Erzählungen und Fragmente

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Michael nahm vom Tisch die Lederreste, rollte sie zusammen, nahm auch die fertigen Leichenschuhe, schlug einen an den andern, wischte sie mit der Schürze ab und reichte sie dem Burschen. Der Bursche nahm die Schuhe.

»Lebt wohl, Meister.«

»Guten Tag.«

VIII.

Es verging noch ein Jahr und auch ein zweites. Jetzt lebt Michael schon das sechste Jahr bei Semjon. Er lebt nach alter Art, geht nicht aus, spricht kein unnützes Wort und hat die ganze Zeit nur zweimal gelächelt: das erste Mal damals, als die Frau ihm das Nachtmahl reichte, das zweite Mal, als der Herr die Stiefel bestellte. Semjon kann sich nicht genug freuen über seinen Gesellen. Er fragt ihn auch nicht weiter, woher er sei. Er fürchtet nur das Eine, daß Michael am Ende von ihm fortgehen werde.

Eines Tages sitzen sie daheim. Die Hausfrau stellt die eisernen Töpfe in den Ofen, die Kinder laufen auf der Wandbank herum und schauen zum Fenster hinaus. Semjon hämmert an dem einen Fenster, Michael sitzt an dem andern und befestigt gerade einen Absatz.

Der Knabe lief über die Bank zu Michael hin, stützte sich auf seine Schulter und sah zum Fenster hinaus.

»Onkel Michael, sieh' mal, die Kaufmannsfrau mit den Mädels da, kommt die nicht zu uns? Eines der Mädchen hinkt.«

Kaum hatte der Knabe das gesagt, als Michael die Arbeit hinwarf, sich zum Fenster wandte und auf die Straße blickte.

Semjon wunderte sich. Sonst schaut Michael doch niemals auf die Straße hinaus. Jetzt aber hat er das Gesicht an die Scheiben gedrückt und starrt auf etwas hin. Auch Semjon blickt hinaus und sieht, es kommt in der Tat eine Frau auf sein Haus zu, ist nett angezogen und führt an jeder Hand ein kleines Mädchen, in Pelzchen und gewirkte Tücher gehüllt. Die Mädchen gleichen sich wie ein Ei dem andern; man kann sie kaum unterscheiden. Das eine aber hinkt auf dem linken Fuß.

Die Frau kam die Treppe herauf in den Flur, tastete nach der Tür, drückte auf die Klinke und öffnete. Die beiden Mädchen ließ sie vorangehen und betrat dann selbst die Stube.

»Guten Tag, Meister und Meisterin.«

»Bitte einzutreten! Was steht zu Diensten?«

Die Frau setzte sich an den Tisch. Die Mädchen schmiegten sich an ihre Knie, sie fürchteten die fremden Leute.

»Den Mädchen da möchte ich zum Frühling Lederstiefelchen bestellen.«

»Warum nicht, das kann geschehen. Wir haben zwar noch nie so kleine Stiefelchen genäht, aber es geht schon. Es können Randschuhe sein, es können auch umgewendete und auf Leinwand gearbeitete sein. Der Michael ist geschickt in allem.«

Dabei sah Semjon sich nach Michael um und sieht, Michael hat die Arbeit fallen lassen, sitzt da und wendet den Blick nicht von den Mädchen.

Und Semjon wundert sich über Michael. Es ist wahr, die Mädchen sind hübsch, dunkeläugig, rotwangig, rundlich, sie haben auch schöne Pelzchen und Tücherchen an, aber dennoch kann Semjon nicht begreifen, warum Michael sie so unausgesetzt anblickt. Es ist fast, als kenne er sie.

Semjon wundert sich und fängt an, mit der Frau zu verhandeln, um einig zu werden. Dann richtet er das Maß her. Die Frau hebt das lahme Kind auf den Schoß und spricht:

»Nimm hier von dieser Kleinen das Maß, für das lahme Füßchen mach' ein Stiefelchen, fürs gerade drei, denn sie haben ganz gleiche Füßchen. Die eine genau wie die andere. Sind ja Zwillinge.«

Semjon nimmt das Maß und spricht, indem er auf die Lahme deutet:

»Wie ist denn das mit ihr so gekommen? Ist doch so ein hübsches Mädel! Hat sie das von Geburt?«

»Nein, die Mutter hat sie gequetscht.«

Nun mischt sich auch Matrjona ein, sie hätte gerne gewußt, wer die Frau ist und wessen Kinder das sind, und fragt: »Bist du denn nicht die Mutter?«

»Ich bin weder ihre Mutter noch ihre Verwandte, Frau Meisterin. Sind ganz fremde – angenommene Kinder.«

»Fremde Kinder – und hast sie doch so lieb?«

»Wie soll ich sie nicht lieb haben, ich habe sie beide an meiner Brust genährt. Ich hatte auch ein eigenes Kindchen, das hat Gott zu sich genommen. Ich habe es nicht so lieb gehabt als ich diese liebe.«

»Ja wessen Kinder sind's denn?«

IX.

