Die freudlose Gasse

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Eine Familie im Abstieg.

Wiens Entwicklung ist unorganisch, ohne Ziel und Zweck vor sich gegangen. Wien ist wohl die einzige Großstadt, die keine City, kein Wohnviertel hat, sondern ein Kunterbunt von Villen, Luxusbauten, Palästen, Mietkasernen, verfallenen Häusern, Baracken und Armeleutequartieren bildet. In ein und derselben Straße hausen Millionäre und Proletarier, stehen uralte niedrige Häuser mit Gärten und protzige fünfstöckige Talmipaläste mit Lift und Dampfheizung, Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert und abscheulich moderne Miethäuser mit ein- und zweizimmerigen Wohnungen für kleine Leute.

In dieser Beziehung repräsentiert die Melchiorgasse die ganze Stadt. In ihr leben Markthelfer und Gemüsehändler, die um zwei Uhr morgens mit ihren Karren alte Häuser, hinter denen endlose Höfe mit Stallungen sich befinden, verlassen, um auf den Markt zu fahren, in ihr rollen fürstliche Automobile vor die hohen geschlossenen Portale feudaler, wenn auch von außen unscheinbarer Paläste, es gibt da Zinshäuser aus der Gründerzeit und moderne Bureaugebäude, die keine Wohnungen enthalten.

Genau gegenüber dem Haus Nummer 55, in dem sich der noch immer unaufgeklärte Mord ereignete, stoßen drei Häuser aneinander, die drei Welten verkörpern. Ein kleines, ebenerdiges Haus mit winzigen Fenstern, in die man, wenn sie nicht immer verschlossen wären, bequem von der Straße aus einsteigen könnte, und nebenan ein vierstöckiges Haus, das erbarmungslose Habgier und Profitwut erbaut haben, in jedem Stockwerk acht Wohnungen mit einem gemeinsamen Abort und einem Wasserauslauf auf dem Korridor. Jede Wohnung nur aus einer finsteren Küche und einer anstoßenden Kammer bestehend. Und Küche wie Kammer mit Menschen gefüllt, die in alten, wackeligen Betten aus braunem Tannenholz, auf Strohsäcken und halb demolierten Diwans schlafen. Das sind die Häuser, die dem Hausherrn im Frieden bis zu fünfzehn Prozent des angelegten Kapitals trugen, mehr als doppelt so viel also, wie die Häuser, die für die Wohlhabenden bestehen.

Das andere, das kleine Häuschen, bietet, wenn man den Toreingang passiert hat, Überraschungen. Man kommt in einen großen, rechteckigen Hof mit einem alten, nicht mehr in Betrieb befindlichen Ziehbrunnen und einem Kastanienbaum. Links und rechts ist der Hof von Türen und Fenstern flankiert, die in kleine, aber nicht unbehaglich erscheinende Wohnungen führen. Und verläßt man den Hof nach rückwärts durch ein zweites Tor, so kommt man wieder in einen Hof, und von diesem in einen dritten. Überall Wohnungen, Werkstätten, Ställe, feuchte Wäsche zum Trocknen aufgehängt, Geranien und Levkojen in zerbrochenen Töpfen vor den Fenstern, Lärm, Hämmern, Musik aus heiseren Grammophonen, Kinderweinen, Zanken, mitunter ein gellender Aufschrei, das Dröhnen dumpfer Schläge, rauhes Lachen, ein sentimentales Lied mit obszönem Kehrreim.

Eine kleine Stadt für sich, ein ganzes Viertel der Armut und sozialen Zurückgebliebenheit.

Das vierstöckige Haus mit den erbärmlichen Wohnungen trägt die Nummer 54, das kleine mit den vielen Höfen 56 und neben diesem liegt das Haus Nummer 58, das wieder einen anderen Typus repräsentiert. Es stammt aus den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, einer Zeit also, da noch recht solid gebaut wurde, die Zimmer groß, hoch, die Küchen geräumig, die Kachelöfen breit und behaglich waren. So dick und massiv waren damals die Mauern, daß diese Häuser die Entwicklung der Gasbeleuchtung nicht hatten mitmachen können, da es kaum möglich gewesen wäre, die Rohre einzuziehen. Erst kurz vor dem Krieg hatte der Hausherr, der einer alten Wiener Familie angehörte und ein wenig Herz für seine Parteien besaß, elektrisches Licht einführen lassen.

