunruhigen. Sie hat die Räuber der seit Monaten verschwundenen Mädchen nicht entdeckt, sie wird auch das Scheusal nicht finden, das Gertie Sehring verschleppt hat. Wir lenken hiermit die Aufmerksamkeit des Ministers des Innern auf die ersichtliche Unfähigkeit unserer Sicherheitspolizei, Verbrechen zu verhüten und Verbrecher zu entdecken.«

Ein zweiter Artikel behandelte den Fall Sehring vom Standpunkte des kriminalistischen Fachmannes. Alle möglichen Fälle gleicher Art, die sich hier und anderwärts zugetragen hatten, wurden darin aufgezählt und alle möglichen Motive zum Menschenraub erörtert. Der Verfasser kam zum gleichen Schlusse wie Bob.

»Hier kann es sich nicht um die Tat einer Erpresserbande handeln, da aus Frau Sehring, einer in dürftigen Verhältnissen lebenden Witwe, nichts herauszuholen ist. Nein, aller kriminalistischen Erfahrung nach ist das unglückliche Kind das Opfer eines Menschen geworden, dem der Besitz des Mädchens gewissermaßen Selbstzweck und nicht Mittel zum Zweck ist. Der Spielgefährte Gertie Sehrings, der dreizehnjährige Gymnasiast Bob Holgerman, Sohn des bekannten Fabriksbesitzers Holgerman, erzählt, wie die Polizei mitteilt, von einem geschlossenen Automobil, das er gesehen und gehört hat und das er mit gesundem Instinkt in Zusammenhang mit dem Verschwinden seiner kleinen Freundin bringt. Immerhin ein Fingerzeig für die Polizei. Allerdings muß noch eine Möglichkeit in Betracht gezogen werden, Immer wieder kommt es vor, daß Menschen in einen plötzlichen Traumzustand geraten, der sich in einen Wandertrieb umsetzt und sie veranlaßt, ohne Ziel und Zweck ihr Heim zu verlassen und ins Unbekannte zu pilgern. Gewöhnlich ist ein solcher Zustand, der jedem Pathologen wohlbekannt ist, mit dem zeitweisen oder dauernden Verlust des Gedächtnisses verbunden, so daß die Erkrankten ihren Namen, ihre Adresse, ihre ganze Vergangenheit nicht mehr kennen. Daß solche Unglückliche wochen-, monate-, ja jahrelang nicht zu finden sind, ist begreiflich. Sollte es sich so auch mit Gertie Sehring verhalten? Diese Möglichkeit ist auch ins Auge zu fassen, und es wird Sache der Polizei sein, zu ergründen, ob das Mädchen an Nervenstörungen schon gelitten hat oder sich in ihrer Familie Kranke dieser Art befunden haben. Gegen die Annahme, daß sich Gertie Sehring in einem gewissermaßen somnambulen Zustande entfernt hat, spricht indessen die Tatsache, daß solche Fälle bisher niemals unter Kindern, sondern ausschließlich unter Erwachsenen beobachtet wurden. Und auch das Verschwinden der neunjährigen Ruth Clemens und der elfjährigen Marie Peters beweisen fast zur Gewißheit, daß es sich hier nur um ein grauenhaftes Verbrechen handelt, um die Tat einer Bestie in Menschengestalt.«

Bob Holgerman las zu Hause beim Frühstück die »Morgenpost«, und eine ihm selbst unerklärliche Ruhe kam nach den Erschütterungen der vergangenen Nacht über ihn. Es gibt Physiologen, die behaupten, daß der Mensch nicht langsam und allmählich wachse und reife, sondern ruckartig, abschnittsweise. Wenn diese Theorie zutrifft, so machte an diesem Morgen nach dem Lesen der »Morgenpost« das innerliche Wachstum Bobs einen gewaltigen Sprung nach vorwärts. Er sah einen Weg und ein Ziel vor sich und wußte nun ganz genau, daß Gertie nur von einem gerettet werden konnte, der sein ganzes Dasein dieser Aufgabe widmen würde, und nur er dieser eine sein könnte. Und als nun ein Abgesandter des Detektivinspektors Crispin, der Kriminalbeamte Lorensen, sich anmeldete, um neue Verhöre und Nachforschungen zu veranstalten, da sah der im Dienst ergraute Mann sich einem kleinen Knaben gegenüber, der mit verblüffender Sicherheit alle Fragen beantwortete und seinerseits mit der logischen Verstandesschärfe eines Mannes Fragen stellte. Und der Beamte lachte weder, noch wunderte er sich, als ihm Bob zum Schlusse sagte:

»Herr Lorensen, ich bin überzeugt davon, daß die Polizei alles tun wird, was ihr möglich ist. Aber auch ich werde das tun, was mir möglich erscheint.«

Bob begab sich, als der Detektiv gegangen war, zu Frau Sehring hinüber, bei der er seine Mutter traf. Frau Sehring war krank, sehr krank, sie hatte die ganze Nacht an Herzkrämpfen gelitten, und Frau Holgerman ließ kurz entschlossen eine Pflegerin kommen, die bei der verzweifelten Mutter zu wachen und alle häuslichen Arbeiten zu besorgen hatte.

Der Knabe war von dem Anblick der bleichen Frau, deren blutleere Lippen nervös zuckten, tief ergriffen. Er weinte aber nicht mit ihr, wie er es noch gestern getan hatte, sondern seine eiserne Ruhe verließ ihn nicht; er hielt sich auch nicht lange an dem Krankenbette auf, ging vielmehr bald wieder.

Im Park herrschte unter den Kindern, die ja alle Gertie wenigstens von Angesicht kannten, die größte Aufregung, ebenso unter den begleitenden Müttern oder Erzieherinnen und Bob wurde umringt und weidlich ausgefragt. Aber er entzog sich rasch allen Kundgebungen und suchte den Invaliden auf, der ihm voll ehrlichen Mitgefühles die schwielige Hand entgegenstreckte und ihn mit »junger Herr« ansprach. Bob ging neben dem Alten schweigend einher, bis sie dem Kinderschwarm entronnen waren, dann sagte er ernst:

»Herr Wächter, ich werde nun selbst nach Gertie suchen. Und ich bitte Sie, helfen Sie mir dabei.«

»Gott soll mich strafen, junger Herr, wenn ich es nicht gerne tun will; nur sagen Sie mir, was ich alter Mann dabei machen kann?«

»Nun, das ist gar nicht so wenig. Bitte, beobachten Sie scharf alle hübschen, kleinen Mädchen, mehr aber noch die Leute, die diese Mädchen beobachten. Sehen Sie, der Mann, der Gertie geraubt hat, muß sich doch vorher genau nach allem erkundigt haben. Sonst hätte er das mit dem Anruf des Professor Brummel nicht ausführen können. Also hat er Gertie sicher schon oft vorher gesehen und sie scharf beobachtet. Vielleicht, daß er es noch auf andere Mädchen abgesehen hat. Es muß uns also jeder verdächtig erscheinen, der kleine, hübsche Mädchen mustert und beobachtet.«

»Junger Herr, das klingt sehr einleuchtend, und der Polizeimann, der in der Gegend die Runde macht, hätte es nicht besser sagen können. Wehe also dem Kerl, der meine Mädchen hier im Park mit Blicken oder Worten belästigt. Mit dem Krückstock hau‘ ich ihm, ohne viel zu reden, eins über den Schädel, daß er glaubt, eine Granate hätte ihn getroffen.«

»Nein, lieber Herr Wächter, das dürfen Sie nicht tun, denn vielleicht treffen Sie einen Unschuldigen, oder aber, wenn es der Schuldige ist, verderben Sie damit alles. Nachgehen müssen Sie ihm, oder, da Sie das nicht können, ihm einen fixen Jungen nachschicken, dem Sie Geld dafür versprechen. Das zahlt dann schon mein Vater.«

Bei dieser Verabredung blieb es vorläufig, denn eben wurde Bob vom Diener Eduard geholt. Ein Reporter von der »Morgenpost« war gekommen, der unbedingt den Spielgefährten Gerties sprechen wollte. Und so wurde denn Bob die Ehre zuteil, in aller Form »interviewt« zu werden, und zwar so gründlich und liebevoll, daß ihn jeder Tenorist darum beneidet hätte. Und schon die Abendausgabe des Blattes veröffentlichte die Unterredung mit Klein-Bobbie, wie er genannt wurde. Dadurch erst erfuhr die Öffentlichkeit auch die Geschichte von dem fingierten Telephonanruf des Professor Brummel, die die Polizei nicht bekanntgegeben hatte. Und nun war das Interesse der ganzen Stadt für die Angelegenheit erweckt und trotz des heftigen Widerspruches Herrn Holgermans wurde Bob sogar für ein illustriertes Wochenblatt photographiert, um neben Gertie, deren Bild Frau Sehring hatte hergeben müssen, abgebildet zu werden.

 

Frau Holgerman hatte nach Tisch eine ernste Unterredung mit ihrem Gatten.

»Bob ist außer Rand und Band,« sagte sie. »Das Verschwinden des armen Mädchens ist nicht nur ein unsagbares Unglück an sich, es kann auch für unseren Jungen noch zum Unglück werden. Stelle dir nur vor, Bob hat seiner Sparbüchse, in die er seit fünf Jahren sammelt, das Geld entnommen und mir kurz und bündig mitgeteilt, daß er von heute ab selbständig Nachforschungen nach Gertie anstellen werde. Ich wollte ihm diesen Unsinn ausreden, aber der Junge machte ein so starres, verzweifeltes Gesicht, daß ich ordentlich erschrak. Zum ersten Male hat er sich einfach gegen mich aufgelehnt und mir mit geballten Fäusten, am ganzen Körper zitternd, gesagt: ›Mama, wenn ihr mich nicht tun laßt, was ich tun muß, dann macht ihr mich so unglücklich, daß ich gar nicht mehr leben mag.‹ Nun, daraufhin mußte ich natürlich nachgeben und ihm sogar versprechen, auf dich einzuwirken, damit du ihm nichts in den Weg legst.«

Herr Holgerman ging mit langen Schritten erregt auf und ab. »Was du mir da sagst, erschreckt mich, obwohl ich dem Jungen nachempfinden kann. Diese Zuneigung zu Gertie steckt tief in ihm, er leidet mehr als wir ahnen, und tatsächlich bleibt mir, wenn ich nicht Unheil hervorrufen will, nichts übrig, als ihn gewähren zu lassen, solange es eben geht. Ich verlasse mich auf seine Jugend. Ein paar Tag wird er voll Feuereifer irgendwelche eingebildete Spuren verfolgen, dann erlahmen und, wenn wir im August an die See fahren, nach und nach vergessen.«

Frau Holgerman schüttelte den Kopf und ihre Augen wurden feucht. »Ich glaube nicht, daß dies so einfach sein wird. Ich fürchte sehr, daß es mit der fröhlichen Jugend für Bobbie vorbei ist! Aber um Himmels willen, denkst du denn ernstlich daran, daß Gertie nicht aufgefunden werden könnte? Das wäre furchtbar und würde unmittelbar den Tod ihrer Mutter zur Folge haben!«

Der Fabrikant zog die Schultern hoch. »Wenn man ruhig über den Fall nachdenkt, so kann man kaum noch Hoffnung haben. Das Mädchen ist jetzt seit vierundzwanzig oder mehr Stunden in der Gewalt eines Menschen. Entweder sie weilt nicht mehr unter den Lebenden oder – aber das ist nicht auszudenken! Vielleicht ist es besser, wenn sie tot ist, als wenn sie noch lebt! Denn das ist doch klar, zum Zeitvertrieb wurde sie nicht geraubt. Schreckliches muß dem armen Kinde widerfahren sein!«

Frau Holgerman begann still zu weinen. »Liebster, das ist alles so grauenhaft! Wollte Gott, du hättest nicht recht, und Bob würde erreichen, was der Polizei nicht zu gelingen scheint.«

IX. Kapitel. Bob macht sich selbständig

Bob hatte unterdessen ein Autobus bestiegen und war nach einem im Mittelpunkt der Stadt gelegenen Garten gefahren. Er hatte überlegt und sich gesagt: »Der alte Wächter in unserem Park wird nun aufpassen und das kann nicht schaden. Viel Zweck mag es aber auch nicht haben. Denn es ist nicht anzunehmen, daß der Schurke, der Gertie gestohlen hat, wieder in diesen Park gehen wird. Nein, wenn er andere Kinder rauben will, so wird er sich anderwärts umsehen. Also muß ich alle Gärten der Stadt absuchen.«

Im Stadtpark angelangt, schritt nun Bob bedächtig einher, sah jedem Menschen ins Gesicht und horchte hier- und dorthin. Auf dem Spielplatz blieb er stehen. Auch hier tollten Kinder umher, auch hier herrschte das lustige und aufgeregte Treiben, das immer dort entsteht, wo schulfreie Kinder zusammentreffen, um zu spielen, zu raufen oder auch nur herumzujagen. Bob wurde sehr nachdenklich. Da spielen nun Mädchen und Buben und wissen nicht oder haben es schon vergessen, daß wenige Meilen von ihnen entfernt ein anderes kleines Mädchen am hellen Tage geraubt wurde und jetzt wohl weint und jammert. Professor Brummel hat wohl recht, wenn er immer sagt, daß das Leben nicht heiter, sondern sehr ernst und oft auch sehr häßlich sei. Jäh wurde der Knabe aus seinen pessimistischen Gedanken gerissen. Der Ruf: »Gertie, Gertie, du kommst dran,« ließ ihn zusammenfahren. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse hinauf und er schoß dorthin, von wo der Ruf erklungen war. Aber das Mädchen, das im Kreise von anderen ihren Ball schleudern sollte, war wahrhaftig nicht seine Gertie. Ein plumpes, dickes Kind von etwa acht Jahren stand da, machte dumme Glotzaugen und warf seinen Ball so ungeschickt, daß er ins Gras flog. Halb belustigt, halb ärgerlich musterte Bob sie vom Kopf bis zu den Füßen. Wirklich ein grotesker Anblick. Das kleine Mädchen drohte im eigenen Fett zu ersticken, und Bob stellte ingrimmig fest, daß ihre Waden ungefähr den Umfang von der Taille seiner Gertie hätten. Er war aber nicht der einzige, der das kleine Ungeheuer anstaunte. Neben ihm stand plötzlich ein rothaariger Bursche mit frechem Gesicht, schmutzig und schäbig anzusehen, und mit abscheulichen Tätowierungen, die an den Handknöcheln begannen, um sich wahrscheinlich bis zum Oberarm fortzusetzen. Der Bursche schielte noch dazu, und sein breiter Mund, der jetzt grinste, ließ abscheuliche schwarze Zahnstummel sehen. Er bemerkte, wie ihn Bob musterte, und sagte hämisch und breit lachend:

»Das wäre ein so übler Bissen nicht, das Mädel da! Fett genug ist sie, wie ein Ferkel vor der Schlachtung.«

Entsetzt hatte Bob die Worte gehört und ein Grauen beschlich ihn. Wie dieser Kerl von Menschen sprach! Wie roh und widerwärtig er lachte und grinste! Und plötzlich schoß ein furchtbarer Gedanke durch seinen Kopf: Wäre es möglich – Bob erinnerte sich, vor einiger Zeit einmal gesehen zu haben, daß irgendwo in einer Großstadt, in der der Hunger groß war, ein Kind vom Elternhaus fortgelockt und aller Wahrscheinlichkeit nach geschlachtet und gegessen worden war. Brechreiz und furchtbares Angstgefühl stieg in dem Knaben auf. Noch stand der Kerl neben ihm und sagte: »Donnerwetter, so ein Fettkloß, nein, so was!« Dann ging er pfeifend weiter, aber fast unbewußt folgte ihm Bob in einiger Entfernung.

Kreuz und quer schlenderte der Rothaarige durch die Stadt, Bob blieb hinter ihn. Nach einiger Zeit schien der Verfolgte zu fühlen, daß jemand ihm auf den Fersen sei, und sah sich um. Aber Bob war flink, er sprang rasch hinter einen vorbeifahrenden Milchwagen und wurde nicht gesehen. Nun nahm er mit größter Vorsicht die Verfolgung auf, immer bereit, in ein Haustor zu springen, falls der Rothaarige sich wieder umsehen sollte.

Nach etwa einer halben Gehstunde überquerte der Bursche wieder die Straße und nahm nun seinen Weg nach einem häßlichen, verwahrlosten Stadtviertel, von dessen Vorhandensein Bob bisher nichts geahnt hatte. Zerlumpte Kinder spielten auf offener Straße, aus den hohen Häusern drang ein entsetzlicher Geruch, überall hingen aus den Fenstern Wäschestücke, die angeblich, aber nicht ersichtlich gewaschen worden waren; die Frauen, die man hier sah, trugen keinen Hut, sondern Kopftücher, und Gestalten tauchten auf, noch häßlicher und schäbiger als der Rothaarige. Dieser verschwand nun in einem engen Haustor, das so finster war, daß es ihn förmlich verschluckte. Bob wartete atemlos einen Augenblick, dann folgte er. Im Haustor standen Burschen und Männer, die den feingekleideten, schönen Jungen neugierig musterten. Einer lachte derb und wollte Bob mit den Worten: »Na, kleiner Prinz, was machst du denn hier?« bei den Haaren ziehen. Aber Bob sah ihn nur groß an und sagte: »Kümmert Sie nichts«, und folgte den verhallenden Schritten des Rothaarigen. Der war aber nicht die vom finsteren Hausflur rechts aufwärts führende Treppe hinaufgegangen, sondern an ihr vorbei nach einem kleinen Hof, in dem es entsetzlich stank. Bob war ein mutiger kleiner Junge, aber trotzdem pochte sein Herz doch schrecklich und er mußte fest und innig an Gertie denken, um nicht auf und davon zu laufen, sondern dem Burschen nachzuschleichen. Der hatte eine kleine Türe mit einer Glasfüllung, die in den Hof mündete, aufgerissen und war pfeifend in einen Raum getreten.

X. Kapitel. Bob blamiert sich

Der Hof war menschenleer, und die Leute draußen vor dem Hause waren gerade im Begriffe, mit einem Frauenzimmer ihre Spässe zu treiben, so daß sich niemand um den Jungen kümmerte. Bob hielt den Atem an und ging vorsichtig bis zu der Türe, hinter der der Bursche verschwunden war. Die Glasfüllung bestand wohl ursprünglich aus undurchsichtigem Milchglas, aber es war zerkratzt, so daß sich hier und dort ein Blick in das Innere werfen ließ. Ängstlich sah sich Bob um. Niemand war zu sehen, nur ein altes Mütterchen saß an einem der Hoffenster im zweiten Stock und gab sich irgendeiner Tätigkeit hin. Wieder hätte Bob gern kehrtgemacht; aber nein, er mußte wissen, was hinter jener Türe vorging. Er trat dicht an die Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen und preßte das Auge an eine der zerkratzten Stellen. Drinnen war ein Licht angezündet worden, und was Bob nun sah, hätte ihm beinahe einen Schrei entlockt. Der rote Geselle stand über einen Koffer oder eine Kiste gebeugt und zog ein undefinierbares Etwas in die Höhe. War es ein Kleidungsstück oder ein Fetzen? Bob hätte es nicht sagen können. Er sah nur an diesem Ding einen rötlichen Schimmer, einen Schimmer von Blut.

Dem Knaben wurde schwindelig, kalter Schweiß trat auf seine Stirne, die Knie zitterten ihm und das Rückgrat steifte sich vor Angst und Schrecken. Und als noch dazu aus dem geheimnisvollen Raum ein leises Wimmern an das Ohr des Knaben drang, da war es um Mut und Selbstbeherrschung geschehen. Er drehte sich um, lief durch den Hof, rannte vor dem Haustor geradezu in die Gruppe von Männern und Frauen hinein und raste in tollen Sätzen die Straßen entlang, bis er in freundlichere Gegenden kam. Dort erst blieb er stehen, schöpfte tief Atem und überlegte. Rasch zur Polizei, das war sein erster, klarer Gedanke! Dort zu dem Inspektor Crispin, von dem Papa gesprochen hatte, oder zu dem Detektiv Lorensen, der bei ihm gewesen war, und ihnen alles erzählen!

Ja, aber wo war diese Polizei, wo konnte man Herrn Crispin, wo Herrn Lorensen treffen? Die Antwort fand sich sofort, da eben vor Bob ein riesiger Polizist auftauchte, der gähnend und gelangweilt seine Runde machte. Bob ging auf ihn zu, zog höflich die Mütze und fragte, wo wohl die Kriminalpolizei, bei der Herr Crispin sein Amt habe, wäre.

Der Riese sah gemütlich auf den schönen Knaben hinab, strich ihm mit seiner Pranke die vom Schweiß feuchten Locken, nannte ihm die Straße und die Autobuslinie, die ihn geradewegs zum Polizeipräsidium bringen würde, und bemerkte dann:

»Was suchen Sie dort, kleiner Herr? Hat Sie vielleicht ein Kamerad verbeult, den Sie deshalb einsperren lassen wollen?«

Bob zog die Lippen hoch, sah den Schutzmann zwar nicht von oben herab, dafür aber von unten herauf an und sagte, während er den Kopf zurückwarf: »Nein, Verehrtester, mich verbeult kein Junge, und wenn er es täte, so ließe ich ihn nicht einsperren, sondern würde ihn gründlich verdreschen!«

Verwundert sah der Blaurock dem Knaben nach: »Donner noch mal, ein verdammt fixer Junge das, und den Mund auf dem rechten Fleck.«

Es war nicht so einfach, zu dem Inspektor der Kriminalpolizei dieser Millionenstadt zu kommen. Unten vor dem großen, weit ausgedehnten Gebäude stand ein Polizeimann, der Bob kurz angebunden den Weg zu der Abteilung 8 der Kriminalpolizei wies. Dort standen vor der Tür für den Verkehr mit dem Publikum wieder zwei Schutzleute, die den Knaben nach seinem Begehr fragten. Bob hatte aber keine Lust, hier schon mit seinem Geheimnis herauszurücken, sondern erklärte sehr einfach, er müsse den Inspektor, Herrn Crispin, selbst sprechen. Daraufhin durfte er eintreten und dachte nun vor dem großen Herrn zu stehen! Dem war aber nicht so, sondern er kam erst in ein Zimmer, in dem mindestens ein halbes Dutzend Beamte umhersaßen und rauchten, daß die Luft blau war. Bob erklärte abermals, Herrn Crispin persönlich sprechen zu wollen, worauf er endlich nach dem benachbarten Zimmer verwiesen wurde. Hier saß nur ein Herr, aber auch der war nicht der Inspektor, sondern sein Vertreter.

Artig verbeugte sich Bob und begann: »Herr Inspektor Crispin – –«

Der Beamte winkte ab. »Bin ich nicht, was wünschen Sie von ihm?«

»Ich muß ihn persönlich sprechen.«

»Gibt es nicht, könnte jeder sagen. In welcher Angelegenheit?«

Bob warf seine dunklen Locken zurück und sagte, ohne sich einschüchtern zu lassen: »Ich habe Wichtiges wegen der verschwundenen Gertie Sehring auszusagen!«

Der Beamte erinnerte sich, daß der Inspektor außerordentlich an dieser peinlichen Angelegenheit interessiert war, erhob sich, verschwand hinter der mit dunkelgrünem Tuch ausgeschlagenen Doppeltüre und kam gleich wieder mit der einladenden Bemerkung:

 

»Treten Sie näher, junger Mann, aber fassen Sie sich kurz, der Herr Inspektor hat viel zu tun.«

Der Inspektor schien aber gar nicht so viel zu tun zu haben, sondern er saß breitspurig in einem sehr bequemen Lederstuhl, hielt eine eben erschienene Nummer der »Abendpost« vor sich und las ersichtlich geärgert einen Artikel, der sich wieder mit dem Verschwinden Gerties beschäftigte. Und Bob konnte rasch die rot angestrichenen Zeilen mitlesen:

»Die Unfähigkeit unserer Polizei übersteigt alle Grenzen und wird noch dazu führen, daß Menschenraub am hellichten Tage zu den gewöhnlichsten Dingen gehört.«

Nun aber wandte sich Herr Crispin dem Knaben zu, musterte ihn mit einem scharfen Blick, streckte ihm, von der Anmut des Kindes bewegt, die Hand entgegen und sagte freundlich: Sie sind unzweifelhaft Bob Holgerman, der Sohn des Fabriksbesitzers, der über das Verschwinden seiner armen kleinen Freundin so kluge und klare Auskunft gegeben hat.«

»Jawohl, der bin ich,« erwiderte tief errötend Bob, »und nun will ich Ihnen erzählen, was ich erlebt habe.«

Zuerst ein wenig befangen, dann immer freier, erzählte Bob, wie er den Entschluß gefaßt habe, auf eigene Faust nach Gertie zu forschen, dabei in den Stadtpark gekommen sei und dort den rothaarigen Kerl gesehen und dessen entsetzliche Äußerung über das dicke Mädchen gehört hätte, ihn verfolgt und sein geheimnisvolles Treiben in dem Hofraum beobachtet habe.

Schweigend, aber ersichtlich sehr interessiert hatte Herr Crispin zugehört, drückte nun auf den Taster und gab dem eintretenden Beamten den Auftrag, Wachtmeister Lorensen zur Stelle zu schaffen. Dann zu Bob:

»Mein lieber Junge, Sie sind ein tüchtiger kleiner Kerl, allen Respekt vor Ihrer Energie, aber ich glaube, Sie sind auf dem Holzweg. Meinen Sie wirklich, daß ein Menschenfresser und Kindermörder in einem öffentlichen Garten solche Bemerkungen machen wird? Es sei denn, wir hätten es mit einem Irrsinnigen zu tun, was ja immerhin möglich wäre. Und dann glaube ich an diese Menschenfresserei nicht. Teuer ist es ja bei uns, aber so groß ist die Not nicht, daß man zu Menschenfleisch greifen müßte. Da kommen doch zuerst die Hunde und die Katzen an die Reihe, an denen es bei uns wahrhaftig nicht fehlt. Aber immerhin – natürlich wird der Sache sofort nachgegangen.«

Der Detektiv, oder wie es eigentlich heißt, der Kriminalwachtmeister, Herr Lorensen, trat ein, begrüßte den Knaben und wurde von seinem Vorgesetzten kurz und knapp über das unterrichtet, was Bob erzählt hatte.

»Die Sache ist nun in guten Händen, junger Holgerman, Sie geben Herrn Lorensen die genaue Adresse des verdächtigen Hauses, und er wird sich mit zwei Beamten sofort dorthin begeben.«

Purpurröte überzog das Gesicht Bobs. Es fiel ihm jetzt erst ein, daß er weder den Namen der Straße noch die Hausnummer wußte. Wie bin ich dumm, dachte er erschreckt, es ist doch nicht so einfach, auf alles aufzupassen. Er faßte sich aber, sah den Chef mit flehenden Augen an und bat:

»Ich bitte sehr, darf ich mitgehen? Es ist vielleicht ganz gut so, denn wer weiß, am Ende hat der Rote jetzt eine Verkleidung, in der man ihn nicht so leicht erkennt.«

Belustigt warf Herr Crispin seinem Beamten einen Blick zu. »Meinethalben gehen Sie mit, mein Junge, aber eines will ich Ihnen sagen: Masken und Verkleidungen kommen gewöhnlich nur in Romanen vor. In Wirklichkeit macht sich der, der einen falschen Bart oder dergleichen trägt, auf den ersten Blick verdächtig und würde wahrscheinlich schon auf der Straße, auch wenn er gar nichts angestellt hat, nur wegen des falschen Bartes verhaftet werden.«

