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Lukas

Lukas also hat sich die Geburt im Stall ausgedacht, aber nicht aus der Luft gegriffen. Die Theologen pflegen von »Sondergut« zu sprechen, weil die Szene bis auf die Lokalisierung in Betlehem von sonst niemandem berichtet wird. Aber das besagt nichts über das genauere Vorgehen von Lukas. Dazu muss man zunächst etwas über ihn wissen.

Das wird schwierig und provoziert deshalb Spekulationen. Trotzdem: Es hat schließlich diesen Evangelisten gegeben, der im Text selbst nicht seinen Namen nennt, sich nur in die »vielen« einreiht, die schon Berichte verfasst haben. Dafür wissen wir, dass der »Unbekannte« nicht nur das Evangelium, sondern auch eine Art Fortsetzung geschrieben hat: die Apostelgeschichte, auch wenn diese beiden Teile eigenartigerweise nie zusammen überliefert wurden. Es existiert also von einem einzigen Verfasser ein Doppelwerk, von dem man weiterhin weiß, dass es einen bestimmten Zweck zu erreichen suchte. Der Verfasser hat die beiden Bücher nämlich jemandem gewidmet, den er als »hochverehrten Theophilus« anspricht. Falls auch dieser Theophilus existierte (und nicht lediglich seiner wörtlichen Bedeutung nach ein »Gottesfreund«, wie es letztlich jeder angenommene Leser sein sollte), könnte er ein vornehmer Mann gewesen sein, der sich für die Christen interessierte, vielleicht erste Kenntnisse vertiefen wollte. Der Unbekannte hätte dann das Evangelium als eine Art private Überzeugungsarbeit geschrieben, als Probe der »Zuverlässigkeit der Lehre«, in der der Adressat bislang schon »unterwiesen« wurde. Ein gefestigter Christ schrieb also nach dieser Vermutung für einen noch nicht Gefestigten.

Aber etwas weiter kommt man doch. In der Apostelgeschichte unseres vorläufig Unbekannten ist von einem Mann namens Lukas die Rede, den Paulus auf seinen Reisen mitnahm und im Brief an die Kolosser als seinen »geliebten Arzt« bezeichnet. Die alte Kirche war davon überzeugt, dass es sich dabei um den Evangelisten handelte. Zwar hat die spätere Forschung herausgefunden, dass dieser Lukas in den Berichten seiner Apostelgeschichte nicht immer genau mit dem übereinstimmt, was Paulus in seinen Briefen schreibt. Man kann dies aber auch so erklären, dass Lukas nur zeitweise mit Paulus zusammen war, ihn immer wieder verließ bzw. aus den Augen verlor. Nur wo Lukas in der ersten Person als »ich« berichtet, könnte es sich um gemeinsam Erlebtes handeln, während die »wir«-Berichte auf einen Zuträger zurückgehen. Alles sehr unsicher, aber auch nicht ganz so wichtig. Jedenfalls wusste Lukas, wie wir unseren Unbekannten nun doch mit fast zwei Jahrtausende alter Tradition nennen wollen, einiges über den historischen Jesus, wenn schon nicht aus erster Hand, so doch aus sehr guter Quelle. Und er hatte eine klare Vorstellung davon, dass das Christentum es geschafft hatte, überall Verbreitung fand, sogar in Rom als der Endstation der Apostelgeschichte, wo Lukas möglicherweise seine Werke verfasste.

Natürlich fragt man sich, wer dieser Lukas war, zum Beispiel ursprünglich ein Jude, der Christ wurde, oder doch eher ursprünglich ein Heide. Für Letzteres spricht, dass Lukas unter den Evangelisten das stilistisch beste Griechisch schrieb, jedenfalls wenn er frei war wie in der Einleitung, die einige Eleganz zeigt. Im Text selbst lehnt er sich sehr eng an Markus an, als wolle er jede Erfindung abweisen, was dann auf ziemlich schlechtes Griechisch hinausläuft, weil Markus wirklich Jude war, der möglicherweise sogar ursprünglich hebräisch bzw. aramäisch schrieb. Das sieht man an typischen Formeln wie »Es begab sich aber«, auch an der Nebeneinanderstellung von Hauptsätzen statt Unterordnung mit entsprechenden Konjunktionen – was Lukas dann brav nachahmt, als sei mit solchen Plumpheiten die Wahrheit erwiesen.