Jedes der drei Stockwerke beherbergte nur drei Wohnungen mit je drei Zimmern, von denen eines sehr groß war, einer geräumigen Küche mit einer anstoßenden Kammer für das Dienstmädchen, einer in das Vorzimmer einmündenden Speisekammer und einem unverhältnismäßig großen Toiletteraum. Die Namen auf den Türschildern bewiesen, daß die neue Zeit hier noch nicht ihren Einzug gehalten hatte. Ein Generalmajor a. D., ein Hofrat aus dem Verkehrsministerium, ein pensionierter Sektionsrat, ein Privatgelehrter und ein aktiver Universitätsprofessor – das waren die ersichtlich soliden Bewohner eines Hauses, das bescheidenen Wohlstand auszuatmen schien. Die bittere Armut, die hinter den starken Mauern herrschte, die hoffnungslose Verzweiflung über eine Zeitentwicklung, der man nicht gewachsen war, kannte nur der Eingeweihte, in erster Linie der alte Hausmeister und dessen redselige brave Frau, die beide mit Schrecken miterlebt hatten, wie ihre "Herrschaften" in einem Zeitraum von nicht einmal zehn Jahren in abgrundtiefes Elend geraten waren. Und immer wenn der Althändler wieder aus irgendeiner Wohnung einen Perserteppich, eine köstliche Biedermeiergarnitur, eine seltsame Standuhr, ein Gemälde oder gar eine Kiste mit Büchern fortschleppte, seufzte der Hausmeister tief auf, stieß den braunen Daumen in den Pfeifenkopf und sagte zu seiner Frau:

"Du, Alte, der Hunger geht um im Haus."

Im letzten, dem dritten Stockwerk, betrat abends ein junges schlankes Mädchen die Wohnung, deren Türschild den Namen Alois von Rumfort, k. k. Regierungsrat, trug. Das "von" war allerdings durchgestrichen, ebenso das "k. k." und dem Regierungsrat war mit Tinte ein a, D. hinzugefügt. Aber auch das stimmte nicht, denn der Regierungsrat Alois Rumfort war schon vor einem Jahre gestorben.

Es war ein abscheulicher, naßkalter Herbsttag, die weichen, großen Schneeflocken verwandelten sich, bevor sie noch den Erdboden erreichen konnten, in Wasser, und das junge Mädchen triefte von Nässe. Obwohl es sich die Schuhe auf dem zerrissenen Fußteppich vor der Wohnungstüre abgestreift hatte, verbreitete es im Vorzimmer und dann im Wohnzimmer, in dem sämtliche Familienmitglieder versammelt waren, feuchte Flecken auf dem Fußboden.

Vier Augenpaare wandten sich erwartungsvoll, gespannt dem jungen Mädchen zu als es mit einem müden, leisen "Guten Abend" das Zimmer betrat. Am ungeheizten Ofen lehnte ein alter, großer Herr mit schlohweißem Haar, buschigen Augenbrauen und roten Backen, bei dem runden Tisch saß eine blasse Frau in mittleren Jahren mit vergrämten Zügen und leicht geröteten Augen über eine Flickarbeit gebeugt, während ein Knabe von elf Jahren und ein Mädchen von dreizehn Jahren mit Schulaufgaben beschäftigt waren. Und diese vier Personen sahen bange auf, als Grete das Zimmer betrat.

Grete kam den Fragen voraus. Während sie die nasse, schwarze Jacke und den ärmlichen, zerdrückten, von Wasser triefenden Hut ablegte, sagte sie lächelnd:

"Gott sei Dank, ich habe eine Monatsgage als Vorschuß bekommen. Sechshunderttausend, sie werden mir in Raten von hunderttausend monatlich abgezogen." Und mit einem Seufzer: "Leicht war es nicht! Ein gemeiner Mensch ist der Herr Wöß!"

Aus einem abgerissenen schwarzen Ledertascherl zog Grete die sechs Banknoten, legte vier von ihnen auf den Tisch und sagte zögernd:

"Ich werde jetzt was Ordentliches zum Nachtmahl einkaufen und auch Brennholz mitbringen, man friert sich ja hier im Zimmer die Seele aus dem Leib. Zur Frau Greifer nebenan werde ich auch gehen und ihr die Fünfzigtausend geben, die ich ihr noch schuldig bin."