Nun wurde die Frau gesprächig und begann zu erzählen:

»Vor sechs Jahren etwa,« sagte sie, »da wurden diese Kinder in einer Woche Waisen. Den Vater beerdigten wir am Dienstag, die Mutter starb am Freitag darauf. Drei Tage nach dem Tode des Vaters wurden diese Kleinen geboren und die Mutter lebte nach der Geburt kaum einen Tag. Mein Mann und ich, wir lebten damals als Bauern. Es waren unsere Nachbarn, wir wohnten Hof an Hof. Der Vater der Kinder arbeitete im Walde; da fiel eines Tages ein Baum auf ihn, quer über seinen Körper, so daß das ganze Innere herausquoll. Man hatte ihn kaum nach Hause geführt, da hauchte er seine Seele aus. Sein Weib aber gebar in derselben Woche Zwillinge, eben diese Mädchen. Sie war arm und verlassen, stand ganz allein da, hatte weder eine alte Frau, noch irgend ein Mädel bei sich. Allein war sie in der schweren Stunde, allein ist sie auch gestorben. Am andern Morgen ging ich hin, um mich nach der Nachbarin umzuschauen; ich komme in die Stube, sie aber, die Arme, ist schon tot und kalt. Im Todeskampf war sie auf das Mädchen gesunken, hatte es gequetscht und das Füßchen verrenkt. Die Leute liefen zusammen, die Tote wurde gewaschen, angezogen, in den Sarg gelegt, begraben. Alles besorgten die guten Menschen. Nun waren die Mädelchen allein auf der Welt. Wohin mit ihnen? Und von allen den Frauen war ich die einzige, die ein Kind an der Brust hatte. Meinen erstgeborenen Knaben nährte ich seit acht Wochen. So nahm ich sie denn einstweilen zu mir. Die Bauern kamen zusammen und überlegten, wo man sie lassen sollte. Da sagten sie zu mir: ›Du, Maria, behalte doch vorläufig die Mädchen bei dir. Inzwischen werden wir Rat finden.‹ Ich gab zuerst dem gesunden Kinde die Brust, das lahme aber wollte ich gar nicht nähren, ich glaubte, es würde ja doch nicht am Leben bleiben; dann aber dachte ich, warum soll das Engelseelchen verlöschen? Und es tat mir auch das kranke Kind leid. Ich fing an, es zu nähren, und so hatte ich mein eigenes und diese zwei, also drei an der Brust und zog sie alle groß. Ich war jung, kräftig und hatte reichlich Nahrung. So gab mir denn der liebe Gott so viel Milch, daß ich mehr als nötig hatte. Es kam vor, daß ich zwei Kinder stillte, während das dritte wartete; hatte eines von den zweien genug, so kam das dritte an die Reihe. Aber der liebe Gott hat's gefügt, daß ich diese hier großgezogen hab', mein eigenes Kind aber im zweiten Jahr begraben mußte. Nachher hat mir Gott kein Kind mehr geschenkt, unser Wohlstand aber nahm zu. Jetzt leben wir hier in der Mühle beim Kaufmann. Der Gehalt ist groß, das Leben bequem und Kinder haben wir nicht. Wie sollte ich nun allein leben, wenn ich diese Mädchen nicht hätte? Wie soll ich sie also nicht lieb haben? Sie sind ja mein ein und mein alles!«

Und die Frau zog mit einer Hand das lahme Kind an sich, während sie sich mit der andern die Tränen von den Wangen wischte.

Matrjona seufzte auf und sagte: »Ja, ohne Vater und Mutter kann der Mensch leben, ohne Gott kann er nicht leben.«

So sprachen sie miteinander, dann erhob sich die Frau, um fortzugehen; die Schustersleute wollten sie begleiten und sahen sich nach Michael um. Der aber sitzt, die Hände auf die Knie gestützt, schaut nach oben und lächelt.

