Читать книгу: «John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski», страница 5
Auch als er sich schon mit einem festen Händedruck verabschiedet hatte, sah Auban ihn noch, wie er gestikulierend und vor sich hinredend weiter ging. Dann verschwand er in dem treibenden Strom und Auban trat an den Schalter von Moorgate Station.
* * *
Auf der mittleren Plattform des unterirdischen Riesenraumes fand er sich wieder mit einer Anzahl Bekannten zusammen, welche wartend dastanden und sich unterhielten. Einige der Sprecher des heutigen Abends waren unter ihnen. Auban setzte sich müde in eine Ecke.
Züge rasten ein und aus; die Holztreppen hinab und hinauf drängten und polterten die Massen. Die Halle war durchzogen von dem weiß-grauen Rauch und Dampf der Maschinen. Er strich die Plattformen und die dort Stehenden hin, kräuselte sich um die unzähligen geschwärzten Pfeiler, Balken und Pfosten, legte sich schmeichelnd wie ein Schleier an die Decke hoch oben, und suchte sich endlich durch die Luftöffnungen seinen Weg hinaus auf die Straße, in das Leben, in dem Lärm und in das Getöse von London hinaus.
– Well, comrade, wurde der ihnen Nachsehende plötzlich von dem neben ihm Sitzenden, einem englischen Schriftsteller sozialer Aufsätze und Werke, gefragt, – was denken Sie über Chicago?
Er war Auban nicht sympathisch, und dass dieser nie ein Hehl aus seinen Sympathien und Antipathien machte, war ihm nicht unbekannt. Trotzdem drängte er sich bei jeder Gelegenheit an ihn heran. Auban wusste ganz gut, dass er wie alles, so auch die entsetzlichen Vorgänge, nach denen er fragte, kühlen Herzens verarbeiten würde. Er sah ihm unhöflich und ohne zu antworten ins Gesicht.
Dem anderen war dieser starre und gleichgültige Blick unerträglich.
– Well, sagte er wieder, – denken Sie nicht, dass der Bourgeoisie keine Schändlichkeit gegen das Volk zu schändlich ist, wenn es die Erhaltung ihrer elenden Vorrechte gilt –?
– Certainly, Sir, sagte Auban, – würden Sie, wenn Sie an das Ruder gelangt sind, etwa eine andere Taktik befolgen? – und er sah zu dem Frager empor, mit seinem sarkastischen und überlegenen Lächeln, dessentwegen er so verhasst war bei allen, die er nicht liebte. Und ohne ein weiteres Wort stand er auf, nickte und stieg schwer und langsam in den heranbrausenden Zug, der ihn nach einer Minute voll Lärm, Wirrwarr und Türenschlagen mit rasender Eile in der Richtung nach Kings Cross fort trug.
* * *
Drittes Kapitel – Die Arbeitslosen
Drittes Kapitel – Die Arbeitslosen
Nun hatte die Weltstadt an der Themse, die „größte Warze der Erde“, wieder ihr alljährliches Schauspiel: den unheimlichen Anblick jener Scharen, welche nur ein Übermaß von Elend – das Schreckgespenst des Hungertodes – aus ihren Höhlen zu treiben vermochte, um sich im Herzen der Stadt, auf jenem weltberühmten Platze, welcher der Erinnerung an vergangene Tage „des Ruhms und der Größe“ geweiht ist, mit der Frage zu beschäftigen: „Was tun, um morgen noch zu leben? Wie diesen langen Winter ohne Arbeit und ohne Brot stehen?“...
Denn diese Unglücklichen, die längst gelernt hatten, dass es für sie keine Rechte auf der Erde gab: weder auf einen Fußbreit ihres Bodens, noch auf das geringste ihrer Güter – sie hatten jetzt auch ihr letztes „Recht“: das Recht, sich für andere totschinden zu dürfen, verloren, und standen Gesicht an Gesicht mit jenem Schreckbild, welches der treueste Begleiter der Armut durch ihr ganzes Leben ist: dem Hunger.
Die Verzweiflung war es, die diese Menschen, deren Bescheidenheit und Genügsamkeit so groß war, dass sie aufhörte, begreiflich zu sein, hinaustrieb unter die Augen des öffentlichen Lebens.
Der feuchte, unfreundliche Oktober ging zu Ende. Die Tage wurden kürzer und die wilden Stunden des nächtlichen Lebens länger.