Frau Rumfort war aufgestanden, streichelte der Tochter die blassen Wangen, wischte sich Tränen aus den Augen und flüsterte weinerlich:

"Mein armes Kind, alles lastet auf dir! Wenn der arme Papa noch leben würde, wäre es anders. Bring‘ recht viel Brot, Gretl, die Kinder haben so viel Hunger. Hat der Herr Wöß sich lange gespreizt, bevor er den Vorschuß bewilligt hat?"

"Frag‘ nicht, Mama! Ich will lieber gar nicht daran denken, das alles ist ja so ekelhaft. – – Also, ich werde gleich drei Laib Brot bringen." Auch der alte Herr war auf sie zugegangen.

"Grete," sagte er in dröhnendem Baß, "es wird nicht lange dauern und alle Not hat ein Ende. Wenn die Monarchie erst wieder hergestellt sein und Kaiser Otto, umgeben von den Erzherzoginnen und Erzherzogen, seinen Einzug in Wien halten wird, dann werde ich vor den kaiserlichen Knaben hintreten und ihm sagen: Majestät, hier steht vor Ihnen ein Greis, ein ehemaliger General, der für Kaiser und Reich bei Custoza und Königgrätz gekämpft und geblutet hat. – –"

"Schon recht, Großpapa, aber bis dahin hat es noch seine guten Wege und bevor wir die Monarchie wieder haben, können wir alle zusammen verhungert sein."

Der alte Herr Rumfort, der es nur bis zum Oberst gebracht hatte, als Generalmajor in Pension gegangen war, aber keinerlei Ruhegenüsse bezog, weil er sie vor vielen Jahren Gläubigern bis zum Lebensende hatte verpfänden müssen, ging in das Schlafzimmer, das er mit dem Knaben bewohnte, um in Erwartung eines außergewöhnlichen Abendessens den zerfetzten Schlafrock mit einem uralten wattierten Offiziersmantel zu vertauschen. Frau Rumfort versuchte mit ein paar restlichen Holzspänen und viel Papier ein Feuer im Küchenherd zu entfachen, um das Wasser für die Würstel, die Grete mitbringen wollte, zum Sieden zu bringen; die beiden Kinder blieben allein im Wohnzimmer zurück.

Else, ein überschlankes, immer hüstelndes Mädchen mit großen, wissenden Augen, stieß den kleineren Bruder an.

"Du, Erich, ich weiß schon, warum die Grete nicht hat sagen wollen, ob ihr ihr Chef, der Herr Wöß, gerne das Geld gegeben hat. Sicher war er zudringlich und hat sie küssen wollen. Weißt du, im Vierundfünfziger-Haus, da wohnt so ein Kerl, ein Slowak ist er, glaub‘ ich, der lauert mir immer auf und schenkt mir Schokolade. Neulich hat er einen Zehntausender zusammengefaltet und mir beim Hals ins Kleid geschoben und gesagt, wenn er ihn selbst suchen dürfe, werde er noch Zehntausend dazu geben. Aber ich hab‘ nicht wollen und ihm die Zehntausend zurückgegeben. Ich glaub‘, das war schön dumm von mir! Das nächstemal laß ich ihn suchen und kauf‘ uns beiden was Gutes. Aber den Mund mußt du halten, hörst du, Erich?"

 

Erich nickte. "Ich werd‘ schon nichts verraten, aber vielleicht ist‘s besser, wenn du‘s zuerst der Grete sagst!"

"Dummer Bub, sie tät es mir ja doch verbieten! Na, ich werde es mir noch überlegen! Wenn der Slowak nicht so grauslich wär‘ – beim Sohn vom Hofrat in unserem Hause, weißt, der hübsche, junge Student, bei dem wär‘s schon was anderes. Aber der schaut mich gar nicht an."