X.

Semjon ging zu ihm heran.

»Was hast du denn, Michael?«

Michael erhob sich von der Bank, legte die Arbeit beiseite, nahm die Schürze ab, verbeugte sich vor Semjon und dessen Frau und sprach:

»Verzeiht mir, Meister und Meisterin; Gott hat mir verziehen, also verzeiht auch ihr.«

Und die beiden sehen, daß von Michael ein Licht ausgeht. Da erhob sich Semjon, verneigte sich vor Michael und sagte:

»Ich sehe, Michael, du bist kein gewöhnlicher Mensch, und ich darf dich nicht halten und ich darf dich nicht ausfragen. Sag' mir nur das Eine: Warum warst du so düster, als ich dich fand und in mein Haus führte? Als aber mein Weib dir das Nachtmahl reichte, da lächeltest du, und von jener Stunde an wurdest du heller. Dann, als der Herr die Stiefel bestellte, lächeltest du zum zweiten Mal und wurdest noch heller, und jetzt, als die Frau die kleinen Mädchen herführte, lächeltest du zum dritten Mal und stehst nun da in hellem Licht. Sage mir, Michael, wie kommt es, daß ein solches Licht von dir ausstrahlt, und warum lächeltest du die drei Male?«

Und Michael antwortete: »Das Licht strahlt von mir aus, weil ich gestraft war und Gott mir jetzt verziehen hat. Und gelächelt habe ich die drei Male, weil ich drei Worte Gottes verstehen sollte – und ich habe diese Worte Gottes verstanden. Das eine Wort habe ich verstanden, als deine Frau Mitleid mit mir hatte, daher lächelte ich damals zum erstenmal. Das zweite Wort habe ich verstanden, als der reiche Mann seine Stiefel bestellte, da lächelte ich zum zweiten Mal, und jetzt, als ich die Mädchen sah, verstand ich das letzte, das dritte Wort Gottes, und ich lächelte zum dritten Mal.«

Da sprach Semjon: »Sage mir, Michael, wofür hat Gott dich gestraft und was sind das für Worte Gottes, damit ich sie kenne?«

Und Michael erwiderte: »Gestraft hat mich Gott, weil ich ihm ungehorsam war. Ich war ein Engel im Himmel und war ungehorsam gegen Gott. Ein Engel im Himmel war ich, und der Herr hatte mich auf die Erde gesandt, auf daß ich einer Frau die Seele nehme. Ich flog zur Erde, da sah ich: die Frau liegt da, krank, hat eben Zwillinge geboren, zwei Mädchen. Die Kinder zappeln an der Seite der Mutter, die Mutter aber kann sie nicht an die Brust nehmen. Da sah mich die Frau, begriff, daß Gott mich geschickt hatte, ihre Seele zu holen, fing an zu weinen und sprach: ›O Engel Gottes, eben erst haben sie meinen Mann begraben, ein Baum im Walde hat ihn erschlagen; ich habe weder Schwester, noch Tante, noch Großmutter; niemand ist da, der meine Waisen erziehen könnte. Nimm doch meine arme Seele nicht! Vergönne es mir, meine Kinder selbst großzuziehen und auf die Füße zu stellen. Die Kleinen können doch nicht ohne Vater, ohne Mutter leben.‹ – Und ich hörte auf die Mutter und legte eines der Mägdlein an ihre Brust, gab ihr das andere in den Arm und stieg wieder empor zum Herrn des Himmels. Und als ich zum Herrn geflogen kam, sprach ich: ›ich konnte der Wöchnerin die Seele nicht nehmen; der Vater ist von einem Baum erschlagen, die Mutter hat Zwillinge geboren und flehte mich an, ihre Seele nicht zu nehmen; laß mich meine Kinder ernähren, großziehen, auf die Füße stellen, sagte sie, die Kinder können nicht ohne Vater, ohne Mutter leben. Da ließ ich ihr die Seele.‹ Der Herr aber sprach: ›Gehe hin und hole die Seele der Wöchnerin, und du wirst drei Worte begreifen. Du wirst begreifen, was in den Menschen ist, was den Menschen nicht gegeben ist und wodurch die Menschen leben. Wenn du das begriffen hast, dann kehre wieder in den Himmel zurück.‹ Und ich flog zurück zur Erde und holte die Seele der Wöchnerin. Die Kinder sanken von ihrer Brust, der leblose Körper fiel schwer aufs Lager, drückte das eine Kind und verrenkte ihm das Füßchen. Ich flog empor über dem Dorf und wollte die Seele zu Gott bringen. Da ergriff mich ein Windstoß, meine Flügel sanken matt hernieder und fielen von mir ab; die Seele stieg allein zu Gott empor, ich aber sank auf die Erde und blieb am Wegrande liegen.«

 

XI.

