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Während der Müll verkohlt und zu Asche zerfällt, steigen giftige Dämpfe auf, schwarze Schleier schrauben sich in den Himmel. Sie kräuseln sich in Richtung der Fensteröffnungen des Monolithen, aber da diese bedeckt sind, treten kaum Dämpfe ein. Sie verfliegen vielmehr, werden verschluckt vom sonnenbeschienenen Dunst, der die Stadt umhüllt.
Der Truck des Vaters der Zwillinge fährt vor, orangefarbene Glut knistert ringsum. Hans steigt mit zwei weiteren Männern aus der Kabine und beginnt, riesige Säcke von der Ladefläche des Trucks zu ziehen. Der Chinese löst die Schnüre um die Säcke, und fünfzig Wildkatzen mit messerscharfen Zähnen springen heraus. Sie nehmen die Witterung der fliehenden Ratten auf, folgen ihnen in Löcher hinunter, durch Rohre hinauf, an alle dunklen Orte, wo Ratten sich verstecken könnten. Als das Massaker beendet ist, verschwinden die Katzen wieder in den Gassen und Schlupfwinkeln der Stadt.
»Wo hast du die Katzen her?«, fragt der Priester.
Dieter sieht ihn an. Er hat noch nie mit einem Priester gesprochen.
»Von der Katzenfängerin in Estrellas Negras. Wir haben sie mit einem Tisch und Stühlen bezahlt. Es heißt, sie ist eine Hexe.«
»Die Bruja von Estrellas Negras. Gibt’s die wirklich?«, fragt der Priester.
»Sie hat nach Katzenpisse und Stinktieren gerochen. Hans hätte sich fast übergeben.«
Sie lassen Lalloo holen. Er weiß, wie man Masten und Generatoren anzapft. Aber als er eintrifft, ist er betrunken. Singt vor sich hin, seine Augen sind blutunterlaufen. Die Zwillinge stützen ihn auf beiden Seiten und lassen ihn im Vorhof seinen Rausch ausschlafen.
Er wacht auf. Nacho begrüßt ihn. Lalloo schläft wieder ein.
Eine Stunde später wacht er wieder auf. Nacho gibt ihm einen Teller voll zu essen und einen Becher Wein. Das Essen beachtet er gar nicht.
»Wir brauchen Strom für dieses Gebäude«, sagt Nacho.
Am Nachmittag steht Lalloo auf einer Leiter, an seinem Gürtel sind Bolzenschneider und Zangen befestigt. Er schließt den Monolithen ans Netz, brummend leuchten Lampen auf, und als in der Abenddämmerung aus einer nahegelegenen Moschee der Ruf zum Gebet ertönt, ziehen sie Stechmücken an. Später versucht Lalloo den Fahrstuhl zu reparieren, aber es gelingt ihm nicht. Er erklärt Nacho, dass das Ding endgültig hinüber ist.
Der Chinese hebt Nacho auf seine Schultern und geht sechzig Stockwerke über die Treppen hinauf. Als er oben ankommt, keucht er. Mit dem Chinesen, dem Priester, den Zwillingen und Regenmantel an seiner Seite schaut Nacho hinaus. Er sieht die halbe Stadt, andere Türme verteilen sich über die Skyline – Hotels und Büroblocks, Dutzende halb verdeckter Werbetafeln dahinter. Taxis und eine Million Autos, Rikschas und gelbe Busse, aus denen Salsa dröhnt, verstopfen die Straßen, Abgaswolken wabern hinauf, Leute trödeln oder hasten.
Er schaut hinunter auf das den Turm umgebende Land, unregelmäßig, uneben, zerfurcht wie von Wunden, schwarze schwelende Stellen dort, wo die Ratten vertrieben wurden.
»Das ist Ödland«, sagt er. »Unter der Oberfläche liegen Müllberge vergraben. Egal, was passiert, wir dürfen nie wieder im Müll leben. Nicht hier. Der Turm muss innen wie außen sauber sein.«
Die Familien ziehen ein. Solche mit Alten nehmen die Stockwerke weiter unten. Sie bringen Möbel, Laternen, Kerzen und alles mit, was sie von den Müllhalden holen können. Einige haben Herde und sogar Kühlschränke. Sie bauen sich Betten aus Paletten und wiederverwerteten Brettern. Alte Sofas kommen von der Schutthalde in Minhas. In Puertarota brennt ein Hotel ab und die Damnificados ziehen um drei Uhr früh los, bergen Betten und Kleiderschränke, laden sie auf den Truck des Vaters der Zwillinge und lehnen sich weit über die Seiten, als dieser sich zum Turm zurückschlängelt.
Sie suchen die reichen Viertel nach auf die Straße gestellten Fernsehern ab und holen sie von den Bürgersteigen. Lalloo repariert alles Elektrische, wofür Nacho ihn in einem Zimmer im sechsten Stock übernachten lässt. Seine Hände zittern, aber mit Elektrizität findet er sich auch noch im Schlaf zurecht, und wochenlang geht er von Stockwerk zu Stockwerk, repariert alles im Tausch gegen Essen und Wein.
Südlich von Agua Suja bricht ein Aufstand aus und in dem darauffolgenden Chaos schaffen es sechs Brüder irgendwie, einen Brotbackofen nach Hause in den Turm zu verfrachten, sie tragen ihn wie den Sarg bei einem Trauerzug. Die ganze Nacht brauchen sie, bis sie ihn zum Turm geschleppt haben, und als sie eintreffen, bluten ihre Hände und Schultern. Am nächsten Tag stellen sie ihn im dritten Stock auf und eröffnen eine Bäckerei.
Im sechsten Stock richtet Maria Benedetti, eine ehemalige Schönheitskönigin aus Sanguinosa, einen Salon ein. Sie verwendet geklaute Kämme und Bürsten, Shampoo aus Seife und Ziegenmilch und einen Haartrockner, der einst ihrer Mutter gehörte. Ein paar Damnificadas, herausgeputzte Mädchen mit Schmollmündern, drängen in den Salon und schon bald kommen die Frauen aus Favelada und Fellahin und lassen sich die Haare machen. Maria stellt ein Schild auf die Straße: »Marias Bjuty & Herrsalong«. Nacho wird misstrauisch, als er mitbekommt, dass die von draußen herein-kommenden Frauen nachmittags eintreffen und erst am nächsten Morgen wieder gehen. Er sagt zu dem Priester: »Das sind Prostituierte. Sie gehen in den Salon, geben Geld für ihre Haare aus und verdienen es sich gleich wieder, ohne überhaupt den Turm zu verlassen.«
Der Priester sagt: »Aber wer kann sie hier bezahlen? Im Turm leben nur Damnificados. Wer von denen hat Geld für Frauen?«
Der Priester weiß nicht, dass im Turm auch arbeitende Menschen leben. Viele finden Jobs in den Fabriken als Wächter, Hausmeister, Kehrer und Putzleute. Nacho unternimmt nichts wegen der Huren, denkt, Freiheit ist die Hauptsache, die Freiheit, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ein Zuhause zu haben, mit Huren zu schlafen.
Er eröffnet drei Schulen, jeweils eine im fünften, im fünfzehnten und im fünfundzwanzigsten Stock. Auf einem Schrotthaufen findet er alte Schreibtische und Tafeln und er kauft einen Vorrat an Kreide. Hinter den Büros einer Versicherung in Amado lässt er mit anderen einen Container plündern und findet eine halbe Tonne benutztes Schreibpapier. Er legt es in zweieinhalb Meter lange Wannen aus einer Fabrik und begießt es mit Seifenwasser, dann streicht er den Brei mit riesigen Walzen glatt. Die Blätter werden auf den Balkonen des ersten bis zehnten Stocks aufgehängt und als sie trocken sind, schneidet Nacho sie mit seinem gesunden Arm in Rechtecke. Jetzt haben sie Papier. In der Zwischenzeit stehlen die Zwillinge im Umkreis von zehn Kilometern sämtliche Kugelschreiber und Bleistifte aus den Banken, Büros, Postämtern und Bibliotheken.
Zuerst kommt niemand. Die Kinder sind alle unterwegs, Geld verdienen. Sie putzen Autofenster, sammeln Glas zum Recyceln, verkaufen Süßigkeiten oder Schirme in der Regenzeit, betteln, jonglieren an den Ampeln, zaubern. Nacho fängt also erst einmal mit einstündigen Sitzungen für die Eltern an. Er zeichnet Gegenstände an die Tafel und lässt es die Schüler ebenso machen. Sie zeichnen alles, was ihnen wichtig ist, und sagen, wie man es nennt. Dann schreiben sie die Wörter zusammen an die Tafel, jeden Laut einzeln. Kinder. K.I.N.D.E.R. Sie sagen, was sie sich für ihre Kinder wünschen. G.E.L.D.C.H.A.N.C.E.N.G.L.Ü.C.K. Und Nacho fragt, wo sind eure Kinder jetzt? Auf der Straße. Autos waschen, betteln. Und Nacho fragt, wo sollen da Geld, Chancen und Glück herkommen? Und schließlich finden die Eltern das Wort. B.I.L.D.U.N.G.
Nacho geht mit ihnen spazieren und sie entziffern die Worte auf Schildern, allmählich beginnen sie die Welt zu lesen. Sie schreiben zusammen Geschichten an die Tafeln, Nacho fungiert als Schriftführer. Ihre Familiengeschichten. Mythen und Legenden aus ihren Städten. Aufgeschnappte Märchen. Und als sie fertig sind, bildet Nacho Paare und sie »lesen« die Geschichten gemeinsam, enträtseln die Wörter.
Nacho bringt Comics mit: Superhelden, Männer in Strumpfhosen, die Städte retten, Mädchen mit sieben Meter langen Gummiarmen und Adleraugen, Hellseherinnen und Bösewichter. Sie reimen sich die Geschichten zusammen. Sie erzählen sie neu, finden Bedeutungen und schreiben Wörter aus den Geschichten auf.
Woher kam der Turm? Wer hat ihn gebaut? Wie wurde er genannt? Warum? Warum stand er leer? Sie schreiben ihre Antworten auf Papier. Woher kamen die Schreibtische, an denen sie sitzen? Und bevor der Zimmermann seine Säge ans Holz setzte, wo kam da das Holz her? Wer hat es in die Stadt gebracht? Wie? Warum?
Und schließlich tauchen ganz allmählich auch die Kinder der Damnificados auf.
KAPITEL 3
Nacho – Ein Baby am Fluss – Gerettet von Samuel – Schulzeit – Der Chinese – Der Geschichtenerzähler – Emil – Wild wuchernde Haare
Nacho Morales. Ein Krüppel. Seine linke Seite ist verkümmert. Arm und Bein. Von Geburt an ist er lahm. Hat ein Muttermal unter dem rechten Auge. Wurde ausgesetzt an einem Flussufer, eingewickelt in Lumpen. Seine Eltern sagen: »Er wird bald sterben.« Der Fluss stinkt nach menschlichen Exkrementen, er fließt durch Agua Suja, eine Shantytown. Die Mutter ist mit ihren zwölf Jahren selbst noch ein Kind. Der Vater ist sechzehn, verkauft Dope. Ein Jahr, nachdem er Nacho zum Sterben liegen ließ, hört er von einem Deal mit importiertem Heroin, besorgt sich eine Waffe und ein Halstuch, bindet es sich über den Mund. Er hält sich für Billy the Kid. Springt von einem Gerüst. Bestiehlt seine eigene Gang, die Waffe ist so groß wie sein Arm. Er steckt das Geld ein. Merkt erst dann, dass er vergessen hat, sich einen Fluchtplan zu überlegen. Rennt bis zum Fluss, wo er seinen Sohn ausgesetzt hat. Die Gang folgt ihm. Schießt ihn nieder. Holt sich ihr Geld zurück. Er rollt in den Fluss. Treibt bis Blutig. Es ist die längste Reise, die er je unternommen hat. Aufgedunsen und stinkend wie ein Fisch wird er an einem Haken an Land gezogen.
Und auch Nacho wird, ein Jahr zuvor, am Haken eines Fremden an Land gezogen. Samuel, ein Wanderer aus Favelada, tagsüber ist er Lehrer.
»Was haben wir denn da?«, sagt er und hebt das Bündel auf. »Hallo, du kleiner Fisch.«
Ein Auge schielt, das Gesicht ist zerknautscht, eine kleine rosa Kaulquappe. Samuel schaut sich um. Wägt die Möglichkeiten ab. Setzt er das Kind wieder aus, stirbt es. Die Geier hacken ihm die Augen aus. Bringt er das Kind zur Polizei, landet es direkt auf dem Müllhaufen. Er nimmt es mit nach Hause. Er hat keine andere Wahl.
Er nimmt den Bus. Kauft eine Fahrkarte. Neugeborene Unglückswürmchen fahren umsonst. Der Bus wimmert und schlingert. Das Baby schläft. Eine dicke Paisana sitzt neben ihm, riecht nach Ziegen und Hühnern. Linst in das Bündel. Überlegt, ob sie liebevoll schnalzen soll. Überlegt es sich anders.
Samuel sitzt ganz hinten im Bus, ist kaum dreißig, sieht die Straßen vorüberziehen, sein faltenloses Gesicht ist so platt wie Pappe im Fenster. Quer durch die Stadt, vorbei an Fellahin und den Straßen, wo es nach Kochwurst und Falafel riecht. Ein Schaf überquert die Straße. Eine Elektrowerkstatt, in der alles die Farbe von Öl hat. Das hintere Ende einer Demonstration, die eine Nebenstraße entlanghallt, ein weißes Transparent von hinten. Beengte Geschäfte aneinan-dergepresst, aus den oberen Fenstern hängen Klamotten, flattern im Wind. Schulkinder in Uniformen, lose Banden, aus denen sich Nachzügler lösen, gehen gekrümmt unter mit Büchern vollgestopften Rucksäcken. Dann der lange Zaun parallel zur Straße, getaggt mit Hieroglyphen, Runen und Endzeit-Botschaften.
Jetzt öffnet sich die Landschaft. Vorbei an Minhas mit den tiefen Rissen im Boden und den Bergen von schwarzem Abfall, winzige Arbeiter in der Ferne. Und hier, ganze Gruppen schmutzverkrustet, sie warten an Bushaltestellen, zünden sich Zigaretten an, tätscheln sich gegenseitig den Rücken. Verkäufer mit um die Hälse hängenden Tabletts mischen sich unter den Verkehr. Öffnet das Kind nur für einen Augenblick die winzigen Augen, sieht es die verschwommenen Massen und ihr kaputtes Leben von diesem Fenster aus? Nutzt es seinen sechsten Sinn und weiß es, dass es vom Flussufer gerettet wurde, um in eine Welt endlosen Elends einzutreten? Gerettet vom Lehrer Samuel, der seine kranke Cousine in Agua Suja besucht hat. Einen Kuchen hatte er ihr mitgebracht. Er war alleine unter Bäumen spazieren gegangen, war dem Fluss gefolgt. Hatte den Gestank ignoriert, das Bündel gesehen. Sich danach gebückt. Eine helfende Hand ausgestreckt. So hatte er es sein Leben lang getan.
Sie wohnen im Haus der Blumen. Es ist winzig, beengt, aus gefundenen Backsteinen gebaut, im Winter pfeift der Wind durch die Ritzen. Aber an den Außenwänden ist es mit gelben und roten Blumen bemalt und hebt sich daher von allen anderen in Favelada ab. Und es gibt viele Häuser hier.
Als er heimkommt, nimmt er die Lumpen ab, um das Kind zu baden, und sieht den verkümmerten Arm und das Bein. Zwei bleiche Stecken an einem Körper. Anna, seine Frau, kommt herein. Kurz stockt ihr der Atem, sie hebt die Hand zum Mund.
»Der Junge lag am Fluss. In Agua Suja. Ausgesetzt. Ich hab ihn mitgebracht.«
Ihr Sohn Emil kommt herein und betrachtet die Neuigkeit. Freude. Pieken und stupsen. Samuel hebt das Kind fort aus seiner Reichweite. Und tut dies drei Jahre lang. Gemeinsam mit Anna erhält er das Kind am Leben, indem er Hände abwehrt.
Nacho ist ein Schmutzfleck. Ein Landstreicher. Ein Frosch am Ufer. Seine Kindheit verschwimmt in Krankheit: Ausschläge, Fieber, Schüttelfrost, Pocken, plötzlich auftretende Knötchen, Beulen, Pusteln, Eiterpickel.
Er lernt sprechen. Eine ruhige Stimme. An der Seite seines Vaters, jeden Abend, den ganzen Abend, und da er nicht rennen, gehen, springen, schwimmen oder kämpfen kann, liest er früh und gut.
Die Schule ruft. Samuel baut zwei Krücken für Nacho, arbeitet nachts daran, schnitzt das Holz im Mondlicht mit einem Meißel, bis die Form stimmt und sie stark sind. Nacho schiebt sie sich unter die Arme und humpelt halb, halb springt er durch den Raum. Hölzerne Flügel, wie für Engel gemacht.
Er ist zu schwach, um eine gute Zielscheibe abzugeben, die Schulhoftyrannen behandeln ihn deshalb wie einen Freak. Er tut, als wäre er stumm, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Beim Schreiben macht er absichtlich Fehler. Tut, als wäre er ein Schwachkopf, bis ihn eine Lehrerin, die mit Samuel befreundet ist, nach der Schule dabehält.
»Ich weiß, dass du schlau bist«, sagt sie. »Dein Vater hat es mir gesagt. Stell dich dumm, wenn du willst, aber ich gebe dir zusätzliche Hausaufgaben, zusätzlichen Lesestoff. Schreib Referate, Gedichte, beschäftige dich mit den Philosophen. Schreib Tagebuch. Schreib mir Geschichten. Ich werde sie lesen und wir bewahren das als unser Geheimnis.«
Er nickt.
Als er zehn ist, stellt ihm ein Malandro nach, nimmt ihn in den Schwitzkasten. Nacho ringt nach Luft. Ein plötzliches Schaudern, dann erschlafft der dünne Arm an seinem Hals. Der Schläger sinkt zu Boden. Über ihm steht ein riesengroßer Junge. Schwarze Haare. Schlitzaugen. Er dreht sich um und geht. Der Chinese.
Der Chinese ist eine Insel, eine Festung, die niemand betreten kann. Man sagt, er sei stumm oder spreche die Sprache nicht. Er hat ein rundes, weiches Gesicht und Hände so groß wie Bratpfannen. Mit zehn Jahren wiegt er zweihundert Pfund. Mit fünfzehn wird er dreihundert wiegen. Die Schule stellt einen Zimmermann an, der einen stabileren Stuhl für ihn baut. Beim ersten Mal schon kracht er zusammen. Sie geben ihm ein Brett auf zwei Betonblocks. Er setzt sich still darauf. Runzelt die Stirn.
Samuel bringt Emil und Nacho jeden Tag zur Schule. Wenn sie durch das Zentrum von Favelada gehen und Nacho weit ausholt, auf seinen Krücken schwingt, um Schritt zu halten, erzählt Samuel Geschichten.
»Hier hat Odewoyo seinen letzten Kampf verloren. Er war ein nigerianischer Gangster. Alle seine Mitstreiter waren schon tot. Er kam herausgelaufen und schoss um sich. Wurde von fünfzig Polizisten niedergemäht. Danach bestand er mehr aus Löchern als aus Mensch. Sie haben seine Waffe in ein Museum gebracht. Schaut, da oben. Das ist der Balkon, von dem aus Eugenia, die Schöne, den Massen Blumen zugeworfen hat. Und ihre letzte Rede hielt. Schaut dort. Die Stierkampfarena. Sieht aus wie Ödland, nicht wahr? Das war der Ort der Matadore, der Ort von Guerrero, Zubada, Hernandez, Ochoa und Davidovsky.«
»Was ist damit passiert?«, fragt Emil, der zwei Jahre älter und einen Kopf größer ist als Nacho.
»Was damit passiert ist? Was mit allem passiert. Sie ist zerfallen. Was sind das für Vögel? Da! Da! Haltet die Augen offen. Ihr wisst nie, wann ihr sie braucht.«
Und so lernt Nacho alles, sieht alles. Ein verkümmerter Körper, ein singender Verstand.
Zuerst schläft er auf einer Matte bei Anna und Samuel im Zimmer. Sie liegen wach und lauschen seinem Atem. Als er sechs wird, zieht er zu Emil in ein Bett, das aus einem kaputten Tisch gebaut wurde, die Beine sind abgesägt. Emil treibt sich herum, und mit acht Jahren kennt er jede Ecke von Favelada, jede Straße. Er geht mit Nacho zum Metzger, zum Bäcker und zum Friseur. Gibt mit ihm an. Wirft Steine in den Fluss, während Nacho die Hüpfer zählt. Sie werden vom Markt gejagt, weil sie Äpfel stehlen. Nacho ist unschuldig wie immer, schlurft auf seinen Muletas hinterher.
Eines Tages klettert Emil auf die Mauer des Bordells in der Roppus Street, hängt sich an ein Fensterbrett und sieht den dicken Hintern des Metzgers auf dem Bett auf- und abstoßen, eine Frau namens Lulu liegt unter ihm. Er kichert. Der Metzger dreht sich mittendrin um, schiebt sich von Lulu herunter, geht zum Fenster. Sein Gesicht ist rot und aufgedunsen wie ein Schinken, sein erigierter Penis weist ihm den Weg. Emil klettert herunter und lacht, als ein Schuh aus dem Fenster fliegt und seinen Kopf nur um wenige Zentimeter verfehlt. Er läuft zu Nacho und gemeinsam gehen sie fort, das Geschimpfe des Metzgers folgt ihnen die Straße herunter. Nacho weiß es jetzt noch nicht, aber eines Tages wird er sich wegen eines Gefallens an den Metzger wenden, wird ihn mitten in der Nacht um Fleisch bitten, um damit ein Wolfsrudel zu füttern, und der Metzger wird sich an ihn erinnern, weil er seinen Vater kannte, und er wird Ja sagen und sich, abermals nackt, nach unten schleppen und dicke Brocken rohes Steak ausgeben, noch feucht vom Blut.
Emil schläft jede Nacht lang und tief, erschöpft von seinen täglichen Ausflügen. Aber Nacho ist ein Nichtschläfer. Er liest dort, wo ein Lichtstrahl durch das Fenster dringt. Liest und liest bis in die frühen Morgenstunden. Mit acht kennt er die Dichter, die nordische Mythologie, die Etymologie der Dinosaurier, die Biografien von Königinnen und Staatsmännern, die Namen von Pflanzenarten, kann einem Handbuch über Maschinenbau folgen, kennt die russischen Sagen des neunzehnten Jahrhunderts, die Theorien toter Philosophen, Kunstkritik, Polemiken, Marx und Freud, Dickens und Poe.
Manchmal kommt eine Freundin von Anna vorbei und spricht Spanisch mit ihm. Eine andere Französisch. Eine entfernte Tante dritten Grades plappert auf Italienisch drauflos. Die Sprachen bleiben an ihm hängen wie Dreck an den Knien eines Jungen.
In dem Winter, in dem er zehn wird, brechen die Pocken bei ihm aus und er muss das Bett hüten. Anna füttert ihn mit wässriger Kartoffelsuppe, bringt ihm Bücher aus der Bibliothek. Nach drei Tagen wird er schwächer. Emil zieht aus dem Zimmer aus, sie legen Nacho auf eine Palette bei sich auf dem Boden und rufen eine Heilerin. Ihr Name ist Haloubeyah. Sie fegt in einem schwarzen Kaftan herein, lächelt und fragt ihn nach seinem Namen. Sieht ihm in die Augen, berührt ihn einmal an seinem gesunden Arm und kocht einen Wickel in einer übelriechenden Brühe. Sie singt bei der Arbeit. Emil starrt sie an, bis ihn seine Mutter aus dem Zimmer wirft. Haloubeyah gibt Nacho eine Wurzel zum Kauen. Minuten später schläft er ein und sie legt ihm den Wickel an.
Am nächsten Tag geht es Nacho besser. Und seine Haare wachsen wie verrückt.