Während so das dreizehnjährige Mädchen ihre noch kindhaften und doch im Unterbewußtsein lasterhaften Gedanken entwickelte, besorgte Grete die Einkäufe. Zweieinhalb Paar Würstel, fünf Kilo Kartoffel, drei Laib Brot, Margarine, ein halbes Kilo Zucker, dann, als besonderen Leckerbissen, der ordentlich sättigen sollte, zwanzig Deka Käse, noch ein paar Kleinigkeiten, und hunderttausend Kronen waren weg. Im benachbarten Kohlenkeller kaufte das Mädchen, dessen Wangen jetzt vor Eifer gerötet waren, Brennmaterial, das sofort zugestellt werden sollte, und dann begab es sich in das Haus Nummer 56 mit den vielen Höfen, um die Schneiderin, Frau Greifer, aufzusuchen, der sie für allerlei kleine Arbeiten fünfzigtausend Kronen schuldete.

Grete schüttelte sich, Brrr, wie widerwärtig war dieser Herr Wöß, ihr Chef, gewesen. Herr Wöß besaß ein sogenanntes Realitätengeschäft und Grete war in seinem Bureau als Stenotypistin angestellt. Mit dem Hungergehalt von sechshunderttausend Kronen im Monat. Wofür sie nicht nur acht Stunden im Tag arbeiten, sondern sich auch noch die zärtlichen Annäherungen des Herrn Wöß gefallen lassen mußte. Herr Wöß, der es auf seltsamen Wegen mit mehrfachen Ruhepunkten im Landesgericht vom Markthelfer zum reichen Mann gebracht hatte, trug ein Ohrringel, war zaundürr, in dem finnigen Gesicht thronte eine rote Trinkernase und dem breiten, gemeinen Mund mit den goldenen Zähnen entströmte ein furchtbarer Gestank, der, wenn sich Herr Wöß dicht neben Grete stellte, sie zur Verzweiflung trieb. Und er stand fast immer neben ihr, versuchte immer wieder den schlanken, schönen Mädchenleib mit seinen breiten, platten, ungepflegten Fingern zu betasten, lachte nur zynisch und kichernd auf, wenn das Mädchen ihn mit dem Ellbogen von sich stieß.

Heute hatte Grete zu ihm in sein "Privatkontor" gehen und ihn um Vorschuß bitten müssen. Worauf Herr Wöß sie mit einem Ruck auf seine Knie gezogen, ihr einen Kuß auf die Wange gedrückt und erklärt hatte, er würde ihr das Gehalt aufbessern und eine Million Vorschuß geben, wenn sie nett zu ihm sein wollte.

"Sein S‘ nicht dumm, Fräulein Gretl," hatte er keuchend gesagt, "ob ich der Erste bin oder ein anderer, ist doch ganz egal, und wenn Sie mein Schatzerl sein wer‘n, dann können S‘ in Samt und Seide gehen und haben ausgesorgt."

Mehr angeekelt als entrüstet hatte sich Grete freigemacht und den Mut aufgebracht, ihm zu sagen, sie müsse sofort den Posten verlassen, wenn er ihr nicht ohne solche abscheuliche Bedingungen den Vorschuß geben würde. Worauf sie wirklich das Geld bekam. Grinsend hatte ihr Wöß die Banknoten hergezählt.

"Sie kommen schon noch in meine Gassen! Nur daß ich dann nicht mehr der Erste sein werd‘. Wird dann halt billiger sein, das Vergnügen!"

Grete betrat nun das Haus Nummer 56 und mußte zwei Höfe queren, bevor sie in den Hof Nummer 3 kam, dessen linke langgestreckte Flanke Frau Greifer als Schneideratelier bewohnte.

"Wenn Papa noch leben würde!" Wie ein Refrain gingen ihr die ewig wiederkehrenden Worte ihrer Mutter durch den Kopf. Ja, wenn Papa noch leben würde, dann wäre wohl alles anders. Aber Papa hatte sie verlassen, war feige desertiert – –

Regierungsrat Rumfort hatte sich vor anderthalb Jahren gegen einmalige Abfindung freiwillig abbauen lassen. Und, der Mode des Tages folgend, die Millionen sofort zu einem Bankier getragen, um sie an der Börse zu verdoppeln, verdreifachen, Milliardär zu werden. Ein paar Monate war auch alles wunderbar gegangen, man hatte in Saus und Braus gelebt, bis eines Tages, nach einem kleinen Börsenkrach, Herr Rumfort kein Geld, keine Effekten, keine Stellung und keine Pension besaß. Und in einem Anfall von Verzweiflung sich eine Kugel durch den Kopf jagte.