Nun begriffen Semjon und Matrjona, wen sie gekleidet und ernährt hatten und wer mit ihnen gelebt hatte, und sie weinten vor Schreck und Freude. Der Engel aber sprach weiter:

»Einsam und nackt lag ich auf dem Felde, ich hatte bis dahin die Not der Menschen nicht gekannt. Frost und Hunger waren mir fremd, und nun war ich ein Mensch geworden. Ich war hungrig, ich fror und wußte nicht, was ich anfangen sollte. Da sah ich, im Felde steht eine Kapelle, für Gott erbaut. Und ich ging an die Kapelle Gottes heran, um mich in ihr zu verbergen. Doch die Kapelle war verschlossen, und ich konnte nicht hinein. Und ich setzte mich hinter die Kapelle, um mich gegen den Wind zu schützen. Der Abend kam. Der Hunger quälte mich, ich war erstarrt vor Kälte und litt Schmerzen am ganzen Körper. Plötzlich höre ich, es kommt ein Mensch den Weg entlang. Er trägt Stiefel in der Hand und spricht mit sich selbst. So sah ich denn zum erstenmal das Gesicht eines sterblichen Menschen, seit ich selbst ein Mensch geworden war, und mich ergriff Angst vor diesem Gesicht; ich wandte mich zur Seite. Ich höre, daß dieser Mensch mit sich selbst davon spricht, wie er seinen Körper im Winter vor der Kälte bewahren solle, wie er für Weib und Kinder Nahrung schaffen könne, und ich dachte mir: ich vergehe vor Kälte und Hunger, und da kommt ein Mensch und denkt nur daran, wie er sich und seiner Frau einen Pelz schaffen soll, wie er sich ernähren soll. Der kann mir nicht helfen. – Der Mensch aber erblickte mich, machte ein finsteres Gesicht, sah noch schrecklicher aus und ging vorüber. Ich verzweifelte. Plötzlich höre ich, der Mensch kommt zurück. Ich blickte auf und erkannte den Mann kaum wieder. Erst lag der Tod in seinen Zügen, jetzt aber war er lebendig geworden, und in seinem Antlitz erkannte ich Gott. Er trat an mich heran, bekleidete mich, nahm mich mit sich und führte mich in sein Haus. Ich kam in sein Haus, da trat uns eine Frau entgegen und begann zu sprechen; die Frau war noch schrecklicher als der Mann. Ein Hauch des Todes kam aus ihrem Munde und ich konnte kaum atmen vor diesem Hauch. Sie wollte mich hinausjagen in die Kälte; ich aber wußte, daß sie sterben müsse, wenn sie das tat. Da plötzlich erinnerte ihr Mann sie an Gott, und die Frau wurde mit einemmal eine ganz andere; und als sie uns das Abendessen reichte und mich anblickte, da sah ich sie auch an. Der Tod war von ihr gewichen, sie war lebendig, und ich erkannte auch in ihr Gott den Herrn. Da erinnerte ich mich des ersten Wortes Gottes: ›Du wirst begreifen, was in den Menschen ist.‹ Und ich begriff, daß in den Menschen die Liebe ist. Freude ergriff mich, weil Gott schon begann, mir zu entdecken, was er versprochen hatte, und ich lächelte zum erstenmal; aber alles konnte ich noch nicht begreifen. Ich wußte noch nicht, was den Menschen nicht gegeben ist, und wodurch sie leben. Ich blieb bei euch, und es verging ein ganzes Jahr. Da kam der reiche Mann, der die Stiefel bestellte. Die Stiefel, die ein Jahr halten sollten, ohne zu reißen, ohne schief zu werden. Ich schaute ihn an und erblickte plötzlich hinter ihm meinen Gefährten, den Todesengel. Niemand außer mir sah diesen Engel. Ich aber kannte ihn, und ich wußte: ehe die Sonne untergeht, wird die Seele des reichen Mannes von ihm genommen sein, und ich dachte, der Mensch sorgt vor für ein ganzes Jahr und weiß nicht, daß er nicht einmal den Abend erleben wird. Da erinnerte ich mich des zweiten Wortes Gottes: ›Du wirst begreifen, was den Menschen nicht gegeben ist.‹ Was in den Menschen ist, das wußte ich bereits; jetzt erfuhr ich, was ihnen nicht gegeben ist. Es ist den Menschen nicht gegeben, zu wissen, was sie für ihres Lebens Notdurft brauchen, – und ich lächelte zum zweiten Mal. Ich freute mich, daß ich meinen Gefährten, den Engel, gesehen hatte, und freute mich, daß Gott mir auch das zweite Wort offenbart hatte. Alles aber konnte ich noch nicht verstehen, ich wußte noch nicht, wodurch die Menschen leben. So lebte ich dahin und wartete, wann Gott mir auch das dritte Wort offenbaren werde. Im sechsten Jahre meines Hierseins kamen die Zwillingsschwestern mit der Frau, und ich erkannte die Mädchen und erfuhr nun, wie diese Kleinen am Leben geblieben waren. Ich erfuhr es und dachte: die Mutter bat mich damals um der Kinder willen; ich glaubte der Mutter, meinte, ohne Vater und Mutter können die Kinder nicht leben, und doch hat eine fremde Frau sie genährt und großgezogen. Und als die Frau aus Liebe zu den fremden Kindern zu weinen begann, da erblickte ich in ihr den lebendigen Gott, und ich begriff, wodurch die Menschen leben. Ich begriff, daß Gott mir nun auch das letzte Wort offenbart hatte und daß er mir verziehen hatte. Da lächelte ich zum dritten Mal.«

