Читать книгу: «Als Mariner im Krieg», страница 9
Das wurden ein paar unverhoffte, wohltuende Urlaubsstunden in Hamburg, es trübte sie auch nicht, daß die neue Hose, die ich mir dort billig erstand und gleich im Laden anzog, nach einer Stunde schon kürzer wurde und in mehreren Nähten platzte. Ich bummelte durch vertraute Straßen, Gassen und Kneipen, saß und sprach mit Verwundeten und mit Türken und Chinesen. Es wimmelte natürlich in Hamburg von Marinern, aber die Stadt ehrte und unterstützte sie in wirklich großzügiger und vornehmer Weise. Sie wurden schon — und selbstverständlich in gleicher Weise die Landsoldaten — auf dem Bahnhof von Damen des Roten Kreuzes freundlich empfangen und aufs reichlichste und beste bewirtet.
Mir war die Hauptsache, daß ich Meta Seidler aufsuchte. Sie war meine erste Liebe, und ich war ihre erste Liebe gewesen. Obwohl sie seitdem schon lange verheiratet war und mit ihrem Manne, Mutter, Schwester, kreischenden Papageien und schreienden Kindern zwei enge Vorstadtstübchen bewohnte, waren wir doch in alter ungetrübter Herzlichkeit zusammen. Metas Mutter hatte 1901, als ich zur See ging, eine Seemannskneipe sehr brav und liebevoll geführt, und Metas jetziger Mann war auch mit unter den Seeleuten gewesen, die gleich mir um Metas Liebe buhlten. Für uns junge Seefahrer war das eine schöne, unbändige Zeit gewesen. Nach jeder Reise hatte unser Herz mächtig geklopft, wenn wir heimkehrend das alte Schifferwahrzeichen, die Michaeliskirche, erblickten, der gegenüber die Seidlersche Kellerwirtschaft lag.
Ich hatte keine Lust, in den letzten Cuxhavener Tagen noch Dienst zu verrichten, sondern meldete mich zum Erstaunen meiner Kameraden freiwillig auf Wache, nachdem ich mich von Fö verabschiedet hatte, der noch am selben Tage fort mußte, nämlich für zehn Tage in Arrest. Auf Wache packte ich meine Sachen, wusch Taschentücher und hängte sie in die Sonne.
Meine Füße juckten wieder heftig. Mir war, wie vor jedem Wechsel, ein bißchen unbehaglich zumute, und auf der Kasernenhofwüste sah und hörte ich einen rohen Maaten, der einen alten Matrosen zum Strafexerzieren kommandierte. »«Laufschritt marsch marsch! — Hinlegen! — Auf! — Hinlegen! — Auf! — Links schwenkt marsch! — Laufschritt marsch marsch!«
Beim Morgenrot verließen die Fliegenden Cuxhaven, vergeblich bemüht, ein anständiges Lied in Gang zu kriegen. Mein Bruder Petersen gab mir bis zum Bahnhof das Geleite. Wir hatten uns noch in theatralischer Stellung vor der großen Strandkanone fotografieren lassen. Auf dem Bahnsteig in Hamburg wurden uns vom Roten Kreuz Zigarren, Ansichtskarten und Kaffee gereicht. Aber dem folgte die große Enttäuschung: man ließ uns nicht in die Wartehallen, worauf wir uns gefreut und wohin manche von uns ihre Frauen und Bräute bestellt hatten. Wir durften nicht einmal auf den Perron, sondern wurden in einen abgelegenen Keller geführt, der bereits von Infanteristen überfüllt und verraucht war. Die Infanteristen mußten den Keller für uns räumen und dann schloß man hinter uns die Türen ab. Wir waren empört über solche schmachvolle Behandlung. Mir persönlich war es schon vorher gelungen, unter gewissen Vorwänden mich von unserem Trupp loszumachen, und so saß ich nun in der Wartehalle und bestieg später, als es nach Kiel weiterging, ein Zivilistenkupee, wo ich auf der Basis meiner Uniformsicherheit alles zum Lachen brachte.
Festung Friedrichsort und Fischdampfer »Bergedorf«
In Friedrichsort wurden wir in der Festung in den alten, kalten, gewölbten Kasematten untergebracht, die anno 1683 unter Christian V. von den Dänen erbaut waren. Bootsmaat Stahlhut kam mit mir und achtzehn Mann zusammen in einen Raum. Die Leute mußten zum Teil in Hängematten schlafen. Stahlhut war erst 26 Jahre alt. Er saß allabendlich lange ganz traurig vor dem Bilde seiner gestorbenen Frau. Als Stubenältester übernahm ich Bettzeug, Geschirr und sonstiges Inventar, alles abgenutzte, schmutzige Sachen.
Unsere ersten Erkundigungen betrafen Verpflegung und Urlaub. Aber es sollte sogar Garnisonurlaub nur selten bewilligt werden, die Verpflegung lernten wir bald als recht mäßig kennen. Wir sollten drei Wochen lang in dem nahe gelegenen Minendepot Arbeitsdienste verrichten, weil unsere Minensuchboote noch nicht fertiggestellt wären. Die Stunde Arbeit sollte uns mit zehn Pfennig vergütet werden.
Das Kommando war scharf, und die Mannschaften von der Matrosenartillerie, die in dem Fort lagen und die in der strengen Zucht ein sehr geducktes Dasein führten, rissen Mund und Augen auf, als wir Fliegenden am ersten Abend mit Ziehharmonikamusik nach der Kantine zogen und dort eine laute Zecherei anfingen. Auf dem Rückwege verirrte ich mich in den dunklen Gängen zwischen den Wällen und stürzte plötzlich in einen tiefen Keller.
Früh führte man uns nach dem Minendepot und teilte uns gruppenweise zu verschiedenen Dienstleistungen ab. Ich wurde mit einigen Leuten auf die verankerte »Hulk Kondor« beordert. Wir hatten besondere U-Boots-Minen zu übernehmen und an neue Tauchboote abzugeben, die wie große Walfische aussahen, zum Teil auch schon den neuausprobierten buntscheckigen Mimikry-Anstrich hatten. Außerdem sollten wir Deck waschen und die einzelnen Räume aufklaren. Aber wir brachten die Pumpe erst nach langen Versuchen in Gang und nahmen uns im übrigen zu allen Arbeiten geradezu fabelhaft viel Zeit, denn die Deckoffiziere dort kannten unsere Gesichter noch nicht und blieben selbst möglichst gern verborgen. Zum Mittagessen marschierten wir ins Minendepot und nachmittags ergaben wir uns wieder auf der »Hulk« unserem Schlaraffenleben. Zunächst schlief ich einmal neben dem dicken Maat Paasche zwei Stunden auf dem besonnten Deck hinter der Schanze. »Schon wieder zwanzig Pfennige verdient«, sagte Paasche erwachend. Und dann fing Paasche an, aus seiner Schutzmannszeit zu erzählen. Wir fanden unsere Leute — alle mit Werkzeugen in der Hand — teils schlafend, teils aufs Wasser starrend, wo gerade versenkte Torpedobatterien und die sogenannten Periskopminen ausprobiert wurden. Darauf schrieb ich Briefe, die Stunde für zehn Pfennige und strolchte dann durch den minengefüllten Bauch des »Kondor« und von da ins Minendepot, um mir kriegsmaritime Geheimnisse anzusehen.
Am nächsten Tag bei kaltem und trübem Wetter hatte unsere Gruppe mit Matrosenartilleristen zusammen anderswo an einer Torpedonetzsperre zu tun, aber auch dort übernahmen wir uns nicht, sondern fanden sogar noch Muße, Schollen und Aale zu fangen, im Weltkrieg und die Stunde zu zehn Pfennige. Außer Schollen biß der häßliche Seeteufel an, der eigentlich nur aus Rachen besteht, und den sie dort Dänischen Artilleristen nannten. Die Rohlinge unter uns belustigten sich daran, diesen Fischen einen Korken ins Maul zu klemmen und sie dann wieder auszusetzen. Auch die Aale, die nach unserer Meinung in jenem Monate blind waren, spießten wir in sehr grausamer Weise aus dem Schlamm. Abends besah ich mir das Fort. Mit seinen dunklen Gängen, den dicken, von einem Graben umgebenen Mauern, den ehrwürdigen Bäumen und den grün bewachsenen, von schweren Geschützen strotzenden Wällen war es phantastisch poetisch und sah wirklich so aus, wie die Festungen, die in meiner Jugend Kinder wohlhabender Eltern zu Weihnachten geschenkt bekamen. Darüber ward ich melancholisch und griff zur Mandoline, einige Stimmen fielen mit Gesang ein, und dazwischen rief ein Matrose, der sich einen unklaren Anker auf den Oberarm einstechen ließ, von Zeit zu Zeit: »Au! Sachte!« Selbstverständlich tauschten die verschiedenen Gruppen ihre verschiedenen Tageserlebnisse aus.
Am dritten Tag war ich wieder bei denen, die die Aufgabe hatten, schwere Eisendrahtnetze auszubringen und zu verankern. Über uns brausten Wasserflugzeuge hin und her. Auf dem Schlepper »Bussard« erwarb ich mir den Ruf des erfolgreichsten Schollenanglers. Vielleicht hatte ein Kuchenpaket dazu beigetragen, das mir ein armes buckliges Mädchen zugesandt und das ich ins Wasser ausgeschüttet hatte, weil der Kuchen in Staubform angelangt war.
Dadurch, daß wir im Fort nur Quartiergäste, dienstlich aber dem Minendepot unterstellt waren, fiel der Frühappell für uns weg. Man gab uns auch Garnisonurlaub. Um das Fährgeld zu sparen, ging ich zu Fuß über die imposante Hochbrücke bei Holtenau nach Kiel. Dort war großer Betrieb. Hinter der Mauer verteilten Herren, die die Armbinde des Roten Kreuzes trugen, Flugschriften an die weibergierigen Matrosen. In den Traktätchen wurde mit Schlagworten dazu aufgefordert, Laster und Sünden gegen geselligen Verkehr mit Gleichgesinnten und Stärkung durch Gottes Wort im Marineheim einzutauschen. Die Tagesneuigkeit war: die Kriegserklärung Italiens stand bevor. Wie in Wilhelmshaven, so waren auch in Kiel die Maate und Matrosen schlecht angesehen. Auf der Rückfahrt ging mir das schöne Lied »Es geht bei gedämpfter Trommel Klang« nicht aus dem Kopf. Ich sang und summte es so oft vor mich hin, daß ich einen Matrosen damit ansteckte. Der sang es dann ebensooft und so vertieft vor sich hin, daß er beim Anlegen mit den Händen zwischen Fender und Ponton geriet, wobei ihm die Haut von allen zehn Fingern abgequetscht wurde.
Mir ward die willkommene Aufgabe zuteil, mit einigen Leuten nach Kiel zu fahren, um ein Ruderboot von der Bahn abzuholen, das man auf einem bayrischen Gebirgssee zu Minen-Tiefsee-Versuchen verwendet hatte. Ich benutzte die Gelegenheit, um das Christliche Hospiz aufzusuchen, wo ich zehn Jahre zuvor als Einjähriger Matrose gewohnt hatte. Hospiz hieß nur der kleinere, vornehmere Teil des Unternehmens. Das andere war Herberge zur Heimat. Der brave Wirt erkannte mich sofort wieder und führte mir seine inzwischen groß gewordenen Kinder vor. Meine Frage, ob die Herberge durch den Krieg vereinsamt wäre, verneinte er, bedauerte aber, daß ihm nur die schlimmsten Elemente geblieben wären, nämlich die ehemaligen Zuchthäusler, die vom Heeresdienst ausgeschlossen waren.
Andermal — um alles mitgemacht zu haben — meldete ich mich zu dem Posten, den bisher Stahlhut genügend genossen hatte. In einem von Erdmauern und Gitterwerk umgebenen Schuppen hatten wir gewisse, gegen U-Boote bestimmte Minen fertigzustellen und sie mit Sprengstoff und Zünder zu versehen. Wir wurden dazu eingeschlossen, und vor dem Tor und rings um den Schuppen herum standen Posten mit scharf geladenem Gewehr. Es war keine ungefährliche Arbeit, denn die Minen standen dicht an dicht, und es hätte nur einer kleinen Ungeschicklichkeit in der Behandlung der Zünder bedurft, um sie alle in die Luft zu sprengen. Aber wir hämmerten und schlosserten wacker drauflos. Oder wir plauderten mit den Vorarbeitern, und hörten zunickend deren Lamentos über die Torpeder an. Oder der eine oder andere von uns verkroch sich zwecks eines Schläfchens in das Dunkel unter dem eisernen Ballonwald. Paasche nannte das: »Über Erfindungen im Dienste des Vaterlandes nachsinnen.«
Mehrmals wurde ich nach Kiel geschickt, um Kisten abzuholen oder zu befördern, beziehungsweise das Verladen zu beaufsichtigen. Die Beaufsichtigung aber unterließ ich, statt dessen schlich ich mich ins Hospiz oder in den Ratskeller, trank, wenn ich Geld hatte, Wein, aß Möweneier mit Spinat und dichtete. Kurz, es ging mir sündhaft gut. Und im Bewußtsein dessen und vom Weine ging mir manchmal das Herz über, und dann schüttete ich es vor den anderen fliegenden Maaten aus, was mir meistens hinterher Hohn, Neid und Undank einbrachte. Abends lag ich bei schönem Maienwetter auf den Wällen des Forts. Der Rasen war ganz mit leuchtendem Löwenzahn bedeckt, als wenn er mit Goldstücken bepflastert wäre, oder, in unsere Sehnsucht übersetzt, mit zehn Jahren Goldurlaub. Einerseits überblickte man hügeliges Wiesenland und andererseits die See. Eine Schildwache stand auf dem Wall, deren Silhouette sich romantisch vom leuchtenden Himmel abhob. Dazu ertönte die traurige Weise des Zapfenstreiches, und über den Exerzierplatz trug man den Sarg für einen Matrosenartilleristen, der im Lazarett an Blinddarmentzündung gestorben war.
Matrose Engel, der unseren Unteroffiziersverschlag in Ordnung hielt, verhalf mir zu sieben Tagen Urlaub, indem er — er stammte aus einem Bauernhaus — hundertfünfzig Goldmark auf meinen Namen ablieferte, respektive umwechselte. Ich hatte trotzdem noch unbeschreibliche Schwierigkeiten und Laufereien, bis ich den Urlaubsschein erhielt. Auch mußte ich mir Hose, Hemd, Überzieher und Schuhe von verschiedenen Seiten zusammenborgen, denn mein eigenes Zeug war durch den Arbeitsdienst ganz verdreckt und abgerissen.
In Hannover hatte der Zug mehrstündigen Aufenthalt, aber man ließ uns Soldaten nicht in die Stadt, sondern sperrte uns wie in Hamburg wieder in einen Keller ein, und niemand war da, bei dem wir uns beklagen konnten. Ich schrieb eine Beschwerde an das Hannoversche Tageblatt, aber das kam wohl einem Schlage ins Wasser gleich. Wir gerieten in einen Transport von Soldaten, denen in Rußland die Füße oder Beine abgefroren waren, als sie im Schützengraben auf Wache eingeschlafen waren. Ich hatte rührende und oft groteske Gespräche mit Schwerverwundeten, so mit einem komischen Sachsen, dem die Augen ausgeschossen waren.
Mein Ziel war Eisenach und dort das Sprachlehrerinneninstitut meiner Freundin Dora Kurs. Jedesmal, wenn ich dorthin kam, fand ich eine andere Generation junger Mädchen vor. Aber sie hatten von der vorhergehenden schon allerlei über meine Person und über meine tollen Streiche erfahren, und wenn ich — stets unangekündigt — dort plötzlich einbrach, etwa durchs Schlafzimmer der Vorsteherin schlich, deren falschen Reservezopf vom Nachttisch nahm und damit plötzlich ins Klassenzimmer trat, dann war sofort ein lustiger Kontakt da. Diesmal, in Marineuniform, als einziger Mann, wurde ich im Nu Hahn im Korb. Daisy war mein Schwarm der Saison, ein blasses, apartes Mädchen, das sich aus mir gar nichts machte und auch sonst nur ihr eigenes Geschlecht liebte. Vor allem aber besuchte mich Eichhörnchen in Eisenach. Wir unternahmen frohe Ausflüge durchs schöne Thüringer Land. Im Rodensteiner händigte mir der Wirt ein Schreiben von Maulwurf aus. Mit Maulwurf hatte ich mich zwei Jahre zuvor am Fuße der Wartburg verlobt. Dieses Verhältnis war zwar acht Tage später in aller Herzlichkeit gelöst worden, aber unsere gute Freundschaft bestand nach wie vor.
Nach Friedrichsort zurückgekehrt, empfing mich die Trauerkunde, daß Weißgerber gefallen war. Ich mußte an seine schönen Augen denken. — Außerdem gab es kleine, unerquickliche Neuigkeiten, so zum Beispiel, daß unsere Arbeitszulagen vom Reichsmarineamt gestrichen waren, und zwar rückwirkend. Mit diesen Zulagen hatte man uns immer angelockt und uns bewogen, sogar über die Pfingstfeiertage mit Tag- und Nachtschichten zu arbeiten. Wir wurden nun infolgedessen noch fauler, als wir schon waren, und der dicke Paasche kam aus seinem Fliederbusch, wo er so süß unbemerkt schlief, überhaupt nicht mehr heraus. Nur, wenn es etwas Neues zu begucken gab, wenn etwa aufgefischte russische Minen im Depot eingeliefert wurden, strömten wir aus Fliederbüschen, Retiraden und Winkeln zusammen.
Einer unserer Torpedermaate wurde dienstlich und in Zivilkleidung nach Polo geschickt; ich platzte vor Neid. Friedrichsort war mir durch das bequeme oder wenigstens unkriegerische Leben verleidet. Ich wollte Soldat, nicht Arbeiter sein. Wir beschwerten uns wegen der uns versprochenen und dann nicht ausgezahlten Stundengelder. Man versprach uns, das noch zu regeln, dachte aber nicht daran, das zu halten, und währenddessen wurde jetzt strenger und bald sogar fieberhaft auf Tag- und Nachtschichten gearbeitet. Es hieß dann immer: bis morgen müssen soundso viel hundert Minen auf jeden Fall auf das und das Schiff übergegeben sein. Ich verabredete mit Stahlhut, daß abwechselnd einer von uns schlafen sollte. Der andere hatte Obacht zu geben und wenn ein Deckoffizier auftauchte, sofort den Schläfer zu wecken. Mir passierte es aber, daß ein Torpeder ganz plötzlich in den Schuppen trat und der im Winkel träumende Stahlhut gerade in diesem Moment laut im Schlafe zu schreien anfing, als ob er im Seegefecht wäre. Wir warfen schnell einen Packen Holzwolle über sein Gesicht und erstickten damit seine Stimme. Hüben wie drüben betrugen sie sich unrichtig. Einmal marschierten wir nach zehnstündiger schwerer Arbeit — denn wir arbeiteten jetzt wirklich häufig außerordentlich angestrengt — nach dem Fort zurück. Unterwegs hatte ein Matrose von uns im Gliede gelacht und einem Mädchen auf der Straße etwas zugerufen. Ein Offizier hatte das bemerkt und telegraphisch nach der Feste gemeldet. Dort angelangt, mußten wir nun alle, Unteroffiziere wie Matrosen, eine Stunde lang von Feldwebeln kommandiert auf dem staubigen Platz strafexerzieren, und die Matrosenartilleristen sahen lachend zu.
Ich meldete mich im Revier und bat um Befreiung vom Arbeitsdienst, weil mein Unterkiefer geschwollen und meine Füße eitrig waren. Der Oberassistenzarzt erledigte meinen Fall wie alle anderen sehr rasch. »Lymphdrüsenentzündung infolge schlechter Zähne«, sagte er. »Ich kann Sie nicht vom Arbeitsdienst befreien, aber Sie dürfen bequeme Schuhe tragen und sich vom Sanitäter verbinden lassen.« Das tat ich von nun an und markierte Hinken, um allein, statt im Zuge, nach dem Minendepot gehen zu dürfen. Wenn ich unterwegs ein Mädchen sah, vergaß ich manchmal das Hinken.
Von Zeit zu Zeit hatte ich wieder auf der »Hulk« zu tun, im Zwischendeck dort schlosserte ein Matrose, der so wunderschön das deutsche wie auch das englische Samoalied singen konnte, daß ich ihn immer wieder darum anging.
In der Kasematte stürzten wir eines Morgens alle ans Fenster. Was war los? Ein weibliches Wesen, die Kantinenwirtstocher, hängte draußen weibliche Wäschestücke zum Trocknen auf. Die Matrosen witzelten, das Mädchen ging aber klug darauf ein und fragte bei jedem Stück: »Was gefällt Ihnen am besten? Hemden? Unterröcke? Hosen?«
»Hosen!« schrien die Matrosen. Als das Mädchen mittags die getrocknete Wäsche wieder einholte, fand sie an den Hosenbeinen Heringsschwänze angebunden.
Maulwurf schrieb mir über den Fliegerangriff auf Ludwigshafen, der eigentlich der dortigen Sprengstoffabrik Benz gegolten hatte. Dreißig Personen waren dabei getötet, und einer Freundin von Maulwurf war das Herz herausgerissen.
Ich hatte in der Festung die Bekanntschaft eines gebildeten und zuvorkommenden freiwilligen Matrosenartilleristen gemacht. Er war im Zivilberuf Assessor und hieß von Alten. Wir lagen abends im Gras auf den Wällen und sprachen vernünftig über die Versenkung der Lusitania oder andere Kriegsereignisse, oder wir spielten Schach. Von Alten ging stets äußerst gepflegt einher, was sehr wohltuend auf mich wirkte, während ich andererseits es genoß, daß ich mich in der zerlumpten Uniform, die ich anhatte, überall rücksichtslos hinwerfen und lachend in jeden Dreck hineinsetzen konnte. Der ziemlich dicke von Alten war eigentlich mein Untergebener, was ich ihn scherzhaft zuweilen fühlen ließ, andererseits hatte er aber durch seine Bildung und Herkunft einige Fühlung zu Fähnrichen und Offizieren.
Er führte mich auch in dem Einjährigen-Kasino im Fort ein, wo es einen reinen und preiswerten Wein gab.
In Friedrichsort und Kiel sah man nur Marine und wieder Marine. Matrosen als Kellner, als Friseure, als Bademeister und als Musiker, Matrosen zu Pferd, Matrosen auf dem Kutschbock, auf der Post und hinterm Ladentisch. Als ich einmal nach dem gegenüberliegenden Ostseebad Möltenort zum Schwimmen fuhr, traf ich zwar ein Gewimmel von Zivilgästen an, aber diese sehnten sich begreiflicherweise auch nicht nach Marinern und hatten durchweg deprimierende Null-Komma-Null-Gesichter. Das Wasser war wunderbar klar und brach sich in schönen Flächen mit goldigem Glanz; es war, als ob ich in flüssigem Bernstein badete.
Nachts wurde Alarm zur Übung geblasen. Da alles unter der Hand schon darauf vorbereitet war, klappte die Sache gut, und die Artilleristen bollerten vergnügt drauflos. »Achttausend Wasserlinie auf den Lotsendampfer!« Puff!
Die Sonne schien heiß. Ich hatte Durst und verträumte mich in Erinnerung an eine herrliche Bowle in Ilmenau. Ach, und in diesem wie im vergangenen Sommer wuchs für uns kein Radieschen, kein Schnittlauch, kein Salat. Auf den Dächern unserer langgestreckten Kasematten wogten in langen Halmen Gräser, Kornblumen, Mohn und anderes Buntes. Ich legte mich morgens ganz platt auf den Wall ins Gras, um ein Übungsschießen mit Kalibermunition zu beobachten, an dem außer unserem Fort auch die Festung Falkenstein teilnahm. Vorher war bekanntgegeben, daß wir alle Fenster und während des Schießens auch unser Maul aufreißen sollten, damit die Scheiben und Trommelfelle nicht platzten. Das Floß, das die Zielscheibe trug, wurde auf See in zirka fünfeinhalbtausend Meter Entfernung vorbeigeschleppt. Vom Aufblitzen bis zum Einschlagen konnte ich bis sechzig zählen. Mir fiel auf, daß sich die Schwalben weder durch den Knall noch durch den Luftdruck stören ließen, sondern unbekümmert in der Geschoßzone herumjagten. Ich entdeckte sogar ein Schwalbennest, oder richtiger eine Schwalbenhöhle in dem Wall, die nur wenige Zentimeter vom Verschlußstück einer schweren Kanone entfernt war.
Ein achtzehnjähriger Matrose wurde degradiert und auf Festung nach Köln geschickt, weil er ein Spind erbrochen und ein Eisernes Kreuz gestohlen hatte, das er dann stolz in Kiel auf Urlaub trug. »So ein dummer Junge«, sagte Engel, »ein Eisernes Kreuz zu stehlen. Mir kanns gestohlen bleiben!«
Auch die Zahmsten unter uns murrten allmählich über die schwere Arbeit, die wir bei abscheulicher Behandlung und mangelhafter Beköstigung verrichten mußten. Es schien nun wirklich so, als ob man gar nicht daran dachte, uns auf Minenboote zu bringen, vielmehr uns als billige Arbeiter behalten wollte, denn die gelernten Zivilarbeiter wurden nach und nach alle eingezogen.
Wir bekamen nur Zusammengekochtes zu essen, das heißt immer Brühen oder Breiiges, niemals etwas zu beißen. Davon verdarben die Zähne und wurden bröckelig. Die Leute waren alle unterernährt. Täglich meldeten sich viele ins Revier. Die meisten wurden schwungvoll abgewiesen, oft sehr zu Recht. So hatte sich, wie mir ein Sanitätsgast erzählte, kürzlich ein Mann als fieberkrank gemeldet, der als Revierschmarotzer berüchtigt war; der Arzt, als Mensch sehr nett und witzig, hatte ihm ein Thermometer in die Achselhöhle gesteckt und sich dann zu anderen Patienten gewandt, währenddessen sich der Schmarotzer so zu drehen wußte, daß die Thermometerspitze die Dampfheizung berührte. Als der Arzt dann zurückkam und die Temperatur prüfte, rief er: »Mensch, ich kann Sie hier nicht gebrauchen. Sie sind ja schon lange tot. Ab zum Totengräber marsch marsch!«
Aber auch ich mußte für einige Zeit ins Lazarett, weil der Zustand meiner Füße sich verschlimmert hatte. Der Arzt verordnete dicke Mullwickel, das war, wie ich aus Erfahrung wußte, gerade das Verkehrte, denn dadurch wurden die Füße erhitzt. Aber ich ließ mich in Mull wickeln und schwieg, denn man lag im Revier wenigstens sauber, brauchte nicht zu arbeiten und konnte sogar rauchen, weil die Krankenwärter sich wenig um uns kümmerten. Die meisten Patienten waren lungenkrank. Rührend und tragisch zugleich klang es mir, wie manche über ihre zum Teil unheilbaren Krankheiten redeten. »Ich bin fein raus, meine Lunge ist nachweisbar angefressen.« »Mich kann der Doktor nicht abwimmeln, ich bin schon im Frieden zweimal aufgegeben.«
Einige wenige Journalfragmente trieben sich herum. Man las Bruno Franks »Im Eise der Karpathen« als Narkotikum jeden Tag zweimal. Sonst unterhielt man sich über die verspätet und spärlich zu uns dringenden Neuigkeiten, über Weddigens bedauerlichen und geheimnisvollen Tod, über die Einnahme von Lemberg und über das Bombardement von Karlsruhe durch Flieger.
Als ich wieder dienstfähig war, stellte man mir zunächst nur leichte Aufgaben. Ich hatte Leute aus dem Arrestlokal zu holen. Unterwegs schwenkte ich heimlich ab und ließ sie in einer versteckten Gartenlaube verschnaufen und Zigaretten rauchen. Einer von ihnen hatte gerade Geburtstag, und er schenkte mir nachher einen schönen Strauß Moosrosen aus seiner Heimat. Sieben Tage hatte er in einem modrigen und kalten Verlies bei Wasser und Brot und meist ohne Licht zugebracht, weil er zu wiederholten Malen seine Urlaubszeit überschritten hatte.
Ich erwies den Leuten jetzt häufiger kleine Gefälligkeiten, weil ihr Los tatsächlich bedauernswert war. Und mir selbst ward das Einerlei so über, daß ich ernstlich erwog, ob ich nicht desertieren sollte. Es mochte ja beneidenswert erscheinen, daß ich manche Stunde im Grase lag und Paul Heyses »Andrea Delfin« oder Novellen von Karl Kinndt oder Gedichte von Isolde Kurz las, während Eidechsen um mich raschelten. Aber es war doch Krieg. Dieser Krieg war für Isolde Kurz wie für manche andere eine heilige, religiöse Angelegenheit. Mir erschien er nur als eine komplizierte und mehr und mehr an Tragik zunehmende Abwicklung von Intrigen und Händeln zwischen einflußreichen Mächten aller Nationen. Konkurrenzkampf, das heißt in bezug auf Ursache und Ziel, denn wieviel Ergreifendes, Edles und Ehrliches dadurch aufgerüttelt war und unabhängig für sich wirkte, erkannte ich wohl. »Der Krieg ist harte Wahrheit, der Frieden ist weiche Lüge«, schrieb ich auf eine Spindtür.
Damit sich nicht soviel Leute ins Lazarett melden sollten, wurde die Einrichtung getroffen, daß solche, die es taten, auch wenn sie dort als genügend gesund abgewiesen wurden, keinen Urlaub mehr erhielten. Urlaub war die tiefste Sehnsucht der Leute. Nur fort! Einmal wurden zwanzig Matrosen nach Cuxhaven abkommandiert. Das bedeutete nur eine Veränderung, eine Abwechslung, und den Leuten wurden die immer wieder versprochenen Arbeitszulagen verweigert, so daß sie ohne einen Pfennig Geld und ohne Beköstigung die mindestens achtstündige Reise antreten mußten. Aber ich sah sie ihre Kleidersäcke jubelnd packen, und ihr Glücklichsein empfand ich so mit, daß mir ganz warm ums Herz ward. Ich stieg auf den Wall und sah, daß alles Gras über Mittag abgemäht war. Alle diese freien Halme mußten mit eins sterben; ich dachte sentimental an den Krieg.
Da ich meine kaiserlichen Seestiefel an einen Depotarbeiter verkauft hatte, setzte ich mich mit dem Erlös in ein Gartenlokal und schrieb sauber auf Aktenpapier:
Friedrichsort, 20. Juni 1915.
Gesuch des Minenmaaten Hester der Seewehr I (in Zivil Schriftsteller) um Allerhöchste gnädige Abkommandierung zur Front.
Ew. Kaiserliche Majestät, meinen Allerhöchsten Kriegsherrn bitte ich, ausnahmsweise und gnädiglich zu verfügen, daß ich irgendwohin an die Front befohlen werde oder sonstwie Gelegenheit erhalte, zu Wasser oder Lande am unmittelbaren Kampfe teilzunehmen.
Seit dem 2. August vorigen Jahres bis heute habe ich nur hinter der Front dienen dürfen, und seit zwei Monaten habe ich überhaupt nur noch mit Depotarbeiten beschäftigte Leute zu beaufsichtigen. Ich bin jung, gesund, ledig und begeistert, habe mich gut geführt und bin nur ein einziges Mal mit einem strengen Verweis bestraft, weil ich mich trotz Verbotes an die Front nach Flandern bewarb.
Unterschrift: Minenbootsmaat Hester
In Feste Friedrichsort bei Kiel.
Ich steckte den Brief vorsichtshalber in ein zweites Kuvert, das ich an das »K. K. Große Hauptquartier« adressierte.
Von Alten hatte ein paar Tage Urlaub in Hannover verbracht und richtete mir Grüße von Münchhausen aus. Ich berichtete ihm von meinem Gesuch an den Kaiser. Er lächelte: »Na, dann werden Sie wohl derjenige sein, der das neuerbaute Arrestlokal mit vierzehn Tagen einweiht.« Dann polemisierten wir über den Fall eines Bulker Leutnants, der von einem Falkensteiner Offizier in einem Duell erschossen war und dessen Leiche seit gestern in unserem Lazarett lag. Zuletzt kamen wir auf verwunschene Hundeaugen zu sprechen. Von Alten mußte als Gemeiner schon um neun Uhr die Kantine verlassen. Als ich zu späterer Stunde den Rückweg antrat, war es wie eine Spukgeschichte. Der Sturm heulte. Gespenstisch bewegten sich die alten Bäume gegen den fahlgelben Himmel. Kein Mensch begegnete mir. Der Kasernenplatz lag öde. Kein Fenster war erleuchtet, und die Grasborsten der Dächer sträubten sich gegen den Sturm. Ich wandelte nach der Wache, um dort zu bestellen, daß ich morgen um fünf Uhr geweckt werden müßte. Aber wie erstaunte ich, als ich die Wachtstube verschlossen fand und auch mein Klopfen niemanden herbeilockte. Blitze zuckten am Himmel und Donnerschläge erfüllten die Luft. Dann entlud sich ein Platzregen. Ich suchte weiter. Auch am Westtor stand kein Posten. Erst als ich die Zugbrücke überschritt, stieß ich auf einen Wachgänger, der mir nun Aufklärung gab. Die Wachtstube war wegen gewisser Reparaturen in ein anderes Gebäude verlegt.
Der Regen war sehnlichst im Interesse der Ernte erwartet.
Abends saß ich in unserem Verschlag neben dem schweigsamen Stahlhut, der häßliche Damentaschen aus grauem Garn knüpfte. Das war die derzeitige Mode. Früher hatten wir Buddelschiffe geschnitzt. Unsere Leute unterhielten sich: »Was ist eine Arena?« fragte jemand, der offenbar ein Buch las.
»Nun, eine Eisenbahn«, antwortete ein Zweiter.
»Quatsch!« rief ein dritter. »Arena ist ein Geruch, der künstlich gemacht wird.«
»Ach, du meinst ja Aroma. Aber Arena ist ein Stier.«
Dann versuchte jemand, Bayrisch zu singen.
Auf der Alm, da stehat a Kuah,
Macht das Auge auf und zuah.
Ahu ahio ihu!
Für Kapitänleutnant von Nostiz war ein neuer Festungskommandant eingetroffen. Der ordnete an, daß die Unteroffiziere künftig das Deckoffizierskasino mit benutzen dürften. Das taten sie denn auch und gründeten dort einen fürchterlichen Gesangverein, der allabendlich mit Möbelwagenkutscherstimmen unaufhörlich das Lied übte: »Wenn ich den Wandrer frage«.
Kaum war mein Gesuch an den Kaiser abgesandt, so fand ich alle möglichen Anzeichen dafür, daß wir doch auf ein baldiges Fortkommen hoffen konnten. Es war auch ein Haufen Minensuchgerät auf dem Depot eingetroffen. Es kamen einzelne Leute oder auch Gruppen von uns fort, auf das Schiff »Royal« oder ins Lockstedter Lager oder anderswohin. Als Ersatz dafür trafen junge, kurz ausgebildete Rekruten ein, die vor uns Unteroffizieren übereifrig stramm machten und abends mit erfahrungslos junger Begeisterung schwärmten und sangen.