Grete schauderte zusammen. Von diesem Tag an war das Elend über sie alle hereingebrochen. Schon für das Leichenbegängnis mußten Schmucksachen verkauft werden, sie konnte nicht länger das Gymnasium besuchen, mußte rasch einen Handelskurs absolvieren, dann begann die Jagd um einen Posten, bis sie bei Herrn Wöß unterkam. Und nun lebten fünf Menschen von ihrem elenden Gehalt und von dem Erlös der schönen Möbel, Teppiche, Vasen, Nippessachen, die die Wohnung so traulich und lieb gemacht hatten.

Jetzt aber, seit dem Herbst, ging es überhaupt nicht mehr, begann der Hunger ständiger Gast zu sein, lag die Zukunft dunkel, drohend, gespensterhaft vor Grete, die mit ihren siebzehn Jahren Familienerhalter und der einzige klare Kopf im Hause war.

Die gute Frau Greifer.

Als Grete den dunklen, niedrigen Hausflur betrat, von dem aus eine Türe zu Frau Greifer führte, kamen ihr zwei junge, elegant gekleidete, grell geschminkte Mädchen entgegen, die sich von der Schneiderin eben verabschiedet hatten. Frau Greifer rief ihnen noch nach, sie mögen ja vor zehn Uhr kommen, dann erblickte sie Grete und ließ sie eintreten. Das Zimmer, das man vom Korridor betrat, entsprach ganz den Vorstellungen von einer vorstädtischen Schneiderwerkstätte. Ein großer gehobelter Tisch, zwei Nähmaschinen, eine wackelige Kleiderpuppe, Schnittmuster und Modejournale auf dem Tisch und einer Stellage.

Frau Greifers dicker, kurzer Leib quoll fast aus dem geblümten Schlafrock heraus, das rosige, verfettete Gesicht der etwa vierzigjährigen Frau schien aus vier Etagen zu bestehen, die von der niedrigen Stirne, der Partie bis zum Mund, in der eine winzige Nase wie ein Korkpfropfen saß, dem runden Kinn und dem wabbeligen Doppelkinn bestanden. Die fleischigen, kurzen Finger waren mit Ringen bedeckt, die grauen, im Fett versunkenen Augen flackerten scharf und unruhig hin und her, im ersten Augenblick konnte man Frau Greifer für ein harmloses, molliges Wiener Weiberl halten, bei näherer Betrachtung schwand dieser günstige Eindruck, verbreitete die kugelrunde Dame eine Atmosphäre von Gemeinheit und dunkler Vergangenheit.

Man munkelte in dem Haus mit den drei Höfen und der Nachbarschaft allerlei über Frau Greifer, erzählte von nächtlichen Gelagen, bei denen es hoch hergehen sollte, wußte aber nichts Genaues. Konnte auch nichts wissen, da die Chronik der Wiener Häuser, die Hausmeistersleute, nichts berichtete. Ob es wahr war, daß der Hausbesorger und seine Frau für ihre Diskretion ganz erhebliche Summen erhielten, ließ sich nicht kontrollieren. Sehr zustatten mußte der Frau Greifer die Lage ihrer Wohnung kommen.

Es war die einzige Wohnung im dritten Hof, ihr gegenüber lag nur eine elektrotechnische Werkstatt, die abends um fünf Uhr geschlossen wurde. Und außerdem führte das letzte der sechs Zimmer, aus denen die Wohnung bestand, in einen kleinen Laden, der tagsüber von einem wenig in Anspruch genommenen Dienstvermittlungsbureau okkupiert war. Daß die Inhaberin dieses Vermittlungsbureaus, ein kleines, buckliges Frauenzimmer, die Nichte der Greifer war und bei ihr wohnte, konnte man als besonders günstigen Umstand bewerten. Der Laden ging aber nicht in die Melchiorgasse hinaus, sondern führte in ein die Melchiorgasse schneidendes Sackgäßchen, und sein Gegenüber bildete eine Feuermauer. Die Situation gestaltete sich also dermaßen, daß man die umfangreiche Wohnung der Schneiderin sowohl vom Hof 3 des Hauses Melchiorgasse 56, als auch von dem kleinen Laden in dem Quergäßchen betreten konnte.

Frau Greifer begrüßte Grete Rumfort überaus herzlich.