XII.

Die Gewänder fielen von dem Körper des Engels herab, helles Licht umstrahlte ihn, so daß das menschliche Auge ihn nicht anblicken konnte. Seine Stimme wurde mächtig, als käme sie nicht aus ihm, sondern vom Himmel herab, und der Engel sprach:

»Ich begriff, daß ein jeder Mensch nicht durch die Sorge um sich selbst lebt, sondern durch die Liebe. Es war der Mutter nicht gegeben, zu wissen, was ihre Kinder fürs Leben brauchen. Es war dem reichen Manne nicht gegeben, zu wissen, was er selber brauchte, und keinem einzigen Menschen ist es gegeben, zu wissen, ob er noch Stiefel braucht, oder ob er schon Leichenschuhe anziehen muß, ehe der Tag sich neiget. Und ich selbst, als ich ein Mensch geworden war, ich blieb am Leben nicht dadurch, daß ich für mich selber sorgte, sondern dadurch, daß ein vorübergehender Wanderer und dessen Frau Nächstenliebe empfanden, daß sie Mitleid mit mir hatten und mich lieb gewannen. Und die Waisen, sie blieben am Leben nicht dadurch, daß andere für sie sorgten, sondern dadurch, daß im Herzen einer fremden Frau die Liebe wohnte, daß sie Mitleid mit ihnen hatte, sie lieb gewann. Und alle Menschen, sie leben nicht, weil sie selber für sich sorgen, sondern weil Liebe in den Menschen wohnet. Früher wußte ich nur, daß Gott den Menschen das Leben gegeben hat und daß er will, sie sollen leben; jetzt habe ich auch noch ein anderes begriffen. Ich habe begriffen: Gott hat nicht wollen, daß die Menschen jeder für sich leben, daher hat er ihnen nicht offenbart, was jeder für sich braucht: er wollte, daß sie gemeinsam leben, und daher zeigt er ihnen, was sie alle brauchen für sich und für die andern. Und ich verstand: es scheint den Menschen nur so, als wenn sie durch die Sorge für ihr eigenes Ich leben, in Wahrheit aber leben sie nur durch die Liebe. Wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm, denn Gott ist die Liebe.«

Und der Engel begann das Lob Gottes zu singen, und von seiner Stimme erbebte das Haus, die Decke tat sich auf und eine Feuersäule erhob sich von der Erde bis zum Himmel. Semjon aber und seine Frau und die Kinder sanken auf die Knie. Auf dem Rücken des Engels entfalteten sich Flügel und er flog empor zum Himmel.

Als Semjon zu sich kam, war alles im Zimmer wie früher und niemand war da als er und die Seinen.