Schon in den Morgenstunden füllte sich die weite, kalte Fläche von Trafalgar Square mit den Gestalten des Elends.
Aus allen Teilen der Stadt kamen sie her: glücklich, wen die Not noch nicht zur Aufgabe der eigenen Wohnung, des Schmutzloches im Keller oder im fünften Stock, und des Winkels von Zimmer gezwungen hatte; glücklich auch der noch, welcher im Laufe des Tages mit Hilfe eines guten Zufalls so viel hatte auftreiben können, um in einem der Lodginghäuser Unterkunft zu finden – aber auf den meisten dieser kranken, bleichen und müden Gesichter war nur zu deutlich erkennbar, dass sie die kalte Nacht durch auf einer Bank am Themse Embankment oder in einem Torweg oder Durchgang von Covent Garden ‚geruht’ hatten.
Die „Unemployed!“ Ja, sie machten wieder viel von sich reden in diesem Jahr der Gnade! Seit 35 Jahren traten sie nun schon so Jahr für Jahr bei Beginn des Winters vor das Antlitz des Reichtums hin. Und jedes Jahr wurde ihre Zahl größer, jedes Jahr ihr Auftreten sicherer, jedes Jahr ihre Forderung bestimmter! Noch standen in wacher Erinnerung die Februar-Riots von 1886, bei denen es ohne Eigentumsberaubungen nicht abgegangen war. Sie hatten nichts gemein mit irgendeiner Partei; sie hatten keine erklärten Führer im Parliament House, welche ihre Rechte „vertraten“ – der Hunger war ihr Leiter und Treiber; keine Organisation schloss sie zusammen, doch das Elend schweißte sie aneinander. Woher kommen in den Tagen politischer und sozialer Empörungen plötzlich die unbekannten Mitkämpfer, wie Ratten aus ihren Löchern – ah, es sind die Rekruten der großen Armee des Schweigens, welche nie mitgezählt wurden und doch so oft die Entscheidung herbeiführten ... Es sind die Glieder jener großen Masse, welche sich Volk nennt: die Rechtlosen, die Ausgestoßenen, die Namenlosen, jene, die nie waren und nun plötzlich sind, ein enthülltes Geheimnis und ein Wesen-werdender Schatten, ein zum Leben erwachter Scheintoter, ein jählings zum Mann gereiftes, nie beachtetes Kind – das ist das Volk!
Man rechnete nie mit ihm, da es keine Rechte besaß; nun rechnet es sich selbst mit und seine Zahlen zermalmen...
Ihr Lügner, die ihr in seinem Namen groß geworden seid, unter seinem Deckmantel die Verbrechen eurer Gewalt begangen habt, wie seid ihr plötzlich zunichte geworden! Ihr habt es betrogen, Verraten und verkauft – ein Wort, ein Gespenst, ein Nichts war es, mit dem ihr hantiertet nach Lust und Gefallen – und nun tritt es plötzlich vor euch hin! Leibhaftig vor euch hin! ... Gleichgültig, Verständnislos und hartherzig, wie immer, standen die Bourgeoisie und ihre Regierung den Arbeitslosen auch in diesem Jahre gegen. Als ihr täglicher Anblick unangenehm zu werden begann, rief sie nach der Polizei, und ließ sie vom Square vertreiben. Sie gingen in den Hyde Park; man ließ sie auf den Square zurückkehren, um sie von neuem brutal zu verjagen.
Man reizte sie, um sie verhaften zu können; und wenn sie vor dem Richter standen, erklärte dieser ihre Aufzüge für ‚theatralisch’ und keine Hand erhob sich, diesem Buben ins Gesicht zu schlagen; sie wandten sich an den Staat, mit der demütigen Bitte um Arbeit, und der Staat gab ihnen die Antwort, dass er nicht im Stande sei, ihnen zu helfen – aber ihr Blick reichte natürlich nicht weit genug, um zu sehen, dass gerade dieser Staat es war, der sie verdarb; nur müder, hungriger und verbitterter noch als vorher kehrten sie von ihren fruchtlosen Bittgängen um – Arbeit bei den Behörden zurück: Und wenn der frühe Morgen graute, standen Scharen von ihnen hungernd und furchtbar erregt an den Gittern der Docks, wo alltäglich eine nicht geringe Anzahl kräftiger Hände zum Aus- und Einladen der Dampfer gebraucht wurde. Wem es gelang, sich durch stundenlanges Warten und rücksichtslosen Gebrauch der Fäuste und Ellbogen vorzudrängen und angenommen zu werden, dem war für einen Tag geholfen. Aber verhältnismäßig – wie wenige waren das! Die meisten kehrten, Verzweiflung im Herzen und einen Fluch über dies elende Leben auf den Lippen, zurück zu ihren Leidensgenossen, um zu hören, wozu diese nun rieten – sie hatten ja „nichts zu tun“ ...
Seit Wochen schon dauerten ihre Zusammenkünfte; und seit Wochen brachten die Londoner Tageszeitungen, froh, einen neuen Stoff zu haben, um ihre endlosen Spalten zu füllen, lange Aufsätze zu der Frage der „Unemployed“: viel weise Lehren – und keine Spur von Verständnis für die eigentlichen Gründe dieses Elends; viel schöne Worte – und kein einziger Weg der Rettung für die Unglücklichen. Jede unter ihnen wusste ein anderes Heilmittel gegen das Übel und brachte es vor mit dem lächerlichen Ton der Unfehlbarkeit – darin aber waren alle einig, dass es eine Schmach für „ein geordnetes Gemeinwesen“ sei, dass dieses verkommene Gesindel sich unterstehe, sein Elend auch noch öffentlich zu zeigen. Mochten sie doch verhungern bei Tag und erfrieren bei Nacht, schweigend da draußen in ihren Winkeln und Löchern, wo man nichts davon sah und hörte, aber so die ästhetischen, zarten Gefühle der guten Gesellschaft durch den nahen Anblick all dieses Jammers und Schmutzes zu verletzen, welche Frechheit! –
* * *
Es war an einem Sonntag – dem vorletzten Sonntag dieses unerfreulichen und trüben Monats – als Trupp sich entschlossen hatte, seinen freien Nachmittag zu verwenden, um sich von der Ausdehnung und der Bedeutung dieser Zusammenkünfte ein richtigeres Bild zu machen, als er dies aus den Erzählungen seiner Genossen und seiner Mitarbeiter in der Werkstatt zu gewinnen vermochte. Er war in Clarkenwell Green, dem altbekannten Versammlungsort so vieler Parteien und Jahre, um die Mittagsstunde gewesen, hatte dort mit Ingrimm noch einen Teil der Reden mit angehört, und zog nun in einem ungewöhnlich starken Zuge von Arbeitslosen, dem eine tote Fahne vorangetragen wurde, den Strand hinunter und auf Trafalgar Square zu. Er hatte noch keinen Bekannten getroffen, war aber mit einem der neben ihm Gehenden in ein Gespräch geraten, als dieser, welcher ihn rauchen sah, ihn um etwas Tabak gebeten hatte, „um den Hunger nicht so zu fühlen“; und ihr Gespräch war, trotzdem Trupp sich nur schwer in Englisch ausdrücken konnte und kaum die eine Hälfte ordentlich verstand und die andere sich erraten musste, von dem, was ihm erzählt wurde, schnell lebhaft geworden, als er dem krank und übermüdet Aussehenden in dem Nächstliegenden von Lockhardts Cocoa Shops mit seinen letzten Geldstücken einige Sandwiches gekauft hatte. Er hatte ja noch Arbeit – wie lange noch, das wusste er freilich auch nicht. Es war eine lange, alltägliche Geschichte des Leidens, die jener ihm erzählte: elend bezahlte Arbeit den ganzen Sommer hindurch; plötzliches Aufhören derselben; Stück für Stück des kleinen Hausrats zum Pfandhaus; das Fehlen bald auch des nötigsten Lebensunterhaltes; sein kleines Kind gestorben aus Mangel an Nahrung; die Frau im Arbeitshaus – und er selbst: „ich hänge mich lieber auf, als auch dahin zu gehen“, schloss er.
Trupp betrachtete ihn – es war ein intelligent aussehender, schon älterer Mann – und fragte dann:
– Wie viel Unbeschäftigte, glaubt Ihr, gibt es augenblicklich in London?
– Sehr viele! sagte der andere. – Sehr viele! – Sicher mehr als Hunderttausend, und wenn Ihr die Frauen und Kinder hinzuzählt, noch viel mehr! Eine halbe Million! Was auf Trafalgar Square zusammenkommt, das ist nur ein kleiner Teil, und von dem besteht ein Fünftel dazu noch aus gewerbsmäßigen Bettlern und Herumtreibern, Taschendieben und Tagtotschlägern, und hat nichts zu tun mit den Unemployed, welche nur ehrliche Arbeit haben wollen. Aber sie geben uns keine und lassen uns hungern. Wir sind gestern auch wieder zu dem Board of Works gegangen.
– Was ist das? unterbrach ihn Trupp, der wenig wusste von den verzweigten Einrichtungen der Stadt.
– Es ist die Behörde, welche die großen Stadtbauten ausführt ihre Office ist ganz nah dem Square – und da war einer unter den Sprechern, der legte klar, dass sie die Themsearbeiten, von denen schon so viel geredet ist, in Angriff nehmen und so sehr vielen von uns Arbeit geben könnten, und ein anderer, der sprach von der Anlegung von Abzugskanälen und der Gründung von Armendörfern in der Nähe von London –, aber sie wollen nicht, sie wollen nicht!
Trupp hatte aufmerksam zugehört.
– Und dabei werden in London jährlich zweieinhalb Millionen Pfund Sterling für Armenabgaben aufgebracht; zwei Millionen allein aus freiwilligen Beiträgen. Wo das Geld hinkommt? – Ich wünschte, es zu wissen! –
– Ja, sagte Trupp, – das sind eure Diener, die Diener des Volkes und die Verwalter seiner Angelegenheiten –
– Und auf dem Polizeiamt sind wir auch gewesen, und haben die Antwort erhalten, dass jeder, der beschäftigungs- und obdachlos angetroffen werde und sich weigere, zum Arbeitshaus zu gehen, mit Gefängnis, mit harter Arbeit bestraft werden würde ...
– Was seid ihr?
– Ach, ich habe schon viel getan, wenn ich Hunger hatte und meine Arbeit nicht fand. Jetzt war ich bis vor zwei Monaten in einer Konservenfabrik, machte Blechbüchsen – jeden Tag zwölf Stunden, nie weniger, oft aber vierzehn –
– Und wie viel?
– Well, wenn es gut ging, 8 sh., meistens 7 sh., oft nur 6 sh. die Woche.
Trupp lebte seit einiger Zeit im East End. Er kannte die Löhne der englischen Arbeiter. Er kannte Familien von acht Personen, welche zusammen nicht mehr als 12 sh. in der Woche verdienten, von denen sie vier für ihr Loch von Zimmer zahlen mussten ... Er wusste, dass unter den Streichholzschachtel- und Sackverfertigerinnen und in hundert anderen Branchen die Hungersnot beständig grassierte.
Die Hungersnot in der reichsten Stadt der Erde! Er ballte die Fäuste.
Er selbst verdiente mehr. Er war ein sehr kenntnisreicher und befähigter Mechaniker, dessen Arbeit eigenes Nachdenken erforderte. – Er war vom Kind zum Mann geworden in diesem unermesslichen Elend, dessen Anblick ihn nie, in keinem Lande, in keiner Stadt verlassen hatte. Aber was er in London sah an wahnsinnigem Luxus auf der einen und hoffnungslosem Jammer auf der anderen Seite, das traf alles.
Er zog einen zerknitterten Zettel aus der Tasche, dessen er sich jetzt wieder erinnerte und flog ihn beim Weiterschreiten. Es war das „Jubilee Manitfesto“ der Socialdemocratic Federation.
Er überflog die folgenden Zahlen:
Vier Millionen Menschen in Großbritannien abhängig von Mildtätigkeit ... die Arbeiter nicht im Stande, mehr als den vierten Teil dessen, was sie hervorbringen, zu erhalten ... 30% der Kinder der Board Schools halbverhungert ... 54 Personen in einem Jahre an Hunger gestorben in London ... 80.000 Frauen zehn auf hundert – Prostituierte ... Bilder aus den „fünfzig Jahren des Fortschritts“!
– Es ist eure eigene Schuld, sagte er zu seinem Begleiter, während sie Fleet Street durchschritten, die Straße der großen Zeitungen, deren Namen von allen Gibeln und von allen Wänden herniederriefen, – es ist eure eigene Schuld – (und das Gebrause des immer mehr und mehr anschwellenden Zuges, welcher sich ernst und drohend nach dem Strand zu wälzte, schien die Wucht seiner Worte unterstützen zu wollen –) es ist eure eigene Schuld, wenn die Erde, die euch gehört, nicht euer ist. Eure eigene Gedankenlosigkeit und Feigheit – das sind eure schlimmsten Feinde. Nicht die Handvoll elender Geldsäcke und Nichtstuer, sagte er verächtlich.
– Ah, Ihr seid ein Sozialist? meinte der andere lächelnd. Trupp zuckte die Achseln.
– Da seht hin, rief er laut in seinem schlechten und fehlerhaften Englisch, – diese Läden, die ihr gefüllt habt mit Brot, und an denen ihr hungernd vorbeigeht; diese Magazine, die ihr bis zum Brechen gefüllt habt mit Kleidern, wem gehören sie, wenn nicht euch und euren frierenden Kindern?
Es war keiner unter denen, die aus dem unaufhaltsam dahinflutenden Zuge diese einfachen Worte gehört und verstanden hatten, der ihnen nicht beigestimmt hätte, aber schweigend, ermattet und willenlos trugen sie alle ihren nagenden Hunger an dem zur Schau gestellten Überfluss vor. Keine dieser Hände, welche immer nur für andere gearbeitet hatten, immer nur die Taschen anderer gefüllt, um selbst leer, immer leer zu bleiben, streckte sich jetzt aus, um einen kleinen, verschwindend kleinen Teil von dem wieder zu nehmen, was ihnen vorenthalten war – –
Schweigend und unsicher zogen sie dahin, die langen Straßen des Reichtums hinunter, sie, denen man alles genommen und nichts gelassen hatte: keinen Fußbreit Erde, keines jener vielgepriesenen Menschenrechte, keines auch der nötigsten Existenzmittel, als eine furchtbare Anklage gegen sämtliche Institutionen einer irdischen Gerechtigkeit, als ein unabweisbarer, unwiderlegbarer Beweis gegen die Existenz einer göttlichen – und sie, sie wurden als eine Schmach der Zeit bezeichnet, sie, welche nur die Opfer der Schmach ihrer Zeit waren. So wirrten am Ende des 19. Jahrhunderts all die Begriffe unerkennbar durcheinander, und die Schuldigen glaubten ihrer Schuld zu entrinnen, wenn sie Ursache und Wirkung der bestehenden Verhältnisse miteinander sophistisch zu vertauschen suchten. – Das waren Trupps Gedanken, als er schweigend in dem schweigenden Zuge die unabsehbar lange Straße hinunterschritt. – Die Schar schien immer größer zu werden, je mehr sie sich dem Trafalgar Square näherte. Trupp und der Arbeiter, mit dem er gesprochen hatte, gingen immer noch nebeneinander her. Aber sie sprachen nun nicht mehr. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Man hatte des Ersteren Worte vernommen, und dieser hörte, wie sie dar diskutierten.
– Diese verdammten Deutschen, rief ein junger Mensch, – sind an allem Schuld. Sie drücken unsere Löhne. Und er sah sich drohend nach Trupp um.
Trupp wusste gleich, was jener meinte. Er hatte schon zu oft von den “bloody Germans“ gehört, als dass er diese alte Anschuldigung, welche den Ausbeutern so prächtig zustattenkam, um die Augen ihrer Arbeiter von den wirklichen Ursachen ihres Elends abzulenken, nicht verstehen sollte.
Seine feste Gestalt, sein düsteres, bärtiges Gesicht, seine ganze Haltung schienen dem jungen Menschen indessen zu wenig vertrauenerweckend zu sein, als dass er versucht hätte, mit ihm Händel anzufangen; und Trupp ließ ihn und die Anderen bei ihrem Glauben die Niederträchtigkeit der deutschen Arbeiter, welche „nur nach England kommen, um den englischen ihr Brot zu stehlen“.
Aber es verminderte seinen Schmerz und seine Bitterkeit nicht, wenn er sich vergegenwärtigte, wer es wirklich war, der von Deutschland nach England kam. Er kannte jene Scharen, welche nicht nur die Hoffnung auf einen besseren Verdienst, sondern auch auf freieres und menschenwürdigeres Dasein zum Verlassen der Heimat trieb: Denn wie war es möglich für sie zu leben unter dem beständigen Druck eines wahnsinnigen Gesetzes – das Schandgesetz, so nannte es der Volksmund –, welches den Gedanken zu morden, das Wort zu ersticken, jeden Schritt und Tritt zu bewachen sich vermaß? ...
Als der Zug auf dem Square anlangte, war Trupp überrascht, zu sehen, wie stark bereits die Menschenansammlung auf ihm war. Die große, weite Fläche des Innenraumes war fast gefüllt mit einer hin- und hertreibenden Menge und in sämtlichen umliegenden Straßen schien der Wagen- und Menschenverkehr nicht schwächer, wie an Wochentagen zu sein.
Der ankommende Zug wurde mit stürmischen Rufen empfangen. Trupp trat aus und blieb in der Nähe von Morleys Hotel stehen.
Nelson-Säule
Er sah die Reihen den Square betreten, den Mann, der die rote Flagge getragen hatte, mit mehreren anderen den Fuß der Nelson-Säule besteigen, und er sah, wie sich dort im nächsten Augenblick eine tausendköpfige, aufmerksam den Worten eines Redners lauschende Menge ansammelte.
Er stand erhöht auf dem nach St. Martins Church sich hinaufziehenden Wege. So konnte er den Fuß der Säule blicken, der dicht besetzt war. Er sah die heftigen Gestikulationen der Redner, das Wehen der roten Fahne, und die schwarzen Helme der Polizeimannschaft, welche sich in großer Anzahl unmittelbar unter den Redenden aufgestellt hatte.
Zuweilen wurde ihm der Ausblick durch ein vorfahrendes Cab oder einen dichtbeladenen Omnibus genommen.
* * *
Plötzlich sah er, wie eine ungeheure Bewegung in die Masse kam, welche den Square besetzt hielt – ein Aufschrei des Schreckens und der Entrüstung gleichzeitig aus tausend Kehlen brach in die Luft und gleich einer mächtigen dunklen Woge flutete die Menge zurück, sich weit die Treppen an der Nordseite und die Straßen ergießend. ... Die Polizei hatte plötzlich und gänzlich unvermittelt in ihrer ganzen aufgestellten Stärke einen Angriff auf die ruhig Zuhörenden gemacht und trieb nun die Schreienden rücksichtslos vor ihren geschlossenen Reihen her.
Trupp fühlte, wie eine entsetzliche Wut in ihm emporquoll. Diese absichtliche Rohheit machte ihm das Blut kochen. Er drängte sich über die Straße und stand an der steinernen Einfassung des Platzes; unter ihm lag der schon zur Hälfte geleerte Square. Mit Faustschlägen und Fußtritten jagten die Büttel die Wehrlosen vor sich her. Wer nur die geringste Miene machte, sich zur Wehr zu sehen, wurde niedergeworfen und fortgeführt.
Ein junger Mensch hatte sich ihren Händen entrissen. In fliegendem Lauf suchte er den Ausgang des Platzes zu gewinnen. Aber die dort Aufgestellten rissen ihn sofort nieder, während die nach Außen getriebene Menge diesen Akt widerlicher Brutalität mit Ausrufen der Verachtung und Wut begleitete.
Mit einem Satze sprang Trupp, als er dies sah, die Brüstung, welche hier – sie senkt sich langsam von Norden nach Süden – noch meterhoch war. Er eilte dem Fuße der Säule zu, auf dem noch immer einige der Redner standen.
Der Fahnenträger hatte sich gegen die Säule gestemmt und hielt die Fahne mit beiden Händen. Er stand ganz allein. Aber er war augenscheinlich entschlossen, nur der äußersten Gewalt zu weichen.
Jetzt zog sich die Polizei wieder langsam an den Fuß der Säule zurück, wo sie sich von neuem aufstellte; und auf dem Fuße folgte ihr von allen Seiten und von allen Eingängen wieder die Menge. In wenigen Minuten war die ganze Fläche wieder bedeckt mit einer dunklen Flut von Menschen, deren Empörung gewachsen, deren Rufe nach der Fortsetzung der Rede ungeduldiger, deren Aufregung gewaltiger geworden war.
Wieder füllte sich der Fuß der Säule: Man hob und zog sich gegenseitig hinauf. Vor der Fahne stand ein junger Mann von etwa dreißig Jahren. Er war einer der besten Redner und unter den Arbeitslosen sehr bekannt. Er war totenbleich vor Erregung und blickte mit dem Ausdruck unversöhnlichen Hasses auf die Gestalten der Polizisten zu seinen Füßen nieder.
Einer der Konstabler rief zu den Rednern hinauf, dass er bei dem ersten aufrührerischen Wort jeden von ihnen auf der Stelle verhaften lassen würde.
Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck der Geringschätzung sah der junge Mensch auf ihn herab.
Trupp stand dicht vor der Reihe der Polizisten. So dicht, dass er von der nachdrängenden Menge fast gezwungen wurde, sie zu berühren. Aber trotzdem hob er seinen Arm in die Höhe und rief den Obenstehendes ein lautes „Go on!“ zu. Sofort wurde sein Ruf den Umstehenden zum Zeichen eines lauten Beifallklatschens und zu unzähligen Rufen ähnlicher Art.
Es schien erst, als wolle die Polizei bei diesem Ausbruch des Gefühls der Menge einen neuen Angriff machen. Aber sie unterließ es, und der Redner begann. Er sprach das Recht der Redefreiheit in England und die versuchte Unterdrückung desselben, welche bis jetzt erfolglos geblieben sei. Vor sich sehe er eine Menge, wie sie in diesem Jahre Trafalgar Square noch nicht getragen. – Hierher, unter die Augen der ganzen Welt, hätten sie sich gestellt mit ihrer Forderung: „Brot oder Arbeit“. Und hier, im Angesicht dieser verschwenderischen Reichtümer, welche sie selbst erschaffen, würden sie sich so lange versammeln, bis diese Forderung erfüllt worden sei. – Sie hätten kein Fenster gebrochen, und kein Stück Brot an sich genommen, um ihren Hunger zu stillen – ein Lügner sei, wer das behaupte. Es wäre ihnen sehr angenehm gewesen, wenn wir es getan hätten – dann hätte die Polizei einen bequemen Entschuldigungsgrund dafür, dass sie unsere friedlichen Versammlungen gestört und uns in brutalster Weise zu Ausschreitungen zu reizen gesucht hat. –
Neben Trupp stand der Reporter einer Zeitung, welcher mühsam im Stehen Chiffrenotizen machte. Er hätte dem gleichgültigen Manne das Papier aus der Hand reißen mögen. Angeekelt suchte er sich einen Weg durch das ihn umgebende Gewühl zu bahnen. Er kam nur Schritt für Schritt vorwärts. Die Zuhörer bestanden nicht nur aus Arbeitslosen mehr: Viel verdächtiges Gesindel, welches in London bei jedem Anlass sich in unglaublich großer Anzahl ansammelt, viele Neugierige, welche sehen wollten, was es gäbe, sowie eine Anzahl wirklich Interessierter hatte sich unter sie gemischt. Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm, müde und hungrig, standen dicht neben den aufgedonnerten Kleiderpuppen des Westends, von denen die eine oder andere sich auf den Square gedrängt hatte, nachdem ihr versichert worden war, es sei „noch nicht gefährlich“; und unter der Menge sah Trupp ein Gesicht, welches ihn empörte: das freche, höhnisch-lächelnde Gesicht eines Gentleman in hohem Hut, der unweit der Säule stand und jetzt in die Worte des Redners ein „Nonsense!“ hineinrief – offenbar ein hochgestellter Beamter, welcher – der Geduld und der Langmut des Volkes ebenso vertrauend, wie den Revolvern seiner Polizisten – sich diese Frechheit heraus nahm. Ein unwilliges Gemurmel entstand, während er ruhig mit seinem unverschämten Lächeln über die ihn umstehende Menge hinwegsah.
– Du Bursche, dachte Trupp bei sich, – dir wird das Lächeln eines Tages schon vergehen –; aber fast gleichzeitig stimmte er in das Gelächter ein, welches ausbrach, als dem Langen durch einen kräftigen Faustschlag von hinten her der Zylinder über Augen und Ohren getrieben wurde. Die Menge stob auseinander, und es entstand um den so Gezüchtigten, dem das Lächeln vergangen war, schnell ein leerer Raum. Die Polizei rückte vor, obwohl sie nichts von dem Vorfall gesehen hatte. Trupp wurde von der Menge fortgerissen. Er stand nun an der Ostseite des Squares.
* * *
Unterdessen hatten sich auch die anderen drei Seiten des Fußes der Säule mit Menschen bedeckt und auch von ihnen wurde zu den Versammelten hinuntergeredet. Nicht alles, was gesprochen wurde, stand im Zusammenhang mit dem Zweck der Versammlung, und aus der Stimme manches Redners klang mehr die Selbstgefälligkeit und die kindliche Freude an den eigenen Worten, als die Empörung über die Zustände, welche er geißeln sollte, und das Bestreben, diese selbe Empörung auch in den Herzen seiner Zuhörer zu wecken und zur Flamme zu entfachen.
Trupp sah mit einem bösen Lächeln einem dieser heftig gestikulierenden geschäftsmäßigen Volksredner zu, der mit ermüdender Weitschweifigkeit den hungernden Londonern von ihren hungernden Leidensgenossen in Indien sprach und die Schändlichkeiten, die von der englischen Regierung in diesem unglücklichen Lande verübt sind und verübt werden, aufzählte, statt ihnen die ebenso großen Willkürlichkeiten derselben Regierung zu enthüllen, unter denen sie zu leiden und langsam zu sterben verdammt waren.
Lautes Gelächter und höhnische Zurufe ließen ihn indessen gleich darauf von dem Schwätzer ab- und sich einem jener bemitleidenswerten Fanatiker zuwenden, welche bei allen solchen Versammlungen ihre Mission erfüllen zu müssen glauben, das verirrte Volk in die Arme und den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen: die Armen in ihrem Dulden und Leiden, und die Reichen in ihren Genüssen zu stärken. Trupp sah sich den schwarzgekleideten Mann neugierig an. Das glattrasierte fahle Gesicht, der scheue Blick der Augen und der süßliche Ton der leiernden Stimme wären ihm zuwider gewesen, auch wenn der Mann nicht im Dienste dessen gestanden hätte, das er hasste, weil er in ihm das Hauptmittel zur Verdummung und geistigen Unterdrückung des Volkes sah.
Aber nur mit Hohngelächter wurden die Worte des Missionars aufgenommen. Er wurde überschrien von allen Seiten. Droh-Rufe wurden laut, sich zu entfernen. Dann flogen Apfelsinen- und Nussschalen nach ihm. Er ließ alles ruhig über sich ergehen und leierte so ruhig und monoton seine eingelernten Phrasen herunter, auf welche niemand hörte, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Man drängte ihn fort von der Stelle, wo er stand. Kaum konnte er wieder Fuß fassen, als er in seiner Rede fortfuhr. Das Gebaren dieses neuen Christus war lächerlich und jämmerlich zugleich. Plötzlich flog ein bewundernswert sicher gezieltes Ei auf den Sprecher zu – eine faule, breiige Masse schloss ihm klatschend den Mund. Das war zu viel, sogar für diesen Märtyrer. Er hielt nicht mehr Stand. Beschmutzt von oben bis unten, spuckend und sich blitzschnell duckend, schlüpfte er zwischen den Umstehenden durch, gefolgt von dem rohen Gelächter der aufgeregten und schreienden Menge.
Trupp zuckte die Achseln. Er wünschte, dass jedem Volksverderber und Wahrheitsfälscher der Mund auf gleich drastische Weise geschlossen werden möchte.
Er wandte sich ab und ließ sich von dem Schwarm vor an den Fontänen, deren schmutzige Wasserbecken übersät waren mit Abfällen aller Art, wieder zurück nach der Nordseite des Platzes treiben. Auch dort, an den Laternenpfählen des breiten Geländers sich haltend, standen jetzt Redner und riefen auf die tief unter ihnen im Square Stehenden ihre aufgeregten, abgehackten und aufregenden Sätze hinunter.
Einer von ihnen schien Trupp bekannt. Er erinnerte sich, ihn bei den Versammlungen der Socialdemocratic Federation gesehen zu haben. Es war ein Parteisozialist. Trupp hörte zu. Er verstand wieder nicht alles, konnte aber doch aus einzelnen Schlagworten entnehmen, dass jener über die rasende Entwicklung der großkapitalistischen Ausbeutung, die immer drohender werdenden, durch sie bedingten Hungerrevolten, die Vergesslichkeit der zu ihrer Unterdrückung angewandten Mittel sprach, und wie er jenes alte, durch einen voreingenommenen Kopf hingeworfene und seitdem so fest eingenistete Vorurteil angriff: Es sei der Mangel an Lebensgütern, welcher das Elend gewisser Schichten bedinge. Dann ging er auf die bekannten – zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Ideen die Wage haltenden – Theorien der Verteilung im Überfluss vorhandener Güter und alles in Sätzen, von deren einzelnen Worten die Wiederholung langer Jahre jedes wie in Erz gegossen zu haben schien und – zur Phrase gemacht hatte.
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