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KAPITEL 4
Der Erste Müllkrieg – Das Haus der Blumen – Alberto Torres – Ein Floß auf dem Fluss
Jahrzehnte bevor Nacho wie Moses im Schilf gefunden wurde, kamen die Menschen auf der Suche nach Arbeit aus der Provinz hierher, und plötzlich gab es in Favelada viertausend Damnificados ohne Unterkunft. Also fanden sie kleine Landstücke und bebauten sie mit dem, was gerade zur Hand war: Steine, Backsteine, Holz, Lehm, Eisen. Häuser entstanden. Zusammengeflickte Würfel mit einem Loch im Dach als Schornstein. Ein Damnificado namens Lalloo zeigte ihnen, wie man Strom von den Masten stiehlt, um Licht und Wärme zu bekommen, und ein paar Familien fanden alte Fernseher, die man auf die Halden oder die Gehwege geworfen hatte, nahmen sie mit nach Hause und schlossen sie an, schlugen so lange drauf, bis ein Sender funktionierte. Und so begann und endete das Leben vieler begleitet von ständigem Gemurmel, einem vierundzwanzigstündigen Kreislauf aus Spieleshows, Fußball, Nachrichten, Mordanschlägen, Telenovelas, Rauschen, Papageiengeplapper, Geschnatter und Gelächter aus der Konserve.
Die Städte wuchsen, aber keine Regierung wollte die neuen Bezirke anerkennen. Sanguinosa, Fellahin, Blutig, das waren Nicht-Orte für Nicht-Menschen. Straßen wurden keine gebaut, denn warum sollte man eine Straße nach Nirgendwo bauen? Berge von Müll tauchten auf – gammelnde Lebensmittel, Plastik, Papier, Glasscherben – bis der Gestank den Damnificados in die Kleider kroch, in die Ecken ihrer Zimmer, in ihre Träume. Und eines Tages versammelten die Damnificados von Favelada ihre Esel und Karren, luden den Müll mit Mistgabeln und Schaufeln auf und fuhren ihn in die Wüste. Ein paar Monate später legten einige Männer, die Arbeit gefunden hatten, ihr Geld zusammen und kauften einen Truck. Jeden Samstag beluden sie ihn und fuhren damit zehn Minuten Richtung Süden. Sie gruben riesige Löcher in die Erde, warfen den Müll hinein und noch ein paar Monate später deckten sie den Berg mit Erde zu.
Aber dann zogen andere Damnificados in die Wüste. Eine kleine Gemeinschaft von Süchtigen, geflohenen Sträflingen und Landstreichern tauchte auf. Nach einer Weile sahen sie, dass der Truck Müllberge heranfuhr, und brachten diese zurück, luden sie mitten in der Nacht in Favelada vor den Häusern ab. Zur Vergeltung brachte der Truck mehr Müll. Und dann kam es zu einem Vorfall. Eines Tages lud der Fahrer des Trucks mit seiner Mannschaft den Müll ab, wie sonst auch. Als sie wieder vorne einsteigen wollten, fanden sie eine enthauptete Puppe auf dem Sitz und in deren hohlem Plastikkörper noch warmes Ziegenblut. Ein Zeichen.
Und so begannen die Müllkriege.
Am darauffolgenden Samstag dröhnte der Truck aus Favelada vollbeladen mit Müll in die Wüste. Die Halde wirkte verlassen. Plötzlich ertönte eine Frauenstimme:
»Kami ay labanan sa dulo!«
Der Fahrer zog die Handbremse, ließ aber den Motor laufen. Ringsherum provisorische Häuser. Vor ihnen eine winzige, steinalte Frau, nur Haut und Knochen, die Haare mit einem Tuch zusammengebunden. Sie riss die wütenden Augen auf und schrie erneut, höher, fast war es ein Jaulen:
»Kami ay labanan sa dulo!«
Der Fahrer wandte sich an den Papagei auf seiner Schulter.
»Was zum Teufel ist das?«
»Philippinisch.«
»Ist mir scheißegal, was für eine Sprache. Was soll das heißen?«
»Ich bekämpfe euch bis zum Tod.«
Der Fahrer grinste, drehte den Schlüssel um, machte den Motor aus.
Plötzlich tauchten Gestalten in der Wüste auf wie aus der Hölle. Schmutzverschmierte Lumpensammler, die angespitzte Stöcke und Tomahawks schwenkten. Jugendliche mit Helmen aus Hühnerknochen und Draht. Irre Frauen in schmutzverkrusteten Schürzen, die auf Arabisch, Lettisch, Tagalog und Französisch brüllten. Ein Sumpfpirat mit strähnigem Haar bis zur Hüfte und einer offenen Weste, unter der eine Kette aus sechs geschwärzten Menschenohren an einer Schnur zum Vorschein kam.
Der Fahrer, ein ehemaliger Farmer mit gemeinen Zügen, öffnete die Tür, stieg aus, griff in die Fahrerkabine und zog eine Eisenkette vom Boden.
»Kami ay labanan sa dulo!«
»Na dann, leg los, kleine Lady«, sagte der Fahrer, und plötzlich explodierte der Müll auf dem Truck. Zwanzig Männer, die stanken, als wären sie der Jauchegrube des Teufels entstiegen, sprangen aus dem Abfall und seitlich von der Ladefläche herunter, sie waren bis an die Zähne mit Ketten, Gürteln, Flaschen, Peitschen und Knüppeln bewaffnet.
Dort auf dem trostlosen Flachland schlachtete ein Damnificado den anderen ab. Sie schlugen sich mit Fäusten, prügelten sich wie im Mittelalter, pulverisierten einander die Schädel, ließen gegenseitig ihre Rippen splittern, hackten sich die Arme ab. Das Ächzen war lange und laut, bis ein eigenartiger Sturm durch die Wolken brach und das Schlachtfeld unter Wasser setzte, den Staub befeuchtete, das Blut verwässerte, einen Trommelwirbel auf den Blechdächern erklingen ließ.
Der Fahrer lag tot in einem dürftigen Grab aus verregneten Plastiktüten und zerfransten Seilen, sein Arm am Ellbogen abgetrennt drei Meter weiter, die Hand an dessen Ende hielt noch immer den Schlüssel zum Truck. Einer von sechs Überlebenden auf der Seite der Müllbringer bog die toten Finger auseinander, nahm den Schlüssel und rannte durch den Regen. Er sprang in die Kabine, ließ den Motor an und raste nach Hause, nach Favelada, der Papagei des Fahrers krächzte ihm dabei ins Ohr.
Das Haus der Blumen befand sich am Rand des Townships. Über Nacht kamen Nachbarn und Fast-Nachbarn dazu – halb fertige Betonmauern, von der Straße aufgesammelte Holzbretter, Wellblechdächer mit aufgereihten Schieferplatten. Paletten als Betten. Waschwannen aus Plastik für alles, das gewaschen werden konnte – Besteck, Kleidung, Gesichter, Körper. Nägel wurden in Wände geschlagen, von denen Handtücher, Töpfe und Pfannen hingen. In der Regenzeit versanken diese provisorischen Häuser in Strömen aus Schlamm. Die undichten Stellen in den Dächern verwandelten sich in tellergroße Löcher, Eimer darunter sammelten den in Strömen herunterprasselnden Regen. Manchmal wurde an einem einzigen Tag oder in einer einzigen Nacht ein Haus fortgeschwemmt, die Familie verschwand an einen höhergelegenen Ort.
Nachts auf den Hügeln leuchteten die Lichter der Shantytowns wie wachsame Augen. Die klapprigen Häuser standen dicht gedrängt, kletterten übereinander, als wäre es so behaglicher. Die Straße, die sich den Hang hinaufschlängelte, war gepflastert und stank nach zermatschtem Obst, Ungeziefer lag aufgebläht und tot in Pfützen. Wo sie ölig waren, erschienen Bruchstücke von Regenbogen. In den Straßen selbst roch es übel und faulig, sonnenverbrannte Kinder verwahrlosten in übergroßen T-Shirts, trugen Schuhe mit Löchern, in denen eigentlich Schnürsenkel stecken sollten, und jagten abgemagerten wilden Hunden nach.
Aber hier auf dem flachen Land, wo sich das Haus der Blumen befand, waren keine Müllhaufen zu sehen. In Favelada herrschte lange schon Ordnung. Samuel und Anna und tausend andere Migranten hatten das Kostbarste mitgebracht, was Favelada je gesehen hatte: Frieden und Familie. Und obwohl in den windschiefen Häusern weiter die Fernseher plapperten und das Gezänk das Viertel nie lange verließ, schien die Zeit der Zerstörung – die der Müllkriege – vorbei zu sein. Ja, Favelada war arm, aber es gab Lehrer wie Samuel. Eine Meile weit entfernt gab es eine Bibliothek. Ein Arzt aus Zerbera und ein Zahnarzt aus Oameni Morti bauten kostenlose Kliniken am Rande der Stadt. Schulen wurden eröffnet.
Und das Ödland, wo die Bewohner von Favelada ihren Müll abluden, wurde von einem Mann namens Alberto Torres übernommen. Einem Geschäftsmann. Er baute Unterkünfte in der Nähe und ließ die Bewohner dorthin umziehen, und in einem fünf Jahre andauernden Anfall von Wahnsinn baute er einen Turm sechzig Stockwerke hoch in den Himmel. Den Torre de Torres, den Turm von Torres. Den Monolithen. Er wohnte dort ebenso wie seine Söhne und Töchter und die Söhne und Töchter seiner Söhne und Töchter und seine entfernten Vettern zweiten Grades und alle Menschen namens Torres, die behaupteten, weitläufig mit ihm verwandt zu sein, und Menschen, die nicht Torres hießen und auch nichts dergleichen behaupteten. Der Sohn von Alberto Torres, Alberto Torres II, neigte zu Anfällen syphilitischen Wahnsinns und ernannte sich später selbst zum Bürgermeister des Turms. Er sah zu, wie sich sein Vetter fünfzehnten Grades, der so verrückt war wie ein Kuckuck im Einmachglas, mit einem Fallschirm, der nicht aufging, aus dem fünfzigsten Stockwerk stürzte.
Aber das war lange nach den Müllkriegen und lange vor dem Aufstand und dem Aufstieg des Krüppels namens Nacho, der sich in seinem Holzbett wälzte, ein Buch vor der Nase, während sein zerzaustes Haar auf seinem Schädel wucherte wie Unkraut auf einem Feld. Seine Mutter setzt ihn sich auf den Schoß und kämmt es von hinten, entwirrt die verhedderten Haare und lässt sie gleichmäßiger wirken, den Anschein erwecken, als würden diese abtrünnigen Gewächse zumindest alle in dieselbe Richtung streben.
Und wenigstens wachsen sie. Der Rest seines Körpers nicht. Mit zwölf ist er einen Meter dreiundfünfzig groß und so wird es sein Leben lang bleiben, obwohl ihn sein Haar an windigen Tagen vielleicht sogar auf einssiebenundsechzig bringt. Es hat auch seine Vorteile. Er gewinnt beim Versteckenspielen, rollt sich in einem Wäschekorb in einer Zimmerecke ein. Und er beherrscht das ungesehen Umhergehen, das aus dem Halbdunkel Beobachten, er passt in Ritzen und Spalten, in die sonst niemand schaut. Er hat die Farbe eines Indios, leicht bräunlich, aber kaukasische Züge – eine gerade, kräftige Nase, dünne Lippen, blaugraue Augen. Obwohl sein Körper krumm und verkrüppelt ist, wirkt sein Gesicht engelhaft. Er wird immer jünger wirken, als er ist. Erst die Sorgen seines späteren Lebens, die Auseinandersetzungen mit Armeen, Despoten und Bürokraten, werden ihm das engelhafte Aussehen nehmen, ihm die Falten und Furchen des Mannseins bescheren.
Emil, der Rabauke, nimmt Sachen auseinander und repariert sie. Bei seinen Streifzügen findet er einen von Unkraut halb überwucherten, stehen gelassenen Wagen. Er klettert in die rostige Karosserie, dann wieder heraus. Er öffnet die Motorhaube und spielt mit dem Motor, versucht irgendetwas zu zünden.
An einem anderen Tag findet er ein kaputtes Radio auf einer Müllhalde und nimmt es zum Reparieren mit nach Hause. Er zerlegt es auf dem Familientisch, Samuel beugt sich über ihn, Emil sucht, dreht und steckt Nägel hinein, wo keine hingehören.
»Was machst du da?«, fragt sein Vater.
»Ich baue einen Roboter.«
Als Nacho dreizehn ist, fahren Emil und er mit dem Bus zum Fluss. Die Sonne brennt und sie ziehen ihre Schuhe aus, tauchen die Füße ins Wasser. Emil geht zu einem Haufen von Zweigen und Schilf am Ufer und sieht sich neugierig um, hebt kleine Äste auf. Sie gehen weiter und finden einen Berg Gerümpel, Holzreste und ein Brett auf einem Bett aus schmutzig braunem Schaumstoff. Nacho sitzt auf einem Felsen, krempelt sich die Hosenbeine hoch und sonnt sich, sein verkümmertes Bein baumelt hinunter. Emil beginnt ein Floß zu bauen, zieht Stöcke aneinander und bindet sie mit Zwirn zusammen. Er lässt es zu Wasser, aber es sinkt, bis nur noch ein Lumpenfetzen, der das Segel war, zu sehen ist. Dann geht auch dieser leise unter, hinterlässt Ringe auf dem Wasser.
Sie werden noch viele Male an diesen Fluss gehen, noch viele Boote bauen, und sie werden kippen, beben und schließlich untergehen. Und Emil wird immer weiter Boote bauen, eines Tages viele Menschen damit retten und zur Liebe seines Lebens fahren.
KAPITEL 5
Regen – Vor der Flut Geflüchtete kommen zum Turm – Kaputte Psychologen – Susana – Das Antlitz Jesu
Die Regenzeit kommt spät. Aber als sie kommt, trifft sie die Shantytowns Agua Suja und Oameni Morti schwer, lässt die Wände der klapprigen Anbauten und Verschläge im Matsch abrutschen. Die notdürftigen Straßen verwandeln sich in Ströme, und ein Wagen schlingert fahrerlos wie betrunken den Hang hinunter, fast wie auf Kufen. Das Wasser gewinnt an Fahrt und reißt Trümmer mit. Fahrräder schlittern hinunter, Felsen, Betonbrocken, Holzkisten, Reifen, ein Kanarienvogel in einem Käfig, entwurzelte Sträucher. Ein totes, aufgedunsenes Schaf hüpft wie ein angestochener Ball hangabwärts. Ein Fluss aus Schlamm, der alles mit sich reißt, schlägt eine Rinne zwischen die Häuser. Ein Junge klammert sich an ein Dach. Ein Hund stürzt dreißig Meter tief und überlebt, indem er sich an die Leisten eines kaputten Fasses klammert. Ganze Häuser werden vernichtet.
Alleine in Oameni Morti werden weitere sechshundert Menschen obdachlos. Ein Drittel von ihnen zieht in die nächste Stadt und findet in Favelada den Turm, von dem sie gehört haben. Den Torre de Torres. Wo ein Krüppel das Sagen hat und ein riesiger Chinese für Ordnung sorgt. Schmutzig und zerrüttet kommen sie in Gruppen an, völlig durchweicht. Der Regen schneidet scharf herunter, kommt mit dem heißen Wind heran. Die Damnificados von Oameni Morti überqueren die Straße und einer ruft Nachos Namen, aber seine Stimme geht im prasselnden Regen unter. Nacho erscheint an der Tür und winkt sie heran in die Vorhalle. Er hat diese Gesichter schon einmal gesehen. Und diese Lumpen. Die Kinder in schmutzigen T-Shirts und knielangen Shorts.
»Wir lassen Lebensmittel holen«, sagt er. »Ihr könnt im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Stock wohnen. Noch ist dort nichts, aber wir arbeiten daran. Und die Räume sind sauber.«
Wortlos steigen die neuen Damnificados die Treppe hinauf. Einige legen sich sofort hin und schlafen auf den Betonböden ein. Andere sitzen an den Fensteröffnungen und schauen hinaus in die Dunkelheit, wo der Regen Lichtstrahlen aus der Neonstadt einfängt, die Straßen überflutet und das alte Ödland um den Turm herum in einen Sumpf verwandelt.
Minuten später treffen weitere einhundert aus Agua Suja ein.
»Es sind zu viele«, sagt Hans und schaut von seinem Balkon im fünfzehnten Stock. Dieter lächelt.
»Zu viele? Wir können sie nicht wegschicken.«
»Du hast Recht. Nacho würde sie niemals wegschicken. Was hat die Lady da über ihren Hund gesagt?«
»Welche Lady?«
»Die mit der Schubkarre.«
»Sie sind wie wir.«
»Sie sind wie wir. Hunde sind wie wir. Und diese Menschen auch. Willkommen.«
Fünfzehn Stockwerke tiefer sagt Nacho zu dem Priester: »Das ist erst der Anfang der Überschwemmungen.«
Und der Priester erwidert: »Bau eine Arche. Für tausend Menschen.«
Nacho schaut zum Himmel und zum Priester. »Wir sitzen schon drin.«
Aber sie wissen nicht, dass der Regen bald zur Flut werden wird, zu einer Überschwemmung, wie man sie hier seit hundert Jahren nicht mehr erlebt hat.
Die Leute aus Agua Suja bringen Schätze mit: zwei ausgebildete Lehrer, einen Mechaniker, einen Psychologen und eine Frau, die Nacho mit lächelnden Augen ansieht. Ihr Name ist Susana.
Die Lehrer sind jung und anders als Nacho unterrichten sie beide Kinder. Er setzt sie in den fünfzehnten und den fünfundzwanzigsten Stock und schickt den Chinesen mit riesigen Papierrollen, Tafeln und ganzen Händen voller gestohlener Kulis hinauf. Er erfährt, dass in einer der normalen Schulen in der Gegend das Schuljahr endet, die Zwillinge gehen und plündern deren Müllcontainer. Sie bringen eine Lasterladung zerfledderter, zerrissener Bücher mit, die aber noch lesbar sind: eine Anthologie mit Gedichten, fünfundzwanzig Geschichtsbücher, bereits vor dreißig Jahren erschienen, eine Kiste mit verschiedenen Romanen mit an den Rand gekritzelten Bemerkungen, Fibeln, Einführungen in die Mathematik und zwei vom Schimmel feuchte Bände einer Enzyklopädie von insgesamt fünf: A-E und K-N. Sie würden ohne das restliche Alphabet leben müssen.
Nacho lädt den Psychologen Dewald zu sich in seinen kargen Raum ein. Er braucht Männer und Frauen, die ihm beim Anleiten helfen. Er will dem Mann etwas zu trinken anbieten, merkt aber, dass es das letzte ist, was Dewald braucht. Nacho sieht, dass Dewald in seinem alten Leben getrunken hat, sieht die weiße Stelle auf seiner braunen Haut, wo einst der Ehering saß. Er betrachtet Dewalds müde Augen mit den schweren Tränensäcken darunter, sie sind beinahe blau. Der zottelige Bart ist grau meliert. Er ist ein Mann, denkt Nacho, der vermutlich zu viel gesehen hat, obwohl Nacho spürt, dass Dewald kaum älter ist als er selbst, vielleicht vierzig, vielleicht fünfundvierzig. Sie sprechen eine Weile über Agua Suja, dann schiebt Nacho Müdigkeit vor und wünscht ihm eine gute Nacht.
Die Frau ist anders. Er lächelt sie an und sie erwidert seinen Blick. Als er sich im Spiegel betrachtet, was er selten tut, sieht er ein von Sorgen gezeichnetes Gesicht, aus dem das Jungenhafte verschwunden ist, die Haare zerzaust wie von einem Tornado, der halbe Körper verkümmert, die andere Hälfte drahtig. Einzig unverändert ist das Muttermal unter seinem Auge, ein vollkommen runder, dunkelbrauner Fleck. Nacho besteht nur aus Haut und Knochen, über seine Arme und seine Stirn ziehen sich dicke grüne Venen wie Schnüre. Er hat nie erwartet, zu erfahren, wie sich eine Frau anfühlt, ihren Geruch zu riechen, ihre Aura zu spüren. Als Erwachsener ist er nie einer nahe gekommen. Dennoch ist er nicht ohne Begehren. In seinem Leben vor den Damnificados hat er schöne Frauen gesehen, in vielen Sprachen mit ihnen gesprochen. Einmal hat er eine Frau zum Lachen gebracht und gesehen, wie sie die Augen schloss und den Kopf zurückwarf, und dieses Bild ist ihm immer vor Augen geblieben.
Emil war es, der Frauen in Verzückung brachte, sie unbekannten Sinnesfreuden entgegentaumeln ließ. Emil mit seinem Schneid, seinem raschen Verstand, seiner Furchtlosigkeit. Emil, der einmal einen tollen Witz riss, als sie in einem Kreis von Freunden um ein Feuer saßen. Bevor das Gelächter verklungen war, stand er auf, ging zehn Meter und sprang mit einem einzigen Satz auf eine hohe Mauer, um die Sonne aufgehen zu sehen. Dabei landete er, ohne seine Hände zu benutzen, in einer einzigen geschmeidigen Bewegung oben auf dem schmalen Sims. Nacho blieb still im Licht der Flammen sitzen und sah, dass alle Mädchen in der Gruppe den Umriss seines Bruders vor der aufgehenden Sonne betrachteten.
Aber mit Susana hatte er zumindest Blicke gewechselt. Von weitem lässt sich ihr Alter unmöglich erraten. Einmal sieht er sie mit einigen anderen Frauen Wäsche waschen und er kommt näher, unter dem Vorwand, fragen zu wollen, ob die Pumpe funktioniert. Von hinten und dann von der Seite betrachtet, vermutet er, dass sie älter ist als er, vielleicht zehn Jahre, und ein bisschen verlässt ihn der Mut, aber sie ist eine gut aussehende Frau. Sie ist klein, hat hohe Wangenknochen, eine bräunliche Haut und ist immer sauber. Er stellt seine Frage und eine der anderen Frauen antwortet, ja, die Pumpe ist in Ordnung, und er wendet sich rasch ab und geht zurück in den Turm.
Einige Tage nach der Ankunft der Männer und Frauen aus Agua Suja hört man Gepolter von oben. Schreie und Glockenschläge erheben sich über den prasselnden Regen. Mit Baritonstimme singt jemand eine a capella-Hymne und dann ein zweites Mal noch lauter. Nacho wacht auf, erhebt sich schwankend von seiner Palette, reibt sich die Augen und zieht sich eine braune Hose über. Er schließt den Gürtel und schlüpft in ein T-Shirt. Er nimmt seine Muletas, die an der Wand lehnen. Der Lärm ist jetzt in menschliches Raunen übergegangen. Er legt drei Treppen nach oben zurück und sieht eine Schlange von Menschen im Treppenhaus, zusammengekauert wegen des Regens.
»Es ist ein Wunder«, sagt eine Frau in einem roten Kleid.
»Gott hat uns besucht«, sagt ein Buckliger im Schlafanzug.
Nacho sieht Regenmantel in der Schlange.
»Was ist passiert?«, fragt er.
»Auf einem Brotlaib ist das Antlitz Jesu erschienen. Klingt für mich nach Betrug. So einen Blödsinn hab ich schon mal gehört. Aber ich dachte, ich seh’s mir mal an. Die Wichser verlangen einen Libro pro Minute. Fünfzig Corazons für Kinder. Neugeborene sind kostenlos.«
In der Schlange stehen lauter Kinder, Hunde, alte Frauen, Betrunkene, ehemalige Bergarbeiter, Trauernde, Geschlagene. Allesamt Damnificados.
Nacho zieht weiter, sieht ein improvisiertes Schild an der Tür der Bäckerei: »Bilt von ›Jesus Christus‹ 1 Libro 1 Minute, Unter 12 Jahre 50 Crzn, Neugeborene umsonst.«
Ein brasilianischer Farmarbeiter erkennt ihn und sagt: »Tritt ein, Nachinho. Pode entrar. Voce nao precisa ’sperar com’a gente.«
Nacho dankt ihm und sagt, dass er wie alle anderen in der Schlange warten wird. Er geht wieder zurück ans Ende. Als Nächstes kommt eine Familie, die Augen der Kinder strahlen, jedes trägt eine Plastikpuppe, mit der es Französisch spricht. Dann ein paar einzelne Nachzügler, ein Mann, der ein Spinnennetz ins Gesicht tätowiert hat, ein Junkie auf Entzug, eine Frau mittleren Alters gestützt auf einen Stock. Nacho denkt, ich kenne diese Menschen nicht. Erreicht man eine gewisse Anzahl, eine gewisse Masse, verliert man den Bezug.
In der Schlange geht es nur langsam voran, jeder hat eine Minute. Nacho sieht, wie sich die Wolken zusammenziehen, sich für das Gewitter des Tages bereit machen. Sie warten dort im harten Licht, ein Fresko der Verdammten, schlurfen weiter, um den Herrn zu betrachten. Als Nacho sich der Tür nähert, sieht er die Besucher nach Ablauf ihrer Minute herauskommen. Eine dicke schwarze Frau kommt an ihm vorbei, bekreuzigt sich. Eine Minute später folgt ihr ein Säufer, der ruft: »Es ist Jesus! Es ist Jesus!«, dann erleidet er einen Hustenanfall.
Nacho sieht jetzt den Eingang zur Bäckerei. Er ist mit einem schwarzen Tuch verhangen und davor sitzt einer der Bäcker auf einem Hocker. Sein Bruder steht neben ihm, eine große Farbdose in der Hand. Die Dose ist voller Geld. Sie sehen Nacho.
»Du musst nicht zahlen. Komm herein.«
Die Schlange teilt sich, als sie ihn durchlassen.
Sie ziehen den Schleier beiseite und Nacho tritt ein. Er ist hundert Mal dort gewesen. Der vertraute Geruch nach gebackenem Brot, die aus Milchsteigen gezimmerten Regale, der Tresen aus Linoleum und Glas. Er wird in den Bereich weiter hinten geführt, wo der Ofen die halbe Wand einnimmt. Zwei weitere Brüder noch in ihren weißen Kitteln machen ihm Zeichen, er möge vortreten. Nacho bleibt an einem Tisch stehen, beugt sich darüber und sieht einen großen ovalen Laib auf einem Stück Papier. Darauf in einem dunkleren Braunton eingeprägt ist der exakte Umriss von Christus am Kreuz, die Arme diagonal, die Knie gebeugt, der Kopf geneigt. Das Kreuz erstreckt sich über die Länge des Laibs.
»Wir haben es heute Morgen gebacken«, sagt einer der Brüder. »Es kam so aus dem Ofen. Ich hab’s gleich gesehen. Und Harry hier gerufen.«
»Er hat mich geweckt«, sagt Harry.
»Ich musste sicher sein, dass ich mir’s nicht bloß einbilde.«
»Der Mistkerl hat mich geweckt und gesagt, Jesus ist auf einem Brot.«
»Hab ihn geweckt. Er hat es sich angesehen.«
»Hab’s mir angesehen.«
»Hat gesagt, das ist Jesus am Kreuz. Ich hab dann noch die anderen Brote gebacken. Die Leute müssen trotzdem essen, Jesus hin oder her.«
»Und ich hab die Glocke geläutet, gesungen, allen erzählt, was ich gesehen habe.«
»Harry hat gesungen. Hat eine ganz schöne Stimme. Dad hat gesagt, schreib ein Schild, lass die Leute bezahlen.«
»Hab ein Schild geschrieben.«
Nacho sagt: »Was wollt ihr machen mit dem Brot?«
Harry und der andere sehen einander an.
Harry: »Wir wissen es nicht. So weit sind wir noch nicht. Vielleicht stellen wir’s ins Museum?«
Der andere Mann: »Mach einen Rahmen drum. Stell’s auf ein Podest.«
Nacho: »Auf einen Sockel. Da wird es schimmeln.«
Harry: »Vielleicht nicht. Ist ja ein Wunderlaib.«
Harry nickt zur Bestätigung seiner eigenen Bermerkung. »Ein Wunderlaib.«
Aber es sollte keinen Rahmen und keinen Sockel geben. Auch kein Museum.
Fünf Minuten nachdem Nacho gegangen ist, bezahlt ein Irrer seinen Libro, nimmt den Laib und beißt Jesus den Kopf ab. Die Brüder zwingen ihn zu Boden und Harry hat ihn schon halb erwürgt, als zwei andere seiner Brüder – die Wächter vor der Tür – den Lärm hören, hereinkommen und ihn zurückhalten. Ein Raunen geht durch die draußen wartende Menge.
»Er hat ihn gegessen«, sagt ein Zehnjähriger.
»Er hat Jesus gegessen?«, fragt ein Betrunkener, der an der Bäckereiwand schwitzt.
»Er hat ihm den Kopf abgebissen«, sagt eine Putzfrau aus Agua Suja.
»Er hat den Herrn ermordet«, behauptet eine Hure, ihre Unterlippe bebt.
»Er ist ein Teufelsanbeter«, sagt ein Teufelsanbeter aus Fellahin.
In der Bäckerei macht sich Harry von seinen Brüdern los. Er wendet sich an den Irren. »Dafür wirst du bezahlen!«
»Hab ich schon«, sagt der Brotbeißer. »Einen. Beschissenen. Libro.«
Er schluckt die teigigen Überreste des Herrn Jesus und geht zur Tür hinaus in den peitschenden Regen.
Susana verbringt ihre Zeit mit einer anderen Frau von ähnlicher Statur und Aussehen. Nacho denkt, dass sie vielleicht Schwestern sind, aber er fragt nicht nach. Sie leben zusammen im sechzehnten Stock in einem von Sperrholzplatten unterteilten Raum. Jeden Morgen sieht er sie gemeinsam aus dem Turm zur Arbeit gehen, sie machen in den Häusern der Reichen drüben in der Cadenza Street sauber. Es ist ein langer Weg, aber sie gehen zu Fuß, auch im Regen, um das Fahrgeld für den Bus zu sparen. Manchmal sieht Nacho ihnen von seiner Fensteröffnung aus nach, bis sie in der Rottweiler Avenue und außer Sichtweite sind.
Einmal dreht Susana sich um und schaut zum Turm zurück und Nacho bewegt sich so schnell er kann vom Fenster weg und bereut es sofort, denn er kommt sich vor wie ein Kind, das bei einem schweren Vergehen erwischt wurde. Dann überlegt er vernünftig: Der Turm hat sechshundert Fenster. Sie hätte auf jedes einzelne von ungefähr hundertfünfzig auf dieser Seite schauen können. Und vermutlich kann sie sowieso nichts sehen, weil ihr der Regen die Sicht verschwimmen lässt. Und selbst wenn sie mich gesehen hat, ich bin nur ein Mann, der aus dem Fenster schaut. Das bedeutet nicht, dass ich ihr nachspioniere.
Jedenfalls wird Nacho sich bald wegen schlimmerer Dinge Sorgen machen müssen – wegen eines heraufziehenden Unwetters und eines Schwarms, der aus dem Himmel kommt, um sie alle zugrunde zu richten.