Unten gestand Bob Herrn Lorensen, mit dem er vor den zwei anderen Beamten, die mitgingen, vorausschritt, daß er den Namen der Straße nicht beachtet habe, aber den Weg sicher finden werde. Und richtig waren sie nach kurzer Fahrt mit dem Autobus dorthin gekommen, wo eine Stunde vorher Bob ausgestiegen war. Und nach weiteren zehn Minuten standen sie vor dem häßlichen Hause mit dem finsteren Eingang. Nur daß jetzt niemand unten auf der Straße herumlungerte. Lorensen gab den zwei Polizisten den Auftrag, zurückzubleiben und ihm auf einen Pfiff mit der Polizeipfeife hin zu Hilfe zu eilen. Er ging dann mit Bob durch den engen Korridor über den halbdunklen Hof, in dem es noch immer nicht besser roch. Bob wies auf die Türe mit der Glasfüllung.

»Hier war es.«

Ohne zu zögern, drückte Lorensen auf die verrostete Klinke, und sofort flog die Türe kreischend auf. Ein rasselndes Schnarchen begrüßte sie. Auf einer Matratze lag der Rothaarige und schlief den Schlaf des Gerechten, der etliche Schnäpse zu sich genommen hat. Er erwachte erst, als der Beamte, an den sich Bob nun doch dicht herangemacht hatte, den fast stockfinsteren Raum mit seiner Taschenlampe erhellte.

Mit einem wüsten Aufschrei richtete er sich zuerst halb auf, um dann auf die Füße zu springen.

»Wer ist da, was gibt es?«

»Nichts,« erwiderte Lorensen ruhig, »ich bin nur von der Polizei geschickt, um zu sehen, was Sie da treiben.« Dabei hielt er dem Schlaftrunkenen seine Blechmarke unter die Nase.

»Das geht die Polizei nichts an,« knurrte der, »ich bin ein redlicher Mensch, der sich sein Brot auf ehrliche Weise verdient.«

Lorensen ließ sich aber nicht irremachen. Er entzündete eine halb zerbrochene Petroleumlampe, die auf einem drei viertel zerbrochenen Stuhle stand, und widmete sich sofort dem Inhalt der Kiste, auf die Bob hinwies. Der Beamte beugte sich über die Kiste und zog etwas Haariges, Feuchtes heraus. Mit einer Gebärde des Ekels schleuderte er das Zeug wieder in die Kiste zurück. Was er da ergriffen hatte und was noch in einigen Dutzend Stück in der Kiste lag, war nichts anderes als ein noch blutiges Kaninchenfell. In diesem Augenblick ertönte auch das Quietschen wieder, das Bob vorhin so erschreckt hatte. Ein Blick in die andere Ecke des Raumes erklärte auch diesen Laut. Dort befand sich ein Kaninchenstall, und es war eine hungrige Kaninchenmutter im trauten Kreise ihrer Jungen, die entweder ihrem Unwillen oder ihrem Appetit dadurch Ausdruck gab, daß sie einen quietschenden Laut von sich gab. Im allgemeinen pflegen sich Kaninchen nicht laut zu unterhalten, aber in solch trostloser Umgebung, dicht neben den Fellen ihrer getöteten Rassegenossen, darf man ihnen eine kleine Ausschreitung nicht übelnehmen.

Und nun fand alles rasch seine Erklärung. Der rothaarige Bursche, seines Zeichens ein stellenloser Tischler, züchtete Kaninchen in seiner Stube, schlachtete sie höchst eigenhändig, verkaufte das Fleisch als Hasenbraten und trocknete in der Kiste die Felle, um schließlich auch die an einen Hutmacher für ein geringes zu veräußern. Eine in der Nachbarschaft eingezogene Erkundigung bestätigte diese Aussagen, und mit einer leichthin vorgebrachten Entschuldigung trollten sich Detektive von Beruf und Detektive aus Verzweiflung von dannen. Der Rothaarige aber schüttelte sein rotes Haupt hinter ihnen und seufzte: »Ich möchte nur wissen, wo ich den hübschen Bengel schon einmal gesehen habe.«

Ernüchtert, todmüde, unendlich niedergedrückt und beschämt kam Bob nach Hause und konnte sich gerade noch die Hände waschen, als auch schon Herr Holgerman nach Hause kam und das Abendessen aufgetragen wurde.

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