"Jessas, Fräulein von Rumfort, daß Sie sich auch einmal wieder blicken lassen!" Und mit einem schätzenden, entkleidenden Kennerblick:

"Schön sind Sie geworden, Fräulein, ordentlich eine Bohthö! Das feine Gesichterl und die Figur, akkurat wie eine Prinzessin! Und die Fußerln! Die Männer müssen ja urdentlich narrisch wer‘n, wann‘s hinter Ihnern hergehen. In der ganzen Melchiorgassen gibt‘s so was Feines und Schönes nit mehr! Wer mer halt ein schönes Winterkostüm für das Freiln machen, was?"

Grete wehrte errötend ab.

"Dazu habe ich kein Geld, Frau Greifer. Ich bin nur gekommen, um Ihnen die fünfzigtausend Kronen zurückzugeben, die ich Ihnen noch vom Vorjahr, als Sie uns die Trauersachen gemacht haben, schuldig bin."

"Aber, Fräulein Grete, hab‘ ich Sie gemahnt? Reden wir nicht von den paar lumpigen Kronen. Und von wegen kein Geld haben: Sie können mir zahlen, wann Sie wollen. Eine Dame, die was so aussieht wie Sie, die braucht sich um Geld nicht zu sorgen. In dem Fahnderl können S‘ ja gar net mehr umanandergeh‘n."

Grete nickte traurig.

"Da haben Sie schon recht, Frau Greifer, aber es ist nicht möglich, ich muß ja von dem Hungerlohn, den ich bekomme, die Mutter, den Großvater und die zwei Geschwister erhalten, Ich weiß ohnedies nicht mehr, wie das weitergehen soll."

Eine grenzenlose Müdigkeit und Widerstandslosigkeit überfiel Grete plötzlich, sie begann bitterlich zu weinen und stoßweise kam aus ihr heraus, was sie bedrückte und quälte.

Frau Greifer war ganz Mitleid, ehrliches Mitleid sogar. Sie streichelte die feinen, schmalen Hände des Mädchens und bat mütterlich-zärtlich:

"Net weinen, Freiln, verderben S‘ sich die blauen Guckerln net! So ein schönes, junges Mädel wie Sie darf nur net dumm sein, dann wird S‘ schon noch das große Los ziehen. Und jetzt werde ich die Henriette rufen, daß sie die Muster bringt und Maß nimmt und wegen dem Geld brauchen S‘ Ihnern keine Sorgen net zu machen."

Grete trocknete die Tränen. Die Sehnsucht nach einem neuen Kleid überkam sie mit einer Heftigkeit, die alle Bedenken fortriß. Lebensmut überströmte sie und wie von weiter Ferne summten ihr die Worte "nur net dumm sein"‚ diese lockenden, verführerischen Worte, die ihr Männer und Frauen täglich zuflüsterten, in den Ohren.

Groß, stattlich, vollbusig stand die eigentliche Leiterin des Schneiderateliers, Fräulein Henriette, die ebenfalls zu den Wohnungsinsassinen gehörte, im Zimmer. Halb spöttisch, halb bewundernd musterte sie das schöne, gertenschlanke, blonde Mädchen und erklärte dann dezidiert:

"Ich habe hier einen dunkelgrünen Velour, dazu lichtgraue Persianerverbrämung, das wird dem Fräulein am besten stehen. Aber das Fräulein kann diesen Hut unmöglich dazu tragen. Ich werde einen passenden besorgen."

Frau Greifer nickte eifrig.

"Und graue seidene Strumpferln und Wildlederhandschuhe und das Freiln wird wie eine Prinzessin aussehen. Jessas, die Schuh‘, die das gnä‘ Freiln anhat! Henriette, schau‘ nur einmal! Nein, so was, daß so eine schöne junge Dame in so was herumgeht! Freiln von Rumfort, bitt‘ schön, gehen S‘ nur gleich ins Vierundfünfzigerhaus hinüber zum Wisloschill und sagen S‘ ihm, er soll Ihnen auf meine Rechnung ein oder zwei Paar feine moderne Halbschuh‘ machen!"

Besinnung und Bedenken brauste in Gretes Hirn auf.

"Um Himmels willen, Frau Greifer, ich werde Ihnen das ja nie zahlen können! Was fällt denn Ihnen ein? Und ich weiß gar nicht, was das alles kosten soll!"

"Tschapperl, machen S‘ Ihnern nur keine Sorgen! Nur net dumm sein, nachher werd‘ i schon auf meine Rechnung kommen, und Sie, Freiln Grete, werden Ihnern so viel Kleider machen lassen, wie Sie nur wollen. Schauen S‘ her, da hab‘ ich als Kundin eine Dame, die was jeden Monat ein Kleid bei mir machen läßt. Und sie fragt nie nach dem Preis und das Teuerste ist ihr noch zu billig. Und gestern hat ihr der Herr Direktor, von dem, was sie die Freundin ist, einen echten Biberpelz für hundert Millionen geschenkt. Und wissen S‘, wer das Madel noch vor zwei Jahr‘ war? An armes Hascherl, die Tochter von an Laternanzünder! In Lerchenfeld war sie Laufmadel bei einer Modistin. Durch die hab‘ ich sie kennen g‘lernt, na und heut‘ fahrt sie nur mehr im Automobüll und sagt immer: Frau Greifer, sagt sie, Ihner allein verdank‘ ich mein großes Glück. Gott wird es Ihnen noch lohnen."

Grete hatte aufmerksam zugehört und ein Frösteln ging durch ihre Seele. Aber sie bäumte sich nicht mehr auf, ließ Fräulein Henriette Maß nehmen, sah sich im grünen Velourkostüm mit Persianer verbrämt, fühlte, wie sie weit zurückgelehnt im eigenen Auto saß und in den Ohren summte es ihr tausendfach: Nur nicht dumm sein, nur nicht dumm sein!

 

Mit fieberheißen Wangen, eilte Grete in ihre Wohnung, übergab die Einkäufe der Mutter, die über ihr langes Ausbleiben lamentierte, rief ihr hastig zu, daß sie noch eine kleine Besorgung habe und gleich zurück sein werde und suchte dann in dem Proletarierhaus Nummer 54 den Schuster Wisloschill auf, der dort im Hochparterre Werkstatt und Wohnkammer hatte.

Es war ja wahr, mit diesen geflickten, besohlten, ausgetretenen unmodernen Schuhen, in die das Wasser von allen Seiten lief, konnte sie nicht länger gehen! Besonders nicht, wenn sie von Frau Greifer das dunkelgrüne Velourkostüm mit dem grauen Persianer und die Seidenstrümpfe bekam. Wie eine Prinzessin würde sie aussehen! Jawohl, Frau Greifer hatte es gesagt, und die kannte sich aus. Was das wohl kosten würde? Eine Million oder gar zwei oder drei? Aber daran wollte sie jetzt nicht denken, endlich einmal eine Dame sein, wie die anderen, an denen sie mitttags am Graben vorbeiging, wenn sie nach Hause zu Rüben und Kraut eilte. Und war sie nicht tausendmal schöner als diese in Pelz und Seide gehüllten Damen? Konnte sich auch nur eine von ihnen mit ihr an Schönheit und Jugend messen? Nein, nein, nein, sie wollte nicht länger dumm sein, wollte ihren Anteil am Leben haben, wollte nicht mehr mitansehen, wie die Mutter sich zu Tode grämte, die Geschwister vor Hunger weinten und kaum noch trockenes Brot hatten!

Aber wie denn? Verkaufen würde sie sich nicht, um keinen Preis. Vielleicht an so einen Kerl, der so widerwärtig war wie dieser Wöß? Brrr! Aber waren denn alle reichen Männer abscheulich? Es gab doch junge, kluge, schlanke, gebildete, eIegante unter ihnen, und wenn ein solcher sie erst liebte, dann würde er sie doch natürlich auch heiraten. Warum denn auch nicht? Sie war doch schön und jung, aus guter, ja sogar aus aristokratischer Familie und hatte fünf Gymnasialklassen mit Vorzug absolviert. Daß sie arm, bettelarm war – was konnte sie dafür? Und der reiche, feine Mann mit dem Automobil würde sie gerade deshalb noch mehr schätzen und lieben. Er würde ja der erste sein, der, für den sie sich aufgespart, ihre Mädchensehnsucht zurückgedrängt, gehungert und gefroren hatte. Ja, so würde es werden! Nur nicht dumm sein, nur nicht dumm sein!

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