Читать книгу: «Als Mariner im Krieg», страница 8
Kaum saßen wir im Dock trocken, so hatte Jessen schon das Schiff über und über gestrichen. Die Ölfarbe wollte aber bei dem Frostwetter nicht trocknen. Aus Kummer darüber ging Jessen nun auch einmal abends an Land, sonst schlief er immer. Ich blieb für ihn an Bord, wo es eisig kalt war, weil wegen der Kesselreinigung die Dampfheizung wegfiel. Auf Deck lag hoher Schnee, und wir hatten kein Wasser. Ich wusch mich in einer sehr fragwürdigen Flüssigkeit, die ich in einem Eimer im Heizraum entdeckte.
Nach neun Uhr kamen die Matrosen vom Urlaub zurück, alle kanonenvoll besoffen. Es war erstaunlich, daß sie auf der steilen Leiter und bei den sonstigen unumgänglichen Kletterpartien im Dock nicht das Genick brachen. Dafür wischten sie mit ihren Hosen und Überziehern Jessens schöne nasse Ölfarbe ab. Einer brachte unseren Hund Bootsmann wieder mit, der, seit er uns entlaufen, groß und struppig geworden war und jedem ersten besten Kuli nachlief. Der Koch hatte Tränen im Auge und behauptete, der Heilige Geist sei ein Stoßvogel. Stüben torkelte in meine Kammer und brachte mir ein Vertrauensvotum aus mit dem Nachsatz, daß gewisse andere Leute dagegen ein paar Messerstiche in die Rippen verdienten. Ich beschwichtigte ihn und ermahnte alle, sich im Logis ruhig zu verhalten. Aber schon wenige Minuten danach erhob sich in diesem Raume eine gewaltige Schlägerei, an der sich dem Klange nach unterschiedliche Inventarstärke beteiligten. Schaffrot und ich lauschten lachend.
Ich ging auf »Seydlitz«. Der Adjutant hatte noch nichts von meinem Gesuch vernommen. Also hatte es der Sperrkommandant nicht weitergegeben.
Es war Aussicht vorhanden, daß »Vulkan« außer Dienst gestellt würde, denn beim Ausklopfen des Kesselsteins stellte sich heraus, daß unser Kessel stellenweise nur noch sieben Millimeter maß, also in Gefahr war, eines Tages zu platzen. Ein Stabsingenieur sollte den Schaden demnächst untersuchen und das entscheidende Wort sprechen. Unsere Leute gaben sich inzwischen Mühe, von den sieben Millimetern noch etwas herunterzuschaben.
Von meiner Liebe erhielt ich den ersten und letzten Brief, sehr sauber geschrieben. »Wilhelmshaven, den 10. Februar 1915. Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß ich aus bestimmten Gründen auf jedes Wiedersehen verzichten muß. Ich will hoffen, daß Sie unser kurzes Beisammensein recht bald vergessen werden. Leben Sie wohl!!! und werden Sie glücklich. M. M.« Ich war traurig.
Die Arbeiter in der Werft hatten schweren Dienst. Diejenigen, die mit dem Luftdruckhammer nieteten, klagten darüber, daß ihre Arme nachts zuckten; manche hatten das Gehör verloren. Man sah viele Arbeiter mit verkrüppelten Gliedmaßen, sah blasse, abgemagerte und schwindsüchtige Gestalten.
Von der Kesselbesichtigung wurde abgesehen. Wir verholten vom Dock in den Bauhafen. Zufällig kamen wir dort wieder neben die »Berlin« zu liegen, die mit geheimnisvollen Sachen beladen wurde. Natürlich klopfte ich gleich einmal auf den Busch, ob etwa ein Maat an der Besatzung fehlte, aber ich hatte kein Glück. Man erzählte mir, der Kommandant der »Berlin« wüßte selbst nicht, wohin die Reise ginge. Er hätte geheime Order, die er erst fünfzig Seemeilen von Land weg öffnen dürfte.
Eichmüller vertraute mir sein neuestes Leid. Er hatte ermittelt, daß in einer gewissen Kneipe ein Signalgast von der Baudivision verkehrte, der aus dem gleichen Heimatdörfchen stammte wie Eichmüller, und dieser hatte ihn schon dreimal besucht, um etwas über Zuhause zu hören, »aber«, sagte Eichmüller wörtlich, »der Kerl ist jedesmal so besoffen, daß er überhaupt nicht mehr weiß, wo er geboren ist.«
Der achtzehnte Februar kam, der wegen des U-Boot-Ultimatums mit Spannung erwartet wurde. Wir erhielten zunächst nur einen Funkspruch »Zwei Zeppeline vermißt«.
Ich übernachtete auf einem romantischen Minenprahm, wo ich mir in einer Hängematte Wanzen und Mandelentzündung holte. Zuvor hatte ich mich aber mit einer Flasche Rum hinter eine Mine verkrochen, um ein Gedicht zu schreiben. Wieviel schöne Gedichte können aus dieser Flasche kommen! Und wieviel Kraft, Vernichtung und Tod mögen in dieser Mine stecken! Ich sann und spann, aber ein Gedicht brachte ich nicht zuwege.
Die anderen Maate vom »Vulkan« sprachen nur noch dienstlich mit mir. Sie hatten auch den Koch gegen mich aufgehetzt. Mir ging‘s wie Deutschland: Ich war von Feinden umringt.
Ich überzeugte mich davon, daß Jessen ein Konto auf der Kreditbank in Gravenstein hatte. Er leugnete das errötend und um das Gespräch abzuleiten, gestand er mir, daß er einen Bandwurm hätte.
Eine schon längst von mir beantragte und sehnlichst erwartete Bescheinigung traf ein, besagend: ich wäre vom 2. bis einschließlich 7. März nach Leipzig und München beurlaubt. Ich durfte aber schon einen Tag früher fahren. Ich schlief nachts unruhig, wälzte mich wie ein Pferd ohne Beine herum und wachte schreiend auf, weil ich geträumt hatte, ich wäre zwischen zwei zusammenscherende Schiffe geraten. Jessen beruhigte mich. Er konnte seines Bandwurms wegen auch nicht schlafen, weshalb er wieder wider ärztliche Verordnung den Bandwurm zu füttern begann, indem er selbst kräftig aß.
Vier Uhr ward ich geweckt. Meine Sachen waren gepackt. Eine Dekade Löhnung war mir vorausbezahlt. Sicherheitshalber gab ich noch einen Morsespruch nach »Seeadler»: »Bitte Routineboot Beurlaubten mitnehmen.«
Erst als ich im Speisewagen saß und der Zug abrollte, verlor ich die dumpfe Furcht, im letzten Moment noch zurückgeholt zu werden. Eine Seligkeit umfing mich, sechs Tage Freiheit!
Diese sechs Tage Urlaub verliefen köstlich. Schon die Bahnfahrten ließ ich auf mich wirken. Überall jubelnde Empfänge, trauriges Abschiednehmen, überall Verwundete, lachende Menschen, ernste Menschen, Soldaten über und über mit Blumen geschmückt. Zu Hause bei den Eltern und Geschwistern wurde ich ebenso verwöhnt wie unterwegs und wie in München von den Freunden und von Tante Selma. Man fragte mich immer wieder: wo steckt eigentlich Prinz Heinrich? Von der Marine sprachen alle mit höchster Achtung, und ich wurde schon unterwegs von fremden Menschen mit Höflichkeiten und Freundlichkeiten überschüttet. Ein Kind schenkte mir aus eigenem Antriebe eine Dicke Berta aus Schokolade. Dicke Berta nannten die Soldaten das neue 42-cm-Geschütz. Auf der Rückfahrt begleitete mich Eichhörnchen bis Bremen. Als sie meinen Blicken entschwunden war, da ward mir zumut, als führe ich nun ins Gefängnis zurück.
Auf »Vulkan« fand ich eine günstige Nachricht vor. Die innere Sperre sollte aufgehoben, unsere Boote außer Dienst gestellt und die Mannschaften an die Kompanie überwiesen werden. Nur ein Boot sollte bleiben, und das war natürlich »Vulkan«. Der Leutnant erlaubte mir nicht, beim Sperrkommandanten vorstellig zu werden. Er und der Sperrkommandant gaben weder Gesuche noch Beschwerden von mir weiter. Das war gegen § 5 der Kriegsartikel. Erst nachdem ich mich hinter Oberleutnant Raichert steckte, hatte ich Erfolg. Ich sollte abgelöst werden. Herr Kaiser teilte mir das zornig mit. Ich fing überglücklich gleich an, meine Sachen zu ordnen. An die Matrosen verteilte ich kleine Andenken, und ich riß die hundert Ansichtskarten von meiner Bordwand. Tante Selma hatte mir in München drei Töpfe Pflaumenmus mitgegeben, die für mehrere Monate reichen sollten. Nicht wissend, wie ich das transportieren sollte, fraß ich zwei Töpfe an einem Nachmittag leer, was ein jämmerliches Leibweh ergab. Aber Leibweh hin, Leibweh her: ich kam von Bord.
Wir gingen abends bei Tonne 16 vor Anker, und ich hatte mich dann in die Koje gepackt, um über mein künftiges Schicksal nachzudenken, als ein Knall übers Wasser hallte. — »Anker auf!« — Ich lief barfuß an Deck. Pechschwarze Nacht. Auf einem Torpedoboot hatte eine Explosion stattgefunden. Wir wanden den Anker hoch und setzten Lichter. Das Unfallboot war von einem Scheinwerfer beleuchtet und bereits von anderen Torpedobooten umringt. Man brauchte unsere Hilfe nicht.
Am nächsten Tage nahmen wir im Hafen Kohlen, und ich schaufelte wie ein Besessener, denn ich wollte mir nicht noch zuletzt Faulheit nachsagen lassen. Da meldete sich ein Maat an Bord, der seinen Kleidersack mitbrachte. Meine Ablösung. Herr Kaiser wollte mich noch ein wenig schikanieren. Ich durfte nicht direkt in die Kaserne, sondern sollte erst mit heraus nach der Sperre fahren und von dort das Routineboot zur Rückfahrt benutzen. Dieses war dann aber schon fort, so daß ich noch eine ungeduldige Nacht auf »Glückauf« verbrachte.
»Melde mich von Bord!«
Leutnant Kaiser gab mir die Hand mit einem sauersüßen Lächeln. »Hoffentlich verwirklichen sich Ihre ...«
Minenabteilung
In der Kaserne fand ich manches verändert, vor allem war die Disziplin strenger geworden und größere Sparsamkeit wurde geübt. Ich mußte mich auf zwanzig Büros anmelden, bis man mich und noch einen Bootsmaat als Korporale in die Stube 45 zu soundso viel Mann steckte. Diese Leute waren meist Rekruten und deshalb gefälliger zu den Maaten als die Leute an Bord. Sie richteten morgens unsere Betten und erledigten kleine Besorgungen für uns. Andererseits war hier das Essen schlechter als an Bord; für große Fresser gab es sogar unzureichend Brot. Manche alten Bekannten traf ich wieder, so einen dicken Maat, der inzwischen auf der »Yorck« gewesen war und sich bei deren Untergang gerettet hatte.
Auf »Vulkan« war mir bei meinem Weggang die Nagelschere abhanden gekommen; nun schliff ich mir meine Krallen an dem großen Küchenschleifstein im Hof.
Morgens wurden wir zu verschiedenen Arbeitsleistungen oder zum Wachegehen ausgesucht und nach allen Richtungen geschickt. Solange ich noch neu war, das heißt: solange mein Gesicht den Vorgesetzten noch nicht bekannt war, schlug ich mich in die Büsche, richtiger gesagt ins Klosett und auf den Trockenboden, als wie im vorigen Jahre. Nur auf dem Personalbüro war ich täglich und bewarb mich.
In der Kantine ging es bunt zu, obwohl das, was es dort zu kaufen gab, teuer und schlecht war. Da saßen alte Matrosen herum, besonders die Leute vom fünften Geschwader, das man als untauglich außer Dienst gestellt hatte, und erzählten von Seegefechten bei Scarboro, Whitby und Yarmouth, oder von Schiffsunfällen, die sie mitgemacht hatten. Die andern hörten ohne Begeisterung und ohne Spannung zu. Wieder andere nahmen den neuen, erst halb eingekleideten Reservisten im Kartenspiel Geld ab, Betrunkene grölten, und jemand schlug aufs Klavier. Dann trat plötzlich eine Ordonnanz ein und rief laut nach einem Manne namens Tick, der von irgendwelchem Büro gesucht wurde. Ein Kochsmaat, der über einem Liebesbrief eingeschlafen war, wachte über dem »Tick?« — »Tick?« — auf und erklärte der Ordonnanz, daß und wann und wie Tick schon lange ums Leben gekommen wäre. Darauf trat mein Feldwebel zu mir und deutete mir an, daß er meine Drückebergerei durchschaut habe, und ich gefälligst morgen mit den anderen antreten sollte.
Beim nächsten Frühappell stand ich prompt im Glied. Ein langer, rothaariger Matrose fiel mir auf, weil er eine englische Marineuniform trug und ein Glasauge hatte. Es war ein Mann von der »Mainz«, dem ein Granatsplitter das Auge ausgeschlagen hatte, und der dann von den Engländern gerettet und gefangengenommen, im übrigen in Gefangenschaft sehr gut behandelt worden war. Später hatte man ihn gegen einen englischen Gefangenen ausgetauscht. Der Feldwebel frug ihn, ob er wieder dienstfähig wäre. »Jawoll.«
Es wurde bekanntgegeben, daß der Osterurlaub gestrichen wäre. Jedoch sollten diejenigen Urlaub erhalten, die bei Verwandten oder Bekannten noch Goldstücke auftrieben, und zwar würde für hundert Mark in Gold ein Tag, für dreihundert Mark drei Tage und für tausend Mark fünf Tage bewilligt. Ich sah in vielen Augen denselben Zorn blitzen, den ich über diesen Trick empfand.
Bei der Dienstverteilung wurde ich zur Wache Südzentrale der Elektrizitätswerke abgeteilt. Mit Musik marschierten wir mittags dorthin. Das Wachtlokal war ungemütlich, aber wir waren gemütlich. Wir sprachen von Zusammenbruch, von Einziehung der Trauringe und spielten Schach und Karten. Ich las Lessings Hamburgische Dramaturgie und verbrühte mir eine Hand mit heißem Kaffee, weil jemand den Untergang der »Magdeburg« so spannend erzählte. Wenn wir Posten standen, so geschah das vor der Inselbrücke. Jedermann, der über die Brücke wollte, mußte sich durch Passierschein ausweisen; bei Offizieren, Deckoffizieren und Fähnrichen mit Portepee genügte es, wenn sie die Parole wußten. Diese letzteren gebärdeten sich meist sehr entrüstet, wenn wir sie ohne Parole nicht durchließen. Mir sauste ein Auto durch, darin Prinz Adalbert saß. Leider erkannte ich ihn zu spät, sonst hätte ich ihn wegen Ausweises, und zwar nicht aus Schikane, bestimmt angehalten. Dann gab es der Zufall, daß Leutnant Kaiser die Brücke passieren wollte und die Parole nicht wußte. Ich raunte sie ihm zu, wir lächelten einander an, und er ging vorbei. Nach vierundzwanzig Stunden wurden wir abgelöst und marschierten durch den fußhohen Schlamm zur Kaserne. Wenn wir begegnenden Offizieren mit Paradeschritt salutieren mußten, spritzte der Schlamm hoch auf. Kinder folgten uns amüsiert und bewarfen uns mit Schnee und Pferdemist; die Wilhelmshavener Zivilisten sahen dem lächelnd zu.
Es folgte eine faule Zeit. Ich lag lange helle Stunden lang in meinem Bett oder ging in dem engen Unteroffiziersverschlag wie ein Königstiger auf und ab oder sah durchs Fenster auf ein Stück Brachland, das von Rekruten zwecks Kartoffelbaues urbar gemacht wurde. Geld hatte ich keins mehr, mein blauer Sweater und die vorletzte Hose waren längst zum Trödler gewandert.
Ein nettes Geschichtchen ging um: Auf einem kleinen Vorpostenboot forderte ein Matrose Sonntagsurlaub mit der Begründung, er wollte zur Kirche. Der Kommandant schlug das Gesuch ab, bekam dann aber offenbar Gewissensbisse, weil er dem Mann die Erlaubnis zum Kirchgang nicht verweigern durfte. Am Sonntag früh wurde der Matrose zum Kommandanten befohlen, der hinter einer Bibel stand und ihm entgegenschrie: »Mütze ab zum Gebet! Vater unser, der du bist im Himmel...« Der Kommandant schnurrte das Gebet herunter und schloß in grimmigem Ton mit den Worten: »...in Ewigkeit Amen. So, nun scheren Sie sich zum Teufel!«
Endlich ward ich aufs Personalbüro gerufen und mit anderen Leuten zur Minenabteilung nach Cuxhaven abkommandiert.
Ein Extrazug führte zweihundert Mann und fünfzig Unteroffiziere nach Cuxhaven. Als wir Oldenburg passierten, sangen wir die verbotene sogenannte Oldenburger Nationalhymne.
O Oldenburg von heute,
Du bist mein Paradies.
Du lieferst alle Leute
Mit große Hand und Fuß.
Quak quak!
Eine Frucht gedeiht im Lande,
Dem Seemann wohlbekannt.
Da schreit die ganze Bande:
Heil dir, du Oldenburger Land!
Quak quak! usw.
Die zweite Strophe bezog sich auf das häufige und gefürchtete Seemannsessen ›Steckrüben oder Oldenburger Südfrüchte‹.
Ich saß zwischen fremden Maaten in einem Frauenabteil und sah durchs Fenster überall winkende Menschen, alte Herren, ernste Frauen, rührende Kinder, und da ward ich seit langem wieder einmal von dem Begriffe Krieg ergriffen. Als wir vom Bahnhof in Cuxhaven einmarschierten, neugierig von den Bürgern betrachtet, rief uns ein Arbeiter zu: »Was wollt ihr hier? Wir haben selbst nichts zu fressen!« Und auf dem Kasernenhof gab es denn ein deprimierend langes Warten, Abzählen und Namenverlesen, bis wir in die verschiedenen Gebäude und Räume verteilt waren. Am meisten enttäuschte uns aber die Nachricht, daß von Urlaub nach Hamburg nicht die Rede wäre. Ich wurde in der sogenannten Süddeichkaserne, einer uralten Holzbaracke, untergebracht. Der Feldwebel, der uns dorthin führte, sagte: »Lassen Sie sich nicht von den Ratten auffressen.«
Außer zwei Kalfaktern waren wir nur Unteroffiziere in der großen Stube 49, die eisigkalt war. Wir erhielten nur wenig Kohle. Brot war noch nicht da. Alles, was wir über Dienst und Leben dort erfragten oder was uns vorgelesen wurde, klang sehr entmutigend. Niemand durfte die Grenzen der Festung überschreiten. Über alle militärischen Dinge mußte strengstes Stillschweigen bewahrt werden. Pünktlich um neun Uhr abends mußte der feindlichen Flieger wegen jedes Licht peinlichst abgeblendet sein. In den Schlafräumen durfte dann überhaupt kein Licht mehr brennen, da war es also nichts mehr mit Aufbleiben und Tagebuchschreiben.
Betreffs unsrer Bestimmung war nichts Genaues in Erfahrung zu bringen, nur daß wir erst einen Minensuch- und Räumkursus durchmachen sollten.
Cuxhaven war ein hübscher Ort und von Stacheldraht umgeben. Auf unserem malerischen Kasernenhof, wo zwischen baufälligen Gebäuden ein Entengraben lief mit einer zierlichen Brücke, gab es allerhand Interessantes zu betrachten, die Batterien, eine unförmige Strandkanone, Scheinwerfer und sonderbares Minengerät.
Abends hatte ich in einer stockdustren Stadt kleine Abenteuer und saß schließlich in einem Café, vergeblich mich bemühend, vielen Offizieren den Rücken zuzudrehen, die alle sich Poussiermädchen an den Tisch geholt hatten.
Vormittags: Turnen, Instruktionsunterricht, Pistolenschießen und Exerzieren. Dann Antreten zum Appell. Da wurden wir aufs Geratewohl verteilt, die eine Gruppe zur zwanzigsten Halbflottille, die andere, und darunter ich, zur »Fliegenden Hilfs-Minen-Such-Division«. Ich war anfangs niedergeschmettert, weil ich befürchtete, wieder auf ein kleines Boot geschickt zu werden. Erst als man mir bedeutete, der Ausdruck »fliegende« wollte besagen, daß wir je nach Bedarf bald hierhin, bald dorthin geschickt werden sollten, gab ich mich zufrieden und versteckte mich sogar vor der ärztlichen Untersuchung.
Beim ersten Unterricht am Minensuch- und Fanggerät staunte ich über die vielen sinnreichen, komplizierten und kostspieligen Apparate, die erforderlich waren, um feindliche Minen aufzustöbern und zu sprengen. Ein Obermaat trug das Theoretische monoton und in eingedroschenen Phrasen vor und zeigte uns dabei die Modelle und ihre einzelnen Teile. Mir kam zugute, daß ich mich schon früher etwas um Minenwesen gekümmert hatte. Anderen wurde die ganze Sache nur dadurch mehr oder weniger verständlich, daß sie Tag für Tag wiederholt wurde. Bald mußten wir selber Rekruten unterrichten.
Ein Maat von uns wurde dazu abgeteilt, mit einer Korporalschaft Rekruten zu exerzieren. Dieser Maat, ein alter Reservist, hatte längst die vorgeschriebenen Kommandos vergessen. Er kommandierte also, was ihm gerade einfiel: »Stillgestanden! — Knie ... beu...eu...eugt!« Die dreißig Mann senkten sich in Kniebeuge. Der Maat wußte plötzlich nicht mehr, was zu kommandieren wäre, damit die Leute wieder die Beine streckten. Er sann und sann. Den Leuten zitterten die Knie in der anstrengenden Haltung. Endlich half sich der Maat, indem er statt des militärisch-turnerischen ein seemännisches Kommando gab: »Langsam aufführen!«
Von Bismarcks hundertstem Geburtstage an mußten wir schon um fünf Uhr aufstehen. Es folgte eine Reihe von Feiertagen mit viel Freizeit und mit festlichen Essenzulagen. Zehnjähriges Bestehen der Minenabteilung und Ostern. Ich suchte einmal in der Stadt das Seemannshaus auf und fand es ebenso fad und verlogen wie alle deutschen Seemannsheime, die ich irgendwo kennengelernt hatte. Dunkle ungeheizte Räume, ein paar christlich-sanfte Unterhaltungsbücher und ebensolche, auch ganz unberührte Zeitungen, ein Billard mit zerschnittenem Tuch und ein sogenanntes Wunschbuch, wo hinein ich keinen Wunsch, sondern eine Beschwerde trug. Außer mir war kein Besucher da. Der angestellte Obermatrose, der mir leuchtete, teilte mir geschwätzig mit, daß die »Karlsruhe« durch eine Explosion im Golf von Mexiko untergegangen und die Hälfte der Besatzung von Haifischen verschlungen wäre. Ich fand netten Anschluß bei meinen Kameraden und zählte bald zu den Hauptspaßmachern. Timm, unser Stubenältester war ein uralter Yankeesailor, der gegen jegliche Arbeit und gegen jede Dienstverordnung opponierte. Allnächtlich kam er humorvoll bezecht zurück und konnte dann nur noch englisch oder seemännisch sprechen. Es gab überhaupt prächtige alte Fahrensleute unter uns, und manches seltene Lied aus Segelschiffstagen klang auf. Bei Schach und Skat freundete ich mich mit dem Schreiber und mit dem Furier an.
Weil uns keine Kohlen mehr geliefert wurden, verfeuerten wir heimlich Schrankbretter und Latten aus dem Dachstuhl. Wir hielten vortrefflich zusammen und lachten bis zum Einschlafen von Bett zu Bett. Kleine Trübungen blieben natürlich nicht aus. Zum Beispiel schnarchte Maat Fö nachts unerträglich, aber wenn wir ihm dann jedesmal eine breite Hand voll Schnupftabak über die Nase schütteten, dann half das. Und »Franz mit dem strahlenden Gesicht« hatte mir, während ich schlief, hundertmal den Stempel »Gott strafe England« ins Gesicht gedrückt. Ich revanchierte mich am Donnerstag mit Ruß, aber am Freitagmorgen fand ich meine einzige blaue Hose in einem gefüllten Wascheimer schwimmend. Darauf gab es in der Nacht zum Sonnabend ein hitziges Bombardement mit geräucherten Schellfischen.
Bootsmaat Stahlhut aus meiner Stube kam vom Urlaub zurück. Am letzten Urlaubstage war seine Frau gestorben. Er hatte telegraphisch um Urlaubsverlängerung gebeten, was ihm aber nicht bewilligt wurde. Und so hatte er die tote Frau mit einem dreijährigen Kind zurücklassen müssen. Ein anderer Maat in der Minenabteilung empfing drei Depeschen: Seine Frau läge im Sterben. Der Urlaub wurde ihm aber erst bewilligt, als sie gestorben war.
Wir waren entrüstet, am meisten Timm. Timm war aber Tag über immer entrüstet. Er warf zum Beispiel eines Mittags seine Erbsensuppe mit Teller und Löffel an die Wand, weil er gehört hatte, wie jemand zu jemandem sagte, ein Freund hätte geschrieben, ihm sei von einer gewissen Person angedeutet, daß die Minenbootmannsmaate nach Beendigung des Krieges nicht gleich entlassen würden, sondern erst die heimischen Gewässer von regulären und wilden Minen säubern müßten.
Krokusse und Mandelbäume blühten schon, als wir »Fliegenden« eine Exkursion nach dem Schießplatz bei Salenburg machten, um Sprengübungen beizuwohnen. In aller Frühe marschierten wir durch die hügelige Heide, durch saubere Dörfchen und an dem Galgenberg vorbei, der unseren Kollegen Störtebeker verewigt. Auf dem Schießplatz waren Wälle aufgeworfen, Schützengräben ausgehoben und alle Vorbereitungen getroffen, um Eisenbahnschienen, Balken, Stahltaue und anderes auf verschiedene Weise, elektrisch und mit Zeitzünder zu sprengen. An hundert Torpedomatrosen und Matrosenartilleristen waren versammelt und Deckoffiziere erklärten die Manipulationen. Da aber ein Regenschauer einsetzte, sah ich mir nur eine Sprengung an und verduftete unter Rauch und Knall mit einigen Kameraden ins Dorf in ein Wirtshaus und von dort über andere Dörfer und Wirtshäuser bis nach Brokeswalde, wo wir so etwas wie einen Arbeiterkommers veranstalteten, tanzten, Mädchen abknutschten, Maikäfer fingen und Maikätzchen an die Mützen steckten.
Unser strenger, aber achtenswerter Feldwebel verlas beim Appell eine Bekanntmachung, daß im Korridor die Tafel mit den Namen der den Heldentod Gefundenhabenden nicht dazu da wäre, um Zigarrenstummel darauf abzulegen.
Andermal rückten wir in Eilmärschen nach dem Hafen, um auf kleinen Schleppern auf See praktisch auszuführen, was wir vom Minenräumen im Schuppen gelernt hatten. Wir fuhren nach Helgoland zu, Cuxhaven und der Küstenort Dunen, wo ein ganzer Häuserkomplex aus artilleristischen Gründen niedergelegt war, blitzten in der Sonne. In der Luft hing ein Schütte-Lanz oder ein Parsival. Zwölf gekaperte Fischdampfer wurden eingebracht. Sie sollten unter holländischer Flagge gefahren sein, aber englische Besatzung haben, die uns wahrscheinlich Minen hingekleckert hatte.
Alles in allem fühlte ich mich jetzt wohl und war zufrieden.
Unser Dienst war nicht schwer, aber auf die Dauer uninteressant. Jeder versuchte ihn durch Schwindeleien, Drückebergereien oder Selbsttäuschungen zu kürzen. »Bitte austreten zu dürfen.« »Bitte austreten zu dürfen.« Das Pissoir war unser Lustschloß. Dort atmete man auf und nahm ein paar Züge von einer Zigarette.
An der Zeugwäsche brauchten wir Unteroffiziere nicht teilzunehmen. Turnen und Unterricht am Minensuchgerät fand im Schuppen statt, wo es wenigstens nicht so kalt war. Gewehre hatten wir nicht, sondern nur altmodische Seitengewehre mit großen Körben, sogenannte Entermesser und Pistolen. Das Exerzieren mit Pistole ward langweilig. »Mit Schulterstück zum Schuß! — Fertig! — Richtung auf die Dachrinne! — Visier zweihundert! — Feuern! — Stopfen! — Durchladen!«
Der Mittagsappell zog sich endlos in die Länge, weil die Privatpost dort verteilt wurde. Während der Verlesung der meist belanglosen Kompaniebefehle —, daß zum Beispiel jeder Mann auf Antrag ein Gesangbuch erhalten könnte, oder daß das Grüßen in der Stadt zu wünschen übrig lasse, — dachten wir in strammer Haltung an die unsrer wartende Erbsensuppe.
Wir unternahmen wieder eine praktische Minensuchfahrt, diesmal elbaufwärts. Auf einem der Schlepper, die wir dazu benutzten, und die alle zu verschiedenen Nummern den englischen Namen Fairplay trugen, lernte ich den jüngsten Matrosen unserer Marine kennen. Es war ein flotter, etwas verwöhnter Bengel von fünfzehn Jahren. Er war früher in Zivil als Decksjunge dort an Bord gewesen, hatte sich bei Kriegsausbruch geweigert, den Schlepper zu verlassen und es beim Admiral durchgesetzt, daß man ihn als Soldaten einkleiden ließ.
Wir hatten bei dieser Exkursion auch Gelegenheit zum Angeln. Im Hafen lag der kleine Kreuzer »Nymphe«, auf dem ich vor mehr als zehn Jahren gedient hatte.
Ich hörte, daß die holländischen Fischdampfer, die neulich eingebracht waren, keine englische, sondern holländische Besatzung hätten. Offenbar, obwohl nicht nachweisbar, hatten sie Spionage für England getrieben. Es war ja so leicht, durch Rauchsignale, durch verabredete Formationssprache und tausend andere Mittel die Engländer über gewisse Beobachtungen zu informieren. Diese Fischdampfer hatten sich seit auffällig langer Zeit in deutschen Gewässern herumgetrieben, und wir maßen ihnen die Schuld dafür bei, daß unserer Flotte kürzlich ein besonderes Unternehmen mißglückt war. Nun schikanierten wir sie wenigstens, indem wir ihre Schiffe einbrachten und erst dann wieder entließen, wenn wir ihre auf deutschem Gebiet gefischten Fische für unsere Rechnung verkauft hatten. Wir liebten die Holländer nicht, und immer wieder tauchte das Gerücht auf, Deutschland träfe Vorbereitungen, um ihnen die Schelde wegzunehmen.
Im Fischereihafen stahl ich mir einen Schellfisch, den ich während des Rückmarsches unterm Überzieher verborgen hielt, nur in eine Postkarte eingewickelt. Abends war Alarm, weil von Oldenburg aus feindliche Flieger gemeldet waren. Sie kamen aber nicht zu uns, sondern statteten wohl der Jade einen Besuch ab. Später leistete ich mir, weil ich das Honorar für eine Novelle erhalten hatte, im Restaurant Fischereihafen eine Pulle Rheinwein zu entgrätetem Steinbutt. Vielleicht war das einer jener holländisch-englisch-deutschen Fische.
Der Furier Petersen sah aus wie ich, nur daß er eine knallrote Nase hatte. Wir wurden immer verwechselt, oder wir wurden Brüder genannt, und wir redeten einander mit Bruder an. Weil unsere Freundschaft von Tag zu Tag inniger wurde, kultivierten wir diese Ähnlichkeit noch, indem wir etwa gleichzeitig unsere Haare ganz glatzekahl scheren oder unsere Barte in gleicher Art zustutzen ließen. Petersen, obwohl ein einfacher Mann, spielte vorzüglich Schach und Skat. Er hatte an einer gewissen Komik dieselbe Freude wie ich, und er besaß einen hervorragenden Humor nebst einer großen Ruhe. Ich hörte einmal zu, wie ein witzloser Feldwebel ihn zur Rede stellte und befragte, wo die fünf Rattenfallen geblieben wären. Petersen antwortete immer wieder ganz ruhig: »Die sind aufgebraucht.« Und dann gab es ein halbstündiges Gespräch hitzig und hitziger einerseits und gleichbleibend sanft andererseits über das Thema: Inwiefern können Rattenfallen aufgebraucht werden? Als Furier und Verwalter von wertvollen Sachen war Petersen natürlich sehr umworben und erhielt unter anderem auch vom Küchenpersonal besondere Bissen zugesteckt. Davon gab er mir stets reichlich ab. Einmal führte er mich in seine Furierkammer, zeigte mir das Material, über das er herrschte und sagte: »So, lieber Bruder, was du davon gebrauchen kannst, das nimm dir.« Ich wollte seine Güte nicht ausnützen und besann mich, daß wir in der Süddeichkaserne keine Klosettanlagen hatten, sondern bei jedem Bedürfnis und so nachts und bei Kälte und Regen ein weites Stück über den Kasernenhof laufen mußten. Ich wählte mir also eine Schachtel Globus-Stiefelfett und einen Nachttopf aus. Mit diesen zwei Geschenken schritt ich über den Exerzierplatz durch die Reihen gedrillt werdender, aber nun lachender Rekruten. Meine Stube war gerührt über meine Stiftung, die jedoch schon nach wenigen Tagen als völlig unzureichend in Vergessenheit geriet.
Diejenigen, die zur zwanzigsten Halbflottille abkommandiert waren, rückten ab nach Kiel. Franz mit dem strahlenden Gesicht hinterließ mir als Abschiedsgeschenk eine Kaffeekanne, in die eine Hartwurst so fest eingezwängt war, daß ich die Kanne sprengen mußte, um die Wurst zu befreien, und die Wurst war dann innen stinkig verdorben. Wir Fliegenden sollten ebenfalls in den nächsten Tagen fortkommen. Ach, ich hatte mich eben so schön eingelebt in dem hübschen Cuxhaven mit seinen alten Bäumen; mit der »Alten Liebe«, den verschiedenen Seezeichen, und ich hatte so nette Bekannte und einen Bruder gefunden.
Feindliche Flieger hatten mehrere offene Ortschaften bombardiert und nach den Zeitungsberichten wie immer nur kleine Kinder oder junge Mädchen getroffen. Und Petersen gab mir im Vertrauen Nachricht davon, daß der kleine Kreuzer »Hamburg« abgesoffen wäre, was ich im Vertrauen weitergab.
Unsere Kasernenbatterien schossen nur nach Versuchsballons, das war für uns Zuschauer ein amüsanter Wettstreit mit Feuerwerk. Abends betrat ich als Unteroffizier vom Dienst das Büro und geriet in einen fidelen Schnack mit einem Feldwebel, der meinen Spaßen gern zuhörte und eine Vorliebe für kleine Wortgeplänkel hatte. Seine frohe Stimmung ausnutzend, fragte ich, ob man mir einen Tag Sonntagsurlaub nach Hamburg geben würde. Er hieß mich gleich ein Gesuch aufsetzen, worin ich als Grund »Besuch meiner Braut, die ich seit vier Jahren nicht gesehen habe«, einsetzte. Der Feldwebel trug das Schreiben sogleich zum Kompanieführer und brachte es als genehmigt zurück.