Buchmalerei eines Meisters der Fuldaer Schule: Der Evangelist Lukas, um 840

Auch etwas anderes passt bei Lukas trotz seines großen Interesses an Israel (und der bedauerlichen Trennung als Teil seiner Geschichte) eher nicht zum gebürtigen Juden. Lukas kennt sich zwar in deren heiligen Schriften bestens aus, kopiert förmlich Sprüche der Propheten und Psalmen ein, aber dann fiel Forschern auf, dass ihm das Lokalkolorit von Palästina kaum bekannt war. Als er etwa über die Heilung eines Gelähmten berichtete, fand er bei Markus durchaus das Passende vor, wenn dort davon die Rede ist, dass man den Kranken durch das Dach des Hauses herabließ, weil es offenbar aus Lehm bestand, in dem man leicht eine Öffnung herstellen konnte. Lukas hat vielleicht nicht genau hingesehen oder es sich anders nicht vorstellen können, jedenfalls spricht er von Ziegeln, die man abnahm – Ziegeln, die es im abgelegenen Palästina schlicht nicht gab.

Man muss sich Lukas wohl als einen weltläufigen Intellektuellen vorstellen, einen »Hellenisten«, wie man in der damaligen globalisierten Welt solche Menschen aufgrund der von den Griechen (Hellenen) dominierten Kultur nannte, ob nun ein jüdischer oder ein heidnischer Hellenist. Wie er Christ wurde, wissen wir nicht. Bei Markus und Matthäus sind sich die Experten sicher, dass sie ursprünglich Juden waren, bei Lukas eben nicht. Nur seine profunde Kenntnis des Alten Testaments, das er allerdings auf Griechisch las, spricht für ursprüngliches Judentum. Sagen wir bei dieser Gelegenheit, dass dieses griechische Alte Testament eine Übersetzung war, die einst von 70 jüdischen Gelehrten angefertigt wurde und deshalb auf Griechisch als Hebdomekonta bezeichnet wird. Wir kennen sie heute besser in der lateinischen Bezeichnung als Septuaginta, die von den frühen Christen nicht nur gelesen, sondern auch im christlichen Sinne uminterpretiert wurde – so sehr, dass die Juden selbst irgendwann neue Übersetzungen anfertigten und letztlich wieder zum hebräischen Urtext zurückkehrten. Lukas zitiert jedenfalls stets aus dieser griechisch-hellenistischen Septuaginta, was nicht folgenlos blieb. Also ein guter Bibelkenner, aber auch einer mit erheblicher Voreingenommenheit. Den hebräischen Urtext kannte er wohl nicht.

Womit wir zur Abfassungszeit des Evangeliums kommen, die sich nur einigermaßen genau fixieren lässt. Die Apostelgeschichte, wenn man so will des Evangeliums zweiter Teil, datiert auf die Zeit um 90 n. Chr. In Bezug auf das Evangelium geht eine Vielzahl der Exegeten davon aus, dass Lukas bereits auf die Eroberung von Jerusalem durch die Römer unter Titus und die damit verbundene Zerstörung des Tempels im Jahr 70. n. Chr. zurückblickt. Eine vage Andeutung darauf gibt es etwa bei Lukas mit der Bemerkung: »Jerusalem wird von den Völkern zertreten werden« (Lk 21,24). Damit zeichnet sich wenigstens ein Rahmen ab.

Um zusammenzufassen: Es gab auf jeden Fall einen Lukas, der Evangelium sowie Apostelgeschichte schrieb und dabei der »Wahrheit«, wie er sie verstand, so nahe wie möglich kommen wollte. Wir wissen weiter, worin sein Problem lag. Denn Lukas wendet sich an einen Hochgebildeten, der mit Religionen und Philosophien seiner Zeit vertraut gewesen sein wird. Und dem galt es, Ungeheuerliches zu erzählen: von einem Jesus, der Gottes Sohn gewesen sein muss, da er schließlich von den Toten auferstand und in den Himmel aufgenommen wurde. Lukas ist ganz begeistert von dessen Lehren, besonders von einem Zug, den er immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, breit ausmalt: Es kann auf dieser Welt nicht darum gehen, irdische Reichtümer anzuhäufen, es geht um mehr und Größeres. Von Lukas’ Wiedergabe der Bergpredigt als »Feldrede«, in der das erste Gebot des neuen Glaubens nichts anderes als die »Armut« bedeutet, war schon die Rede.

Aber die Sache mit Jungfrauengeburt und Auferstehung strapazierte eben die Glaubwürdigkeit. Theophilus wird, philosophisch gebildet, wie er war, aufgeklärt gewesen sein und die damaligen Erzählungen über die griechisch-römischen Götter als alberne, jedenfalls überholte Geschichten betrachtet haben. Ein Zeus als notorischer Schürzenjäger, der stets hinter Menschenfrauen her war, sich in einen Stier verwandelte, um Europa zu entführen, oder in einen Schwan, um Leda zu schwängern: Da bot das Judentum etwas anderes mit einem gnädigen und nur bei Fehlverhalten strafenden Gott, der letztlich Erlösung versprach. Und dann erst dieser christliche Gott, der angeblich noch viel weitergegangen war, mit seinem Tod die Menschen von der ererbten Sünde rettete, ihnen eine neue Vervollkommnung in Aussicht stellte. Wobei man eben an diese Göttlichkeit glauben musste, für die sein Leben so sehr sprach, besonders mit den Ereignissen nach dem Tod, aber eben auch mit der angenommenen Jungfrauengeburt. Immerhin gab es dafür teils Augenzeugen, teils die Vorausdeutungen der jüdischen Propheten und der Psalmen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wer einen offenbar bestens gebildeten Mann von diesem Jesus überzeugen wollte, konnte nicht mit Phantastereien aufwarten. Schon hatte überdies der Druck der Außenwelt eingesetzt, hatten die ersten Christenverfolgungen begonnen, u. a. durch Kaiser Nero, nach dem Brand von Rom im Jahr 64. Christ zu sein oder zu werden, brachte jedenfalls ein steigendes Risiko mit sich. Gerade hatten die Römer gezeigt, wie sie mit Juden umgingen, die sich ihnen widersetzten, indem der Kaiser ein Heer schickte, das Jerusalem stürmte, möglichst viele Einwohner umbrachte, den Tempel verwüstete und seine Reichtümer mitnahm, um in Rom das Kolosseum zu bauen. Es war sehr fraglich, ob es auf Dauer genügte, sich von diesen Juden abzusetzen und ihnen (und nicht dem Römer Pilatus) die Schuld an der Kreuzigung in die Schuhe zu schieben, ja einen brutalen Antijudaismus zu pflegen, wie er besonders die Evangelien von Matthäus und Johannes prägt. Wo aber lag die Garantie, dass die Römer nicht genauso Christen bekämpften, die sich weigerten, den Kaiser als Gott anzuerkennen? Da musste man sich der christlichen Lehre schon sehr sicher sein, sie sehr überzeugend darstellen. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass Lukas es Paulus gleichtun wollte und eine Geschichte lieferte, die von gleichem Wert wie die Auferstehung war: nämlich die Geburt dieses Jesus Christus durch eine Jungfrau.

 

Alles musste jedenfalls stimmig sein. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie damalige Leser/Hörer auf die »Geschichten« reagierten. In viel späteren Zeiten setzte eine Art Ranking ein, mit der Einschätzung von hartem Wahrheitskern und mythischer Ausschmückung auf einer gleitenden Skala. Der wirklich harte Kern lag dann bei der Auferstehung. Wer daran nicht glaubte, war kein Christ. Aber schon Luther merkte, dass das Buch Jesaja im Alten Testament aus zwei Teilen bestand, dass es also einen Bearbeitungsprozess gegeben hatte. Im Neuen Testament hielt er den Jakobusbrief für eine »stroherne Epistel« und rückte sie ans Ende seiner Bibelübersetzung wie auf eine Strafbank. Später, in Zeiten aufklärerischer Bibelkritik, traf es gerade das Weihnachtsevangelium. Die ganze Szenerie hatte einfach zu viel Phantastisches, die Krippenseligkeit ebenso wie der Engelschor bei den Hirten, vor allem die Jungfrauengeburt. Sehr schön erzählt, aber eben erzählt – also Mythologie, nicht Wahrheit. Kann man das schon für einen Theophilus als Erstleser annehmen? War der mit einer Erfindung zu überzeugen, von der Lukas schließlich ganz genau wusste, dass es eine Erfindung war? Dafür spricht, dass Lukas einiges dafür tut, das Ganze historisch abzustützen: durch die Datierung mit Steuerschätzung und historisch verbürgte Namen wie Augustus und Quirinius zum Beispiel. Reichte das?

Oder ist dies falsch gefragt? War sich Lukas sicher, dass seine Geschichte überzeugen würde, weil es der Sinn von Geschichten ist, die Wahrheit mit Erfindung zu mischen? Und Theophilus vielleicht ein Leser/Hörer war, der die Frage nach der historischen Wahrheit der Geburt überhaupt nicht verstanden hätte, weil er gar nicht wusste, wie man sie anders hätte darstellen sollen als mit einer erfundenen Geschichte? Wie hätte man da Augenzeugen beibringen können? Aber geboren worden war dieser Jesus Christus. Warum dann nicht diese Geburt so darstellen, dass sie »zeigte«, worauf alles ankam. Natürlich nicht in irgendeiner Unsinnsgeschichte à la Zeus und Co., sondern einer wahrscheinlichen. Die auch noch auf einer Voraussage beruhte, nämlich dem Geburtsort Betlehem. Da konnte man sich doch den Rest leicht ausdenken. Wahrscheinlich war es ohnehin so gewesen, jedenfalls so ähnlich. Wie denn sonst? Lukas, der gebildete Jude im 1. Jahrhundert n. Chr., weiß, dass es eine geschichtliche Wahrheit gibt, auf die alles ankommt – und eine Erzählung dieser Wahrheit, die durch Erfundenes gestützt wird.

Was ich noch einmal unterstreichen möchte: Lukas bietet in seinem Evangelium und seiner Apostelgeschichte Grundlagen des christlichen Glaubens. Dazu erzählt er: einerseits historisch Wahres, andererseits mythologisch Wahres. Die Trennlinie, auf die es uns heute oft ankommt, zieht er nicht. Mythologisches und Historisches gehen ineinander über, wie sie (im Alten Testament) schon immer ineinander übergegangen waren. Selbst der für das Judentum so wichtige Auszug aus Ägypten hält historischer Nachprüfung nicht stand, wie der israelische Archäologe Israel Finkelstein mit seinen Ausgrabungen belegt hat: Keine einzige Scherbe im Wüstensand ließ sich finden. Die anschließend in der Bibel genannten Städte existierten erst Jahrhunderte später, die Mauer von Jericho musste nicht durch den Klang von Trompeten zerstört werden, weil Jericho überhaupt keine Mauern besaß. Die biblischen Geschichten sind in der Regel überwiegend (aber eben nicht nur, was die Sache so schwierig macht) mythologisch, was für Finkelstein ihren Wert in nichts schmälert. Denn diese Geschichten dienten dem Glauben an Jahwe und sein auserwähltes Volk. Die Bibel ist kein Geschichtsbuch, sondern enthält anhand historischer Bezüge eine Anweisung für jüdisches Leben, vor allem für das immer wieder verlorene Vertrauen in diesen Jahwe, der dann stets zur Strafe schritt.

Ob nun Lukas selbst Jude war, ob er den mythologischen Charakter der alttestamentlichen Geschichten durchschaute oder nicht: Er trägt selbst die Wahrheit in Form von Geschichten vor, auch neben schlicht Historischem wie den Reisen von Paulus mit ihren vielen Widrigkeiten oder dessen Aufenthalt in einer römischen Mietswohnung. Letztlich gibt es für ihn nur ein Ziel: Er will sagen, dass mit diesem Jesus der Erlöser erschienen ist, Gottes Sohn, dessen Leben und Taten mittlerweile mit Recht verbreitet werden. Wie aber kann man so viel Unglaubliches glauben? Eben, normalerweise überhaupt nicht. Es muss also nachgeholfen werden. Und helfen können gut erdachte Geschichten, sehr gut erdachte. Die am allerbesten erdachte ist die Weihnachtsgeschichte, Lukas’ Meistererzählung, heute vielleicht diejenige biblische Geschichte im Rahmen des Neuen Testaments, die als einzige noch nicht untergegangen ist. Martin Walser hat sie im für ihn typischen Überschwang einmal als die »schönste, beste Geschichte« bezeichnet, »die je von Menschen ersonnen und formuliert wurde«. Und so viel stimmt ja auch: Viele bekommen bei »Es begab sich aber zu der Zeit …« immer noch eine Gänsehaut.

Die Vorgeschichte

Lukas fand in seinen Vorlagen nichts bzw. kaum etwas für die Geburtsgeschichte Verwertbares. Von Markus hat er sie nicht, denn der beginnt sein Evangelium mit dem Heuschreckenesser Johannes, der Jesus »von Nazaret« tauft, worauf dieser in die Wüste geht und unter »wilden Tieren« lebt, bis sein Wirken in Galiläa einsetzt. Matthäus, der ausführlichste aller Evangelisten, hat die Weihnachtsgeschichte auch nicht oder jedenfalls nur in Teilen. Denn Matthäus berichtet zwar von der Geburt in Betlehem, fokussiert aber den Auftritt der Weisen aus dem Morgenland, der den Kindermord durch Herodes auslöst. Und Johannes springt wieder sogleich zur Taufe, als wäre ihm, der ohnehin das intellektuellste Evangelium abliefert (»Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott …«), die allzu »realistisch« ausgemalte Geburt peinlich. Lukas geht also deutlich über das von ihm Vorgefundene – eigentlich nur die beiden Städte Nazaret und Betlehem – hinaus, erfindet eigenständig. Und er fällt dabei nicht mit der Tür ins Haus. Er erzählt nämlich nach der Ankündigung der Geburt durch den Engel Gabriel nicht gleich die erfolgte Geburt Jesu (Lk 1,26–38), sondern wendet sich ausführlich Johannes dem Täufer zu.

Bei dieser Szene verkennt man das mythologische Arrangement vielleicht leichter, weil die Umstände ausgesprochen realistisch ausgeführt sind (und dann doch nicht wirklich »stimmen«). Es gibt also einen Priester namens Zacharias und dessen Ehefrau Elisabet, beide besonders gottesfürchtig, aber trotz inständiger Gebete kinderlos und in einem Alter, in dem eine Empfängnis ausgeschlossen scheint. Da geschieht ein Wunder. Während Zacharias im Tempel mit einem kultischen Opfer beschäftigt ist, erscheint der Engel Gabriel und kündigt ihm an, dass seine Frau einen Sohn gebären werde, den er, bitteschön, Johannes nennen möge. Dieser Sohn werde »groß sein vor dem Herrn«, keinen »Wein und berauschende Getränke« trinken – eine im Alten Testament häufige Bemerkung in Bezug auf herausgehobene Persönlichkeiten. Zacharias hat Nachfragen wegen der Unwahrscheinlichkeit, wird von Gabriel dafür zur Strafe mit Stummheit belegt. Das führt später zur großen Überraschung, weil Elisabet den Sohn vor dem Volk auftragsgemäß Johannes nennt, obwohl kein Verwandter dieses Namens existiert, und der stumme Ehemann dies auf einem Schreibtäfelchen sofort bestätigt. Daran schließt sich ein Lobgesang an, das Benedictus (›Gepriesen sei der Herr‹), das schon deshalb aus der Tradition stammen dürfte, weil es zur Situation schlecht passt, spricht Zacharias doch in düstersten Tönen von all dem Unheil, aus dem Jahwe das Volk Israel erlösen musste.

Sagen wir zuletzt noch, dass Geburtsankündigungen in der antiken Literatur geradezu eine eigene literarische Gattung bilden. Sie kommen in Homers Odyssee (11,248 f.) ebenso vor wie in Euripides’ Iphigenie in Aulis (V. 1962 ff.), im Alten Testament sowieso – etwa angesichts der Geburt von Ismael (Gen 16,11 f.), Isaak (Gen 17,15 ff.) oder Simson (Ri 13,3 ff.). Weshalb aber erzählt Lukas diese Geschichte, und was stimmt in ihr nicht? Jeder Kenner des Alten Testaments sieht sofort den Wiederholungscharakter. Ein altes Ehepaar bekommt noch ein Kind – wie der Stammvater Abraham mit 100 Jahren und Sara mit über 90 ihren Sohn Isaak (Gen 21,1 ff.). Eine unfruchtbare Frau wird schwanger – wie Isaaks Frau Rebekka mit den Zwillingen Esau und Jakob (Gen 25,21). Jakobs Frau Rahel ist ebenfalls lange kinderlos, ehe Gott »ihren Mutterschoß« öffnete (Gen 29,31). Und auch Hanna bekommt ihren Samuel erst nach göttlichem Eingreifen. Schließlich folgt der Kommentar der Elisabet auf die Überraschung fast wortgleich dem von Rahel, der die unverhoffte Geburt von Josef (den später seine Brüder verkauften) angekündigt wird (Gen 30,23).

All das kann nur gewollt sein. Der Leser soll denken, dass er sich immer noch im Alten Testament befindet, dass dieses Alte Testament nur fortgesetzt wird – womöglich mit dem Nebengedanken, wie schrecklich doch angesichts von so viel Gemeinsamkeit die Trennung von Juden und Christen ist. Und was stimmt an der Geschichte nicht? Lukas kennt offenbar die Abläufe im Tempel nicht genau, lässt Zacharias ins Innere, hinter den Vorhang, gehen, was nur dem Hohepriester, und zwar einmal im Jahr am Laubhüttenfest, zukam, aber auf Zacharias deshalb nicht zutrifft, weil er mit dem Opfer »an der Reihe« war. Er versah also den normalen Priesterdienst – vor dem Vorhang, so dass die Szenerie mit dem Engel gar nicht möglich gewesen wäre. Wer glaubt, die »Parallele« mit dem Alten Testament sei im Falle von Maria unvollkommen, weil Maria keine alte und deshalb unfruchtbare Frau war, übersieht, dass diese Unvollkommenheit das Geschehen nur steigert. Denn diesmal handelt es sich um eine noch viel unwahrscheinlichere Geburt, weil kein menschlicher Erzeuger nötig ist, sondern das Kind vom Heiligen Geist stammt und von einer Jungfrau geboren werden soll. Der ausdrückliche Hinweis darauf, dass schon Elisabet gegen jede Wahrscheinlichkeit schwanger wurde, zeigt deutlich, dass es um eine Art Überbietung geht.

Und dann toppt Lukas auch dies noch. Maria besucht nämlich Elisabet in der Zeit, als beide schwanger sind, und Elisabet, überrascht davon, dass die »Mutter meines Herrn« kommt, berichtet, dass das Kind in ihrem Leibe vor Freude »hüpfte«, also nach Embryoart strampelte. Worauf Maria jenen Lobgesang anstimmt, der in der späteren Kirche zu einem der wichtigsten überhaupt wurde: dem Magnificat (ich lasse einmal beiseite, dass nach der handschriftlichen Überlieferung unklar ist, ob wirklich Maria und nicht Elisabet singt, was übrigens vom Vatikan 1912 ausdrücklich mit einem Diskussionsverbot belegt wurde). Darin ist nicht nur von der »Niedrigkeit seiner Magd« die Rede, sondern auch von den Mächtigen, die vom Thron gestürzt, von den »Niedrigen«, die »erhöht«, von den »Hungernden«, die »beschenkt« werden, während die »Reichen leer ausgehen« – wieder einmal das ausgesprochene Lieblingsthema von Lukas. Allerdings ähnelt dieser Lobgesang insgesamt einem Vorgänger: nämlich dem Lobgesang der Hanna (1 Sam 2,1 ff.). Abgesehen davon lässt sich diese Umkehrung von Arm und Reich als ein verbreitetes Motiv in der weltlichen Literatur identifizieren, sofern dies ebenso bei Homer in der Ilias (20,242 f.) und der Odyssee (16,211 f.) wie in den Oden Pindars oder in den Troerinnen des Euripides (612 f.) vorkommt. Wer nun Lukas vielleicht nicht der Lüge, dafür aber des Plagiats bezichtigt, muss wissen, dass es gerade das »Plagiat« ist, das die Geschichte Christi schon vor seiner Geburt mit der Tradition Israels verknüpft. Das vermeintliche Plagiat ist jedenfalls nichts anderes als eine Form der Beglaubigung. Es gibt nicht nur Vorausdeutungen, es gibt auch aussagekräftige Parallelen.


Veit Stoß: »Englischer Gruß« (Verkündigung an Maria), St. Lorenz, Nürnberg, 1517/18

Dann wird Johannes geboren, um in die Wüste zu entschwinden, wo er sich auf die Ankündigung des Erlösers vorbereitet. Aber Lukas macht nicht beim erwachsenen Johannes und beim ebenfalls längst erwachsenen Jesus weiter, sondern kehrt noch einmal zurück. Er erzählt dessen Geburt: »Es geschah aber in jenen Tagen …« Man fragt sich, weshalb er dies tat, wo doch jeder erkennen musste, dass es sich um eine Erfindung handelte. Wer sollte davon gewusst und es als Augenzeuge weitergegeben haben? Immerhin gibt sich Lukas Mühe, das Ganze als »wahr« hinzustellen. Dazu gehört ein historischer Bezug. Lukas fand ihn in der Volkszählung bzw. im Eintrag in die Steuerlisten unter Kaiser Augustus, die sein Statthalter Quirinius in Syrien organisierte. Die Frage ist natürlich, ob bzw. wann es diese Volkszählung gegeben hat.

 

Die Historiker haben darauf eine klare Antwort, denn Quirinius ist ihnen gut bekannt. Er war von Augustus protegiert worden, kämpfte erfolgreich in Kleinasien und erhielt anschließend die äußerst einträgliche Statthalterschaft über Syrien als eine der wichtigsten Provinzen des Reiches, bildete sie doch den Puffer gegen die ewig rebellischen Parther. Dabei kam es zur Neuordnung der Region und in diesem Zusammenhang zur Volkszählung, die auch ein unabhängiger Zeuge wie der Historiker Flavius Josephus erwähnt und auf 6/7 n. Chr. datiert. Es ging also um einen Provinzialzensus, nicht (wie Lukas durch den Bezug auf Augustus berichtet) um einen Reichszensus. Einen solchen Reichszensus gab es tatsächlich in den Jahren 28 und 8 v. Chr. sowie 14 n. Chr. (Augustus’ Todesjahr), hatte aber in keinem Fall etwas mit Quirinius zu tun. Nimmt man den Bericht von Lukas für bare Münze, müsste man also Christi Geburt mit dem Provinzialzensus verbinden.

Nur tut sich dann der nächste Widerspruch auf. Dafür ist allerdings nicht Lukas, sondern Matthäus verantwortlich. Denn der berichtet zwar weder über die Geburt noch die Volkszählung, dafür über Herodes und sein perfides Eingreifen. Das kann natürlich nur zu dessen Lebenszeit geschehen sein, also vor 4 v. Chr. Womit sich die Quiriniusgeschichte gut zehn Jahre später in Luft auflöst. Wer die Geburt von Jesus datieren will, muss sich also entweder an Matthäus mit seinem Herodes oder an Lukas mit seinem Quirinius halten – und jeweils die Konkurrenz vergessen. Wie kann man sich diesen Widerspruch erklären und vor allem auflösen?

Es ist völlig klar, dass es Lukas in erster Linie auf die Geburt in Betlehem ankam, weil »Betlehem-Efrata« nun einmal vom Propheten Micha (Mi 5,1) als die Geburtsstadt des Messias »vorausgesagt« war. Lukas spricht von Betlehem als der »Stadt Davids«, ist aber auch hier nicht ganz genau, denn die »Stadt Davids« war eigentlich Jerusalem, Betlehem nur der Ort von Davids Herkunft, wo er als Hirte lebte. Aber die Familie von Jesus stammte eben aus Nazaret, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach auch tatsächlich geboren wurde. Markus sagt es und Matthäus behauptet sogar nicht ohne Dreistigkeit (Mt 2,23), es gebe dazu eine Voraussage im Alten Testament, die er ohne nähere Namensnennung auf »die Propheten« zurückführt – unter denen sich kein einziger als Quelle gefunden hat. Jesus galt jedoch immer als »Nazarener«, für die Juden übrigens ein Grund, ihn nicht als den Messias anzuerkennen, weil der nicht aus Galiläa, sondern aus Judäa mit seiner Hauptstadt Jerusalem stammen musste. Andererseits war die Abstammung aus Nazaret schon deshalb glaubhaft, weil sie so unwahrscheinlich ist – Nazaret muss wirklich ein Kaff gewesen sein.

Es bedurfte also einer schon sehr einleuchtenden Motivation, um die lange und beschwerliche Reise über ungefähr 100 Kilometer anzutreten – mit einer Hochschwangeren. Diese Motivation leistete eben die mit der Volkszählung verbundene Steuerschätzung, die allerdings nicht nur wegen des Quirinius-Herodes-Widerspruchs schwierig ist. Denn dass »jeder in seine Stadt« gehen musste, wie es bei Lukas heißt, ist wieder schlicht unhistorisch, weil Maria und Josef im galiläischen Nazaret vom Provinzialzensus in Judäa gar nicht betroffen waren. Selbst wenn Josef in Jerusalem ein Haus besessen hätte, hätte er nur selbst hinreisen müssen, keineswegs aber Maria. Die schöne historische Fixierung von Lukas bricht also wieder einmal zusammen. Klar ist demgegenüber, dass Lukas die Ereignisse datieren will, weil die Wahrheit über den christlichen Glauben letztlich an der historischen Wahrheit dieses Lebens hängt. Die vielen kleinen Widersprüche wird niemand bemerkt haben, weil die genauen Abläufe fast drei Menschenalter später schlicht vergessen waren.

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