1 Säuerliches Getränk aus Wasser und Schwarzbrotteig.

Lösche den Funken, ehe er zur Flamme wird


Alsdann trat Petrus zu ihm und sprach: Herr! wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, wenn er wider mich sündigt? Bis zu sieben Malen?

Jesus sprach zu ihm: Nicht sage ich dir: bis zu lieben Malen, sondern bis zu siebenzig sieben Malen.

Darum ist das Himmelreich einem Könige gleich, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte.

Und als er angefangen zu rechnen, wurde ihm einer vorgeführt, der ihm zehntausend Talente schuldig war.

Da dieser aber nichts hatte, womit er bezahlen konnte, befahl sein Herr, ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und zu bezahlen.

Da fiel jener Knecht vor ihm nieder, bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen.

Der Herr aber erbarmte sich über diesen Knecht, entließ ihn und schenkte ihm die Schuld.

Nachdem aber jener Knecht hinausgegangen war, fand er einen seiner Mitknechte, welcher ihm hundert Denare schuldete; und er packte ihn, würgte ihn und sprach: Bezahle, was du schuldig bist!

Da fiel ihm sein Mitknecht zu Füßen, bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir und ich werde dir alles bezahlen!

Er aber wollte nicht, sondern ging hin und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt hätte.

Als aber seine Mitknechte sahen, was geschah, wurden sie sehr betrübt; und sie kamen und erzählten ihrem Herrn alles, was geschehen war.

Da rief ihn sein Herr zu sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Die ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast;

hättest denn nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen sollen, so wie ich mich deiner erbarmt habe?

Und erzürnt übergab ihn sein Herr den Peinigern, bis er die ganze Schuld abbezahlt haben würde.

So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder, von Herzen vergebt.

(Matth. 18, 21–85)

In einem Dorfe lebte ein Bauer namens Iwan Schtscherbakow. Es ging ihm gut. Er war ein Mann in voller Kraft, der beste Arbeiter im Dorf und hatte drei erwachsene Söhne. Der eine war schon verheiratet, der zweite war Bräutigam, der dritte, ein halbwüchsiger Bursche, verstand mit den Pferden umzugehen und begann bereits zu ackern. Iwans Frau war ein gescheites und wirtschaftliches Weib; seine Schwiegertochter friedliebend und arbeitsam. Iwan und seine Familie konnten es sich also gut gehen lassen. Leute, die da nicht arbeiteten, gab's auf dem Hofe nicht, mit Ausnahme des alten, kranken Vaters, der bereits das siebente Jahr an Atemnot litt und untätig auf dem Ofen lag.

Iwan besaß genug von allem: drei Pferde mit einem Füllen, eine Kuh mit einem Kalb und fünfzehn Schafe. Die Weiber nähten für die Männer Schuhe und Kleider und arbeiteten auf dem Felde, die Männer verrichteten ihre Bauernarbeit. Das Getreide reichte von einer Ernte bis über die andere. Mit dem Hafer wurden die Steuern und die Bedürfnisse des Tages bestritten. Kurz, Iwan hätte mit seinen Kindern ein gutes Leben führen können, aber Hof an Hof mit ihm lebte der Nachbar Gabriel der Hinkende, Gordej Iwanows Sohn, und zwischen ihm und Iwan bestand Feindschaft.

Solange der alte Gordej lebte und Iwans Vater noch selbst wirtschaftete, hausten die Bauern freundschaftlich nebeneinander. Brauchten die Weiber einmal ein Sieb oder einen Kübel, brauchten die Männer einen Sack oder ein Rad, so schickten sie nach dem Nachbarhof und halfen einander nachbarlich. Wenn ein Kalb sich in die Tenne des andern verlief, so jagten sie es heim und sagten nur: »Paßt ein wenig auf, in unserer Tenne liegt noch das Getreide herum.« Aber daß ein Nachbar vor dem andern etwas versteckte oder in der Scheune verschloß, oder gar mit ihm zu Gericht ging, das war unter ihnen nicht Brauch.

 

So lebte man zu Zeiten der beiden Alten. Als aber die Jungen die Wirtschaft übernahmen, wurde es anders. Mit einem Nichts fing die Sache an.

Ein Huhn von Iwans Schwiegertochter hatte früh zu legen angefangen. Die junge Frau sammelte die Eier zum Osterfest. Jeden Tag ging sie in die Scheune, um aus dem Wagenkasten das Ei zu holen. Einmal aber hatten die Kinder die Henne aufgescheucht; sie war über den Zaun in den Nachbarhof geflogen und hatte das Ei dort gelegt. Die junge Frau hört die Henne gackern und denkt: »Ich hab' jetzt keine Zeit, ich muß das Haus zum Feiertag in Ordnung bringen, ich gehe später hin und hol' mir das Ei.« Am Abend geht sie in die Scheune zum Wagenkasten; – es ist kein Ei da. Die junge Frau fragt die Schwäger und die Schwiegermutter, ob sie es vielleicht genommen hätten. Nein, sagen die, sie haben es nicht genommen. Taratz, der jüngste Schwager, aber sagt:

»Deine Henne hat ja auf dem Nachbarhof gelegt; dort hat sie gegackert und von dort kam sie heimgeflogen.«

Die junge Frau sieht ihre Henne an; die sitzt auf der Stange neben dem Hahn, hat die Augen schon geschlossen und will schlafen. Gern hätte die Frau sie gefragt, wo sie das Ei gelegt habe, aber die Henne hätte ja doch nicht geantwortet. So ging denn die junge Frau zu den Nachbarn. Die alte Bäuerin kommt ihr entgegen:

»Was suchst du, junge Frau?«

»Ach, Großmütterchen,« erwidert die junge Bäuerin, »mein Hühnchen ist heute zu euch hinübergeflogen, hat es nicht irgendwo ein Eichen gelegt?«

»Wir haben nichts gesehen. Unsere eigenen Hennen legen. Gott sei Dank, schon lange. Wir haben unsere Eier gesammelt, fremde brauchen wir nicht. Wir gehen nicht auf fremden Höfen Eier suchen, junge Frau!«

Die junge Bäuerin war gekränkt und sagte ein überflüssiges Wort. Die Nachbarin gab zwei zurück und so begannen die Frauen zu zanken. Iwans Frau ging mit dem Wassereimer vorüber und mischte sich auch hinein. Da kam Gabriels Frau herbeigeeilt und fing an, der Nachbarin Vorwürfe zu machen, hielt ihr Dinge vor, die längst gewesen waren, und fügte noch manches hinzu, was nie gewesen war. So entstand ein großer Lärm. Alle schrien durcheinander und überboten einander an Redegeschwindigkeit. Lauter häßliche Worte fielen: du bist dies und du bist das; du bist eine Diebin, du eine Schlampe; du bringst deinen alten Schwiegervater noch ins Grab, du bist ein Taugenichts und du bist ein Bettelweib, hast mir mein Sieb zerrissen. Du hast auch unser Tragholz, gib unser Tragholz her. – Sie griffen nach dem Tragholz, schütteten das Wasser aus dem daran hängenden Eimer, zerrissen sich gegenseitig die Kopftücher und begannen sich zu prügeln. Gabriel kam vom Felde gefahren und ergriff Partei für seine Frau. Da sprangen Iwan und dessen Sohn herbei und stürzten sich ebenfalls mitten unter die Streitenden. Iwan, der ein starker Mann war, warf sie alle auseinander und riß dabei dem Gabriel ein Büschel Haare aus dem Bart. Eine Menge Menschen versammelte sich und brachte die Gegner kaum auseinander.

So hatte die Feindschaft angefangen.

Gabriel wickelte sein Haarbüschel in ein Blatt Papier und fuhr zum Gemeindegericht, den Nachbar zu verklagen.

»Ich habe meinen Bart doch nicht wachsen lasten,« sagte er, »damit ihn dieser pockennarbige Iwan mir ausreißen soll.«

Und seine Frau prahlte vor den Nachbarn, daß Iwan nun verurteilt und nach Sibirien geschickt werden würde. Und so ging die Feindseligkeit ihren Gang.

Gleich vom ersten Tag an hatte ihnen der Alte vom Ofen aus Vernunft gepredigt. Doch die Jungen hatten nicht auf ihn gehört. Er sprach zu ihnen:

»Dummheiten macht ihr, Kinder, und aus einem Nichts macht ihr eine wichtige Angelegenheit. Bedenkt doch, daß euer ganzer Streit um eines Eies willen entstanden ist. Kinder haben wohl das Ei vom Boden aufgehoben. Gott mit ihnen! An einem Ei liegt doch nicht so viel; Gott hat für alle genug. Na, und hat die Nachbarin ein böses Wort gesagt, so antwortet ihr mit einem guten. Und habt ihr euch geprügelt, – ihr seid halt sündige Menschen, bei denen auch das Vorkommen kann. Geht hin und versöhnt euch, und die Sache hat ein Ende: wollt ihr aber im Bösen weiter leben, wird's schlimmer werden als es ist.«

Die Jungen hörten nicht auf den Alten und meinten, er rede gar nicht zur Sache, sondern fasele etwas nach alter Leute Art. Iwan gab dem Nachbar nicht nach.

»Ich hab' ihm den Bart nicht ausgerissen,« sagte er, »er hat ihn sich selbst ausgezupft. Sein Sohn aber hat mir das Hemd, das ganze Hemd zerfetzt. Da ist es.«

Und auch Iwan fuhr hin und klagte. Ihr Streit kam zum Friedensgericht und zum Gemeindegericht. Inzwischen kam bei Gabriel ein Deichselnagel aus dem Leiterwagen in Verlust, und Gabriels Weiber behaupteten, daß Iwans Sohn ihn genommen habe.

»Wir haben gesehen,« sagten sie, »wie er sich in der Nacht am Fenster vorüber zum Wagen geschlichen hat, und die Gevatterin hat erzählt, er sei an der Schenke vorgefahren und habe dem Wirt den Deichselnagel verkaufen wollen.«

Und wieder ging das Klagen an; und zu Hause verging kein Tag ohne Zank oder gar Prügelei. Sogar die Kinder zankten sich schon, wie sie's von den Alten gelernt hatten. Und wenn die Weiber sich am Fluß beim Wäschewaschen trafen, so schlugen sie weniger die Wäsche mit dem Klopfholz als einander mit den bösen Zungen.

Anfangs verleumdeten die Männer einander nur, dann aber begannen sie sich in Wirklichkeit zu bestehlen, sobald etwas unbewacht dalag, und sie gewöhnten auch ihre Frauen und Kinder daran. So wurde ihr Leben immer schlechter und schlechter. Iwan Schtscherbakow und Gabriel der Hinkende klagten gegeneinander in den Gemeindeversammlungen, beim Dorfrichter und beim Friedensrichter, so daß sie bereits allen Richtern lästig wurden. Bald bringt Gabriel den Iwan zu einer Geldstrafe oder ins Gefängnis, bald Iwan den Gabriel. Und je mehr Böses sie einander antun, desto zorniger werden sie aufeinander. Wenn Hunde sich ineinander verbeißen, so werden sie ja auch immer wütender, je länger der Kampf dauert. Schlägt man den einen Hund von rückwärts, so denkt er, der andere hat ihn gebissen, und fährt noch wütender auf ihn los. So war's auch mit den beiden Männern: sie gingen zu Gericht, wurden bestraft und empfanden danach nur noch mehr Groll aufeinander: »Wart nur, ich werd' dir das alles heimzahlen.«

So ging es ganze sechs Jahre hindurch. Der Alte auf dem Ofen predigte ihnen immer ein und dasselbe; oft genug ermahnte er sie:

»Was macht ihr, Kinder! laßt doch die alten Streitigkeiten sein. Vernachlässigt eure Arbeit nicht und ärgert euch nicht über andere Leute, das wird das Beste sein. Je mehr ihr gegeneinander wütet, um so schlimmer wird es.«

Sie hörten nicht auf den Alten.

Im siebenten Jahre wurde der Streit von neuem angefacht, weil Iwans Schwiegertochter bei einer Hochzeit den Gabriel vor allen Leuten beschimpfte und ihn beschuldigte, er sei beim Pferdestehlen ertappt worden. Gabriel war angeheitert, konnte sich nicht beherrschen und schlug die Frau so, daß sie eine Woche zu Bett liegen mußte. Iwan freute sich und fuhr mit einer Klage zum Untersuchungsrichter. »Jetzt,« denkt er, »rechne ich mit dem Nachbarn gründlich ab. Jetzt kann er dem Zuchthaus oder Sibirien nicht entgehen.« Aber es kam wieder nicht, wie Iwan dachte. Der Untersuchungsrichter nahm die Klage nicht an, die Frau wurde untersucht, sie stand auf und es waren keine Folgen von den Schlägen zu bemerken. Iwan fuhr zum Friedensrichter, der aber schickte die Sache an das Gemeindegericht. Iwan tat in der Gemeinde, was er konnte; bewirtete den Schreiber und den Gemeindeