Читать книгу: «John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski», страница 3

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– Und wo gehst du hin, Otto? fragte er.

– Zum Klub. Willst Du nicht mit?

– Ich bin etwas müde. Ich war den ganzen Nachmittag drüben. Dann, da ihm einfiel, dass der andere in diesen Worten nur einen Vorwand für eine Ablehnung sehen möchte, fügte er schneller hinzu: – Aber ich gehe schon mit; es ist eine gute Gelegenheit; sonst komme ich in nächster Zeit doch nicht hin. – Wie lange wir uns überhaupt nicht gesehen haben!

– Ja, fast drei Wochen schon nicht!

– Ich lebe immer mehr für mich. Du weißt es ja. Was soll ich in den Klubs? Diese langen Reden, immer dasselbe: Was sollen sie nützen? Das alles ist nur ermüdend.

Er merkte wohl, wie unangenehm es dem anderen war, was er sagte, und wie sich dieser gleichwohl mit der Richtigkeit seiner Worte abzufinden suchte.

– Ich bin noch immer, wie früher, jeden Sonntagnachmittag von fünf Uhr an zu Hause. Weshalb kommst du nicht mehr?

– Weil bei dir alles Mögliche zusammenkommt! Bourgeois, und Sozialdemokraten, und Literaten, und Individualisten –.

Auban lachte auf.

– Tant mieux. Die Diskussionen können dadurch nur gewinnen. Die Individualisten sind doch die schrecklichsten, nicht wahr, Otto?

Sein Gesicht war völlig verändert. Eben noch finster und verschlossen, zeigte es jetzt einen herzlichen Zug von Freundschaft und Freundlichkeit.

Aber der andere, welcher mit Otto angeredet war und Trupp hieß, schien davon nur unangenehm berührt zu werden, und er nannte einen Namen, der zwar von Aubans Stirn nicht die Ruhe, aber völlig von seinen Lippen das Lächeln scheuchte.

– Fünfzehn Jahre! Und wegen nichts! sagte der Arbeiter grollend und empört. – Aber warum lieferte er sich auch so unvorsichtig in die Hände seiner Feinde? Er musste sie doch kennen.

– Er wurde Verraten!

– Weshalb vertraute er sich anderen an! fragte Auban wieder. – Jeder ist von vornherein verloren, der auf andere baut. Auch das wusste er. Es war ein zweckloses Opfer!

– Ich glaube, du hast keinen Begriff von der Größe seines Opfers und seiner Hingabe, grollte Trupp.

– Lieber Otto, du weißt recht gut, dass mir überhaupt das Gefühl des Verständnisses für alle sogenannten Opfer abgeht. Was hat das Unterliegen des Genossen, des besten, des ehrlichsten vielleicht von allen, für einen Nutzen gehabt? Sage mir das!

– Es hat den Kampf erbitterter gemacht. Es hat die einen aus ihrer Lethargie aufgerüttelt, die anderen – uns – mit neuem Hass erfüllt. Es hat – und seine Augen flammten, während Auban fühlte, wie der Arm, den er hielt, in krampfhaftem Zorn erbebte – es hat in uns den Schwur erneuert, für jeden Gefallenen am Tage der Abrechnung hundertfache Sühne zu fordern!

– Und dann?

– Dann, wenn diese verfluchte Ordnung dem Boden gleich gemacht ist, dann wird sich die freie Gesellschaft auf den Trümmern erheben.

Auban sah wieder auf den heftig Sprechenden nieder, mit dem traurigen, ernsten Blick, mit dem er ihn vorher begrüßt hatte. Er wusste ja, dass in der zerrissenen Brust dieses Mannes nur ein Wunsch und eine Hoffnung noch lebten, die Hoffnung auf den Ausbruch der „großen“, der letzten Revolution!

So waren sie vor Jahren die Boulevards von Paris gegangen, und hatten sich berauscht an den tönenden Worten der Hoffnung; und während Auban längst allen Glauben verloren hatte, nur den einen nicht: An die langsam, langsam wirkende Macht der Vernunft, welche endlich jeden Menschen dahin führen wird, für sich, statt für Andere zu sorgen, und so mehr und mehr auf sich selbst zurückgekommen war, hatte sich der andere ebenso mehr und mehr in den Fanatismus einer Verzweiflung hinein verloren, welcher sich täglich von Neuem das schimmernde Gespenst der „goldenen Zukunft“ vor Augen zauberte und den letzten Halt an der Wirklichkeit aus den Händen gab, welche sich sehnsüchtig und vertrauend um den Nacken der Liebe schmiegten.

– In fünfzehn Jahren, so brach jetzt wieder lodernd die Flamme der Hoffnung aus seinen Worten, – kann viel geschehen! –

Auban antwortete nicht mehr. Er war machtlos diesem Glauben gegenüber. Langsam gingen sie weiter. Die Straßen wurden leerer und stiller. Es lag noch immer dieselbe brütende Feuchtigkeit in der undurchsichtbarer werdenden Luft, wie vor drei Stunden. Der Himmel war eine nebelgraue Wolkenmasse. Die Laternen brannten unstet-flackernd. Zwischen den beiden Männern lag das Schweigen der Entfremdung.

* * *

Sie waren auch äußerlich sehr verschieden.

Auban war größer und hagerer, Trupp muskulöser und proportionierter. Dieser trug einen kurzen, braunen Vollbart, während jener stets mit peinlicher Sorgfalt rasiert war.

Waren sie allein, so sprachen sie stets, wie auch an diesem Abend, französisch miteinander, welches Trupp ohne Mühe, wenn auch nicht ganz korrekt, Auban aber so schnell sprach, dass selbst seine Landsleute oft Mühe hatten, ihm zu folgen. Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang von Härte, der zuweilen der Wärme seiner Lebhaftigkeit, öfter aber noch einer feinen Ironie wich. –

Vor ihnen begann das Gewirr der kleinen und engen Gassen sich zu lichten. Sie stiegen einige Stufen hinauf. Da lag Oxford Street!

– In fünfzehn Jahren, brach Auban das Schweigen, – haben die Ketten der Knechtschaft in den Ländern des Kontinents die Handgelenke der Völker fast durchschnitten, so dass sie sich zum Schlag nicht mehr heben können. Hier werden dieselben Hände in gleicher Zeit gefesselt sein, wie der Mund, der jetzt noch protestiert und sich müde redet.

– Ich kenne die Arbeiter besser als du. Bis dahin werden sie sich längst erhoben haben. – Um mit Kanonen, die selbsttätig in jeder Sekunde einen, und in einer Minute sechzig Schüsse abgeben, niedergemäht zu werden. Ja. Ich kenne die Bourgeoisie besser und ihre Leute.

Sie standen in Oxford Street: in nächtigem Licht und Leben.

– Da sieh hin – glaubst du, dies Leben – fällt mit einem Schlag und durch Einzelner Willen?

– Ja, sagte Trupp und zeigte nach Osten. – Dort liegt die Zukunft. Aber Auban fragte:

– Was ist die Zukunft? Die Zukunft ist der Sozialismus. Die Tötung des Individuums in immer engeren Grenzen. Die gänzliche Unselbständigkeit. Die große Familie. – Lauter Kinder, Kinder... Aber auch das muss durchgemacht werden.

Er lachte bitter und indem er dem Blick seines Freundes folgte: „Dort liegt – Russland!“ Dann schwiegen beide wieder.

Oxford Street dehnte sich aus – eine unsichtbare Linie von verschwimmendem Licht und brausendem Dunkel hinauf und hinunter.

– Es gibt drei London, sagte Auban, gepackt von dem Leben, – drei: London am Samstagabend, wenn es sich betrinkt, um die folgende Woche zu vergessen; London am Sonntag, wenn es seinen Rausch im Schoß der allein seligmachenden Kirche ausschläft; und London, wenn es arbeitet und arbeiten lässt – an den langen, langen Tagen der Woche.

– Ich hasse diese Stadt, sagte der andere.

– Ich liebe sie! sagte Auban leidenschaftlich.

– Wie anders war Paris!

Und die gemeinsamen Erinnerungen tauchten auf.

Aber Auban drängte vorwärts.

– Wir kommen nie zum Klub.

Sie schritten geradeswegs Oxford Street und gingen die nächste Querstraße nach Norden hinauf. Auban stützte sich wieder stark auf den Arm seines Freundes.

– Aber sage jetzt, wie geht es euch?

– Es geht ganz gut, trotzdem wir immer noch keinen „Vorstand“ haben. Erinnerst du dich noch, welcher Lärm sich erhob, als wir seinerzeit den Klub ganz nach kommunistischem Prinzip einrichteten: ohne Vorstand, ohne Beamten, ohne Statuten, ohne Programm und ohne festgesetzte Zwangsbeiträge? Völliger Untergang in Unordnung wurde uns prophezeit und sonst noch alles Mögliche. Aber wir kommen immer noch ganz gut zurecht und in unseren Verhandlungen geht es ganz so zu wie in anderen, wo die Glocke des Präsidenten regiert – es redet immer einer nach dem anderen, wenn er etwas zu sagen hat.

Auban lächelte.

– Ja, sagte er, – das können die Ordnungsschreier nicht verstehen, wie vernünftige Menschen zusammenkommen und zusammenbleiben können, um sich ihre gemeinsamen Interessen zu besprechen, ohne dass der Einzelne seine Zugehörigkeit in Rechten und Pflichten auf einem Wisch garantiert erhält. – Aber daraus, dass dieser Versuch nicht misslungen ist, seht ihr doch noch keinen Beweis für die Möglichkeit der Konstituierung der ganzen menschlichen Gesellschaft auf gleichen Grundlagen? Das wäre doch heller Wahnsinn.

– So, das wäre heller Wahnsinn? Wir finden das nicht. Wir hegen diese Hoffnung, beteuerte Trupp hartnäckig.

Auban fiel ein: „Was macht euer Blatt?“

– Es geht langsam. Liest du es?

– Ja. Aber doch nur selten. Ich habe das wenige Deutsch verlernt, das ich auf der Straße hörte.

– Wir redigieren es auch zusammen. Ohne Kommission, ohne Redakteur. An einem Abend der Woche kommen zusammen, die Lust und Zeit haben, und das Eingelaufene wird verlesen, besprochen und zusammengestellt.

– Deshalb ist der Inhalt aber auch so merkwürdig verschieden und uneinheitlich. Nein, hinter einem Blatte muss eine Persönlichkeit stehen, eine volle, interessante Persönlichkeit –

Trupp unterbrach ihn ungestüm.

– Ja, und dann hätten wir wieder das ‚Führertum’. Aus einem Verwalter wird immer ein Regierer – er sah nicht das beistimmende Nicken Aubans – hier im Kleinen, dort im Großen! Unsere ganze Bewegung hat darunter furchtbar gelitten, unter diesem Zentralismus. Wo im Anfang reine Begeisterung war, ist sie in Selbstgefälligkeit aufgegangen; wirkliches Mitgefühl und Liebe in dem Streben, selbst die Retter zu spielen. So haben wir denn all schon oben und unten, die Herde und den Leithammel, auf der einen Seite den Dünkel, auf der anderen Seite gedankenlose und fanatische Nachbeterei der Parteilehren –.

– Aber du hast mich in der Tat völlig missverstanden. Als ob ich je etwas anderes geglaubt hätte! Ich misstraue überhaupt einem jeden, der sich anmaßt, andere vertreten, für andere sorgen und die Verantwortung für anderer Angelegenheiten auf seine eigenen Schultern nehmen zu wollen. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und lass mich für die meinen sorgen – das ist ein gutes Wort. Und wirklich Anarchismus.

– Ich bin auch Anarchist.

– Nein, mein Freund, das bist du nicht. Du vertrittst in jeder Beziehung das Gegenteil der wirklich anarchistischen Ideen. Du bist durch und durch Kommunist, nicht nur deinen Ansichten, sondern deinem ganzen Empfinden und Wünschen nach.

– Wer will mir das Recht bestreiten, meine Ansichten anarchistisch zu nennen?

– Niemand. Aber ihr bedenkt nicht, welche unheilvolle Verwirrung entsteht durch das Zusammenwerfen so völlig verschiedener Begriffe. Indessen, warum jetzt über die alte Frage streiten! Komm' am Sonntag. Wir können wieder einmal diskutieren. Weshalb nicht?

– Meinetwegen. Du bist und bleibst ja doch der Individualist, zu dem du geworden bist, seitdem du die soziale Frage ‚wissenschaftlich’ studiert hast! Ich wollte, du wärest noch derselbe, der du warst, als ich dich sah in Paris, mein Lieber!

– Nein, ich nicht, Otto! sagte Auban und lachte laut auf.

Trupp war gereizt.

– Du weißt nicht, was du verteidigst! Ist der Individualismus etwa nicht die Entfesselung aller schmutzigen Leidenschaften des Menschen, des Egoismus vor allem, und hat er nicht all' dies Elend geschaffen, – die Freiheit auf der einen – …

Auban blieb stehen und sah den Sprechenden an. – Heute Freiheit des Einzelnen? Heute, wo wir im kompliziertesten und brutalsten Kommunismus stecken, wie nie vorher? Heute, wo der Einzelne von seiner Geburt an bis zu seinem Tode vom Staat, von der Gemeinschaft mit Beschlag belegt wird? – Geh' die Welt zu Ende und sage mir, wo ich diesen Verpflichtungen entgehen und ich sein kann. Ich will hingehen in diese Freiheit, die ich vergebens gesucht habe, so lange ich lebe.

– Aber deine Ansichten geben der Bourgeoisie nur neue Waffen in die Hand. –

– Wenn Ihr die Waffen nicht selbst gebraucht, die einzigen überhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. – Und sicher: Sie, – diese langsam reifenden Ideen des Egoismus (mit Absicht brauche ich dies Wort) – sie sind in gleicher Weise gefährlich den heutigen Zuständen, wie sie es sein werden, wenn wir in den Hafen des alles beglückenden Volksstaates, in den verdichteten Kommunismus, eingelaufen sind – gefährlicher als all' eure Bomben und alle Bajonette und Mitrailleusen der heutigen Machthaber.

– Du hast dich sehr verändert, sagte Trupp ernst.

– Nein, Otto. Ich habe mich nur selbst gefunden.

– Wir müssen darauf zurückkommen. Es muss sich entscheiden. –

– Ob ich noch zu euch gehöre oder nicht? Das ist doch wohl nur eine Redensart. Denn der Freie – und du willst doch die ganze, unbeschränkte Autonomie des Individuums – kann nur sich selbst gehören.

Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die in ihrer Länge und trüben Dunkelheit vor ihnen lag.

Sie bogen in eine der Nebenstraßen ein, in einen der fast menschenleeren und halb hellen Durchgänge, welche sich östlich nach dem Lärm von Tottenham Court Road hinziehen.

– Wir müssen jetzt deutsch sprechen, sagte Auban in dieser Sprache, die aus seinem Mund ungeübt und fremd klang.

Sie standen still vor einem schmalen, hellangestrichenen Hause. Über der Tür, auf der durch das dahinter flackernde Licht erhellten Scheibe, stand der Name des Klubs.

Trupp stieß schnell die Tür auf und sie traten ein.

* * *

Zweites Kapitel – Die elfte Stunde

Zweites Kapitel – Die elfte Stunde

Am Abend des Freitag in der nächsten Woche fuhr Carrard Auban die endlos lange City Road mit dem Omnibus hinunter. Er saß neben dem Kutscher – einem Gentleman mit Seidenhut und tadellosem Äußeren – und verfolgte ungeduldig die allmähliche Abnahme der Entfernung, welche ihn von seinem Ziele trennte. Er war erregt und missgestimmt. Als der Wagen am Finsbury Square hielt, sprang er schnell ab, eilte das Pavement bis zur nächsten Querstraße hinunter, nachdem er einen orientierenden, prüfenden Blick auf die Lage der Straßen geworfen hatte, und befand sich nach wenigen Minuten an den Treppen von South Place Institute.

Schon von weitem war eine ungewöhnlich starke Menschenansammlung bemerkbar. In Entfernungen von je einigen Schritten standen Polizisten. Die Türen des dunklen, kirchenartigen Gebäudes waren weit geöffnet; als Auban sich mit dem Strom langsam hineindrängte, wechselte er mit einigen Bekannten, die sich dort aufgestellt hatten und die Zeitungen ihres Vereins oder ihrer Richtung verkauften, flüchtige Worte des Grußes. Aus den Antworten sprach öfters Erstaunen oder Freude, ihn zu sehen.

Er nahm mit, was er von den feilgebotenen Blättern erlangen konnte: „Commonweal“ das interessante Organ der Socialist League; „Justice“, das Parteiorgan der Socialdemocratic-Federation; und einige Nummern der neuen deutschen Zeitschrift „Londoner Freie Presse“, dem Unternehmen einer Anzahl deutscher Sozialisten verschiedenster Richtung, welches einen Zentralpunkt ihrer Ansichten bilden und der Propaganda unter dem deutschredenden Teil der Londoner Bevölkerung dienen sollte. Auban kehrte nie von diesen Meetings zurück, ohne die Brusttasche mit Zeitschriften und Pamphleten angefüllt zu haben.

An der inneren Eingangstür wurde die Resolution des Abends verteilt; große, klarbedruckte Quartblätter.

Der Saal war von ziemlich gleicher Breite und Tiefe; an den Wänden zog sich eine breite Galerie hin, die bereits fast gefüllt war. Im Hintergrund befand sich eine mannshohe Empore, auf der eine Anzahl von Stühlen für die Sprecher aufgestellt war. Sie war noch leer. Der Saal machte den Eindruck einer zu kirchlichen Zwecken bestimmten Halle. Darauf deutete auch die Form der Bänke hin.

An diesem Abend jedoch war nichts bemerkbar von dem gleichgültigen, mechanisch-stillen Treiben einer religiösen Versammlung. Eine aufgeregte, lebhaft bewegte, ihre Gedanken laut austauschende Menge nahm die Bänke ein. Auban sah sie schnell. Er sah zahlreiche bekannte Gesichter. An der Ecke des Saales, in der Nähe der Plattform, standen einige der Redner des Abends. Auban durchschritt die Reihen der sich stetig füllenden Bänke und ging auf die Gruppe zu. Mit Einzelnen wechselte er einen stillen Händedruck; anderen nickte er zu.

– Nun, Sie werden doch auch sprechen, Mr. Auban? wurde er gefragt.

Er schüttelte abwehrend den Kopf.

– Ich mag nicht englisch reden, überhaupt nicht reden. Das ist vorbei. Und was sollte ich sagen? Was man sagen möchte, darf man nicht aussprechen. – Es ist ein gemischtes Meeting? – fragte er dann leiser einen neben ihm Stehenden, den bekannten Agitator eines deutschrevolutionären Klubs.

– Jawohl, Radikale, Freidenkerische, Liberale – alles Mögliche. Sie werden sehen, die meisten Redner werden sich dagegen verwahren, Sympathie mit dem Anarchismus zu hegen.

– Haben Sie Trupp nicht bemerkt?

– Nein, der wird wohl nicht kommen. Ich habe ihn noch nie auf einer dieser Versammlungen gesehen. Auban sah sich um. Der Saal war bereits zum Ersticken gefüllt; die Gänge zwischen den Bänken dicht besetzt; um die große Gruppenphotographie der Chicagoer Verurteilten, welche im breiten Goldrahmen unter dem Rednertische hing, drängte sich eine Anzahl von Arbeitern. An dem Tische daneben machten sich mehrere Zeitungsreporter ihre Papierpausen zurecht.

An den Eingängen wurde das Gedränge immer lebhafter. Die Türen waren weit geöffnet. An dem Schieben und Stoßen konnte man sehen, dass große Massen noch Einlass begehrten. Einzelne drängten sich glücklich bis zu den vordersten Sitzen vor, wo noch Raum war, wenn man zusammenrückte. Als Auban dies sah, sicherte auch er sich schnell einen Platz, denn sein lahmes Bein erlaubte ihm kein stundenlanges Stehen.

Er stemmte seinen Stock auf und kreuzte die Füße. So blieb er den ganzen Abend sitzen. Er konnte den ganzen Saal sehen, da er auf einer der seitlichen Bänke saß; die Rednerbühne lag dicht vor ihm.

Er zog die Resolution aus der Tasche und las sie aufmerksam und langsam durch, wie auch die Namenliste der Sprecher: „mehrere der hervorragendsten Radikalen und Sozialisten.“ Er kannte die Namen und ihre Träger, obwohl er kaum einen von ihnen im letzten Jahre wiedergesehen hatte.

* * *

„Das Recht der freien Rede“ stand auf der Tagesordnung. „Sieben Männer wegen Abhaltung einer öffentlichen Versammlung zum Tode verurteilt.“ Die Resolution lautete: „– Dass die englischen Arbeiter in dieser Versammlung eindringlich ihre Mitarbeiter in Amerika auf die große Gefahr für die öffentliche Freiheit aufmerksam zu machen wünschen, welche entsteht, wenn sie zugeben, dass Bürger für den Versuch des Widerstandes gegen die Unterdrückung des Rechtes auf öffentliche Versammlungen und der freien Rede bestraft werden, da ein Recht, für dessen Erzwingung das Volk bestraft wird, dadurch offenbar zu keinem Recht, sondern zu einem Unrecht wird.

Dass das Schicksal der sieben Männer, welche das Todesurteil für Abhaltung einer öffentlichen Versammlung in Chicago, auf der mehrere Polizisten bei dem Versuch der gewaltsamen Vertreibung des Volkes und der Unterdrückung der Sprecher getötet wurden, verhängt ist, von größter Wichtigkeit für uns als englische Arbeiter ist, da ihr Fall heute der Fall unserer Kameraden in Irland und vielleicht morgen der unsere ist, wenn nicht die Arbeiter auf beiden Seiten des Atlantiks einstimmig erklären, dass alle, welche sich in die Rechte der Abhaltung öffentlicher Versammlungen und der freien Rede mischen, ungesetzlich und auf ihre eigene Gefahr hin handeln. Wir können nicht zugeben, dass die politischen Ansichten der sieben verurteilten Männer mit dem hineingezogenen Prinzip irgendetwas zu tun haben, und wir protestieren gegen ihre Verurteilung, welche, wenn sie ausgeführt wird, in Wirklichkeit das Abhalten von Versammlungen der Arbeiter in ihrem eigenen Interesse zu einem Hauptverbrechen in den Vereinigten Staaten von Amerika stempeln wird, da immer die Möglichkeit für die Autoritäten gegeben ist, eine Menge durch Gefährdung ihres Lebens zum Widerstand zu reizen. Wir erwarten von unsern amerikanischen Kameraden, seien auch ihre politischen Ansichten noch so verschieden, dass sie die unbedingte Freilassung der sieben Männer, in deren Personen die Freiheiten aller Arbeiter jetzt gefährdet sind, verlangen ...“

* * *

Als Auban geendet hatte, sah er neben sich einen alten Herrn mit langem, weißen Bart und freundlichen Gesichtszügen.

– Mr. Marell, rief er sichtlich erfreut, – Sie sind wieder hier? Welche Überraschung!

Sie schüttelten sich herzlich die Hände.

– Ich wollte Sie nicht stören – Sie lasen.

Sie sprachen englisch zusammen.

– Wie lange sind Sie wieder hier?

– Seit gestern.

– Und waren Sie in Chicago?

– Ja, vierzehn Tage; dann in New-York. – Ich hatte Sie nicht erwartet –

– Ich konnte es nicht mehr ertragen, so kam ich wieder.

– Sie sahen die Verurteilten?

– Gewiss, oft.

Auban beugte sich zu ihm und fragte leise:

– Es ist keine Hoffnung? Der Alte schüttelte den Kopf.

– Keine. Die letzte liegt beim Gouverneur von Illinois, aber ich glaube nicht an ihn.

Leise sprachen sie weiter.

– Wie ist die Stimmung?

– Die Stimmung ist gedrückt. Die Knights of Labour und die Georgianer halten sich zurück. – Es ist überhaupt manches anders, wie man es sich hier vorstellt. Die Aufregung ist stellenweise groß, aber die Zeit ist noch nicht reif.

– Man wird alles versuchen –

– Ich weiß nicht. Jedenfalls wird alles unmöglich sein ... Sie schwiegen Beide. Auban sah noch ernster aus, als gewöhnlich.

Aber was für ein Gefühl es war, welches seine Seele beherrschte, war auch jetzt nicht zu erkennen.

– Wie sind die Verurteilten?

– Sehr ruhig. Einige wollen keine Begnadigung, und sie werden in diesem Sinne sich aussprechen. Aber ich fürchte, die anderen hoffen immer noch –

Es war nach acht Uhr. Die Versammlung begann ungeduldig zu werden; die Stimmen wurden lauter.

Auban fragte weiter, und der Alte antwortete mit seiner ruhigen, traurigen Stimme.

– Sie werden sprechen, Mr. Marell?

– Nein, mein Freund. Es ist ein anderer, jüngerer da, er kommt auch von Chicago, und er will einiges von dort erzählen.

– Sind Sie morgen zu Hause?

– Ja, kommen Sie. Ich werde Ihnen die Verhandlungen geben und die neuesten Zeitungen. Ich habe viel mitgebracht. Alles, was ich auftreiben konnte. Viel. Sie werden, wenn Sie alles lesen wollten, ein gutes Bild unserer amerikanischen Zustände bekommen.

– Ein neuer Prozess wird nicht bewilligt werden?

– Hoffentlich nicht. Es würde ja nichts nützen, die Qual, die so schon unerträglich ist, würde nutzlos verlängert werden, es müssten neue, ungemessene Mittel vom Volke aufgebracht werden – noch einmal 50.000 Dollar, aus Arbeiterpfennigen zusammengehäuft – und wozu? – nein, die Hyäne will Blut –

– Und das Volk?

– Das Volk weiß selbst nicht, was es will. Einstweilen glaubt es noch nicht an den Ernst der Sache, und wenn der Elfte da ist, ist es zu spät!

In ihr Gespräch mischte sich ein junger Engländer, der Marell von der Socialist League her kannte. Auban sah auf. Jener sagte finster:

– Nein, ich glaube noch immer nicht daran. Man mordet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Angesicht der Völker öffentlich nicht sieben Menschen, deren Unschuld so klar erwiesen wie der Tag ist; man schlachtet Tausende und Abertausende hin, aber man hat nicht mehr den Mut, in einem Lande mit den Institutionen der Staaten so nur auf die Gewalt zu pochen und die Gesetze zu verhöhnen. Nein, sie tun es deshalb nicht, weil es von ihrem Standpunkt aus ein Wahnsinn wäre, das Volk auf solche Weise aufzuklären und aufzurütteln. Nein, sie werden es nicht wagen! Sehen Sie hin, hier allein diese vielen und so täglich in allen freieren Ländern, hier und drüben, diese Versammlungen, diese Zeitungen, diese Flut von Flugschriften! Wo ist der Mensch, der noch Vernunft und Herz hat und sich nicht empört – sind die Scharen zu zählen, die drüben sich erheben? Ihr Wille sollte nicht stark genug sein, um jenen erkauften Schurken Furcht einzujagen, dass sie abstehen von ihrer Freveltat? Nein, sie werden es nicht wagen, Comrade! Es wäre ihr eigenes Verderben! Die beiden, zu denen er sprach, zuckten die Achseln. Was sollten sie ihm antworten? –

Sie hatten beide in dem Kampfe der beiden Klassen so viele Scheußlichkeiten von denen begehen sehen, welche die Gewalt in Händen haben, dass sie sich fragen mussten, was es sein würde, das sie noch in Erstaunen und Entrüstung zu setzen vermochte. –

Auban sah, wie die Hände des Alten zitterten, in denen er einen grauen, abgetragenen Hut hielt, und wie er dieses leichte Zittern, in welchem sich seine ganze innere Erregung kundgab, dadurch zu verbergen suchte, dass er nachlässig mit ihm spielte.

– Sie glauben, den Anarchismus ins Herz zu treffen, wenn sie einige seiner Vertreter hängen, sagte er nun. Auban merkte, dass er jetzt nicht näher auf das Gespräch eingehen wollte, und schwieg.

Aber er dachte weiter: „Was ist Anarchismus?“ – Die in Chicago Verurteilten? – Ihre Ansichten waren teils sozialdemokratisch, teils kommunistisch, nicht zwei hätten auf irgendeine ihnen vorgelegte und die Grundideen betreffende Frage gleichlautend geantwortet – und doch nannten sich alle und wurden alle „Anarchisten“ genannt; aber wann hatte der Individualismus trotziger gesprochen als aus den Worten jenes jungen Kommunisten, welcher seinen „Richtern“ zugedonnert hatte: „Ich verachte euch, ich verachte eure Gesetze, eure ‚Ordnung’, ‚eure Gewaltherrschaft’ – und: „Ich bleibe dabei: wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamitbomben antworten“ –?

Und weiter der Greis, der neben ihm saß! Auch er nannte sich „Anarchist“ ... Und was predigte er immer und immer wieder in seinen zahllosen Flugschriften? Die Liebe.

– „Was ist Anarchie?“ – fragte er. Und antwortete: „Es ist ein Gesellschaftssystem, in welchem keiner die Handlungen seines Nachbarn stört; wo Freiheit frei von Gesetz ist; wo Vorrecht nicht existiert; wo Gewalt nicht der Ordner menschlicher Handlungen ist. – Das Ideal ist das zweitausend Jahre früher von dem Nazarener verkündete: die allgemeine Brüderlichkeit der ganzen menschlichen Familie“. – Und schmerzlich rief er immer wieder aus: „Rache ist die Lehre, gepredigt von der Kanzel, von der Presse, von allen Klassen der Gesellschaft! – Nein, Liebe! Liebe! Liebe! predigt! ...“

Auban, welcher sich an diese Worte erinnerte, dachte daran, wie gefährlich es doch war, so allgemein, so verschwommen, so obenhin zu denen zu sprechen, die noch so wenig verstanden, den Sinn und den Wert der Worte zu prüfen. So ballte sich mehr und mehr das Unvereinbare und das Fremde zu einem Knäuel zusammen, vor dessen Lösung viele zurückschreckten, die sonst gerne den einzelnen Fäden nachgegangen wären ...

Auban hatte den alten Herrn erst vor kurzem kennen gelernt. Es war auf einer Debatte gewesen, in welcher die Unterschiede des individualistischen und des kommunistischen Anarchismus disputiert wurde. Mr. Marell war der Einzige gewesen, welcher – wie er selbst glaubte – den Ersteren vertrat. Seine Darlegungen hatten Auban interessiert. Er hatte in ihnen trotz ihrer Inkonsequenz manches seinen eigenen Ergebnissen Verwandte gefunden. So waren sie miteinander bekannt geworden und hatten sich einige Male gesehen, bevor jener nach Amerika zurückkehrte, um dort, wie er sagte, noch zu tun, was in seinen Kräften stand. Da er sich nie klar aussprach, wusste Auban nicht, welcher Art diese Bemühungen sein sollten, und nach dem, was er heute Abend von ihm gehört hatte, konnte er sehen, dass auch sie erfolglos geblieben waren. Jedenfalls schien dieser Mann ein sehr verzweigtes Netz von Verbindungen aller Art in der Hand zu haben, denn er kannte sowohl alle bei dem Prozess der acht beteiligten Persönlichkeiten, wie er auch die Ausdehnung der anarchistischen Lehren in Amerika, wie es schien, genau unterrichtet war.

Seine Flugblätter waren sämtlich mit „Der Unbekannte“ unterzeichnet. – In London fiel der Alte wenig auf. Er sprach selten öffentlich und die Flut der revolutionären Bewegung Londons treibt zu viele Persönlichkeiten heute an die Oberfläche, um sie morgen wieder zu verschlingen, als dass in diesem beständigen Kommen und Gehen dem flüchtig Vorziehenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden könnte. Er fragte den Engländer jetzt nach einigen der Anwesenden. Auban lehnte sich zurück.

– Wer ist das?

Er zeigte auf eine Frau in einfachem, dunklem, Kleide, welche in ihrer Nähe saß. Ihre ausgeprägten Züge verrieten lebendigstes Interesse an allem, was um sie her vorging, und sie sprach lebhaft und lachend mit ihrer Nachbarin.

– Ich weiß nicht, antwortete der Engländer. Aber dann erinnerte er sich, sie einmal in einem der deutschen Klubs gesehen zu haben, und er fügte hinzu:

– Ich weiß nur, dass sie eine Deutsche ist, eine deutsche Sozialistin. Ehrgeizig, aber ein gutes Herz. Sie hat lange in Berlin für die Abschaffung der ärztlichen Untersuchung der Prostituierten gewirkt.

Der wissbegierige Alte fragte weiter.

– Und wer ist das, mit dem sie jetzt spricht?

Der Engländer sah hin. Es war ein junger Mann, den er ebenfalls nur flüchtig kannte.

– Ich glaube, das ist ein Dichter, sagte er. Sie lächelten beide.

– Er hat ein soziales Gedicht geschrieben.

– Haben Sie es gelesen?

– O nein, ich lese nicht Deutsch.

– Er sieht weder aus wie ein Dichter, noch wie ein Sozialist. Glaubt er, mit seinen Gedichten die Welt verbessern zu können? – Er wird eines Tages sehen, wie nutzlos sie sind und dass die Menschen zuerst Brot haben müssen, ehe sie an anderes zu denken im Stande sind. Wenn man nichts zu essen hat, hört die Poesie auf.

Der Jüngere lächelte den Eifer des Alten, welcher ungestört fortfuhr, während Auban die Menge musterte:

– Man kann die zartesten Liebesgedichte schreiben und wie ein Metzgermeister den blutigsten Scheußlichkeiten zusehen. Und man wird hingehen und eine Jubelhymne auf die „tapferen Krieger“ dichten, die Mörder, welche bluttriefend aus den Schlachten kommen. Man kann die „Leiden der Völker“ besingen und in der nächsten Stunde der „gnädigen Frau“ im Ballsaale die Hand küssen, die kurz vorher den Bedienten geohrfeigt hat. Aber worüber sprechen wir denn? Sagen Sie mir lieber, wer jener Mann dort ist?

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9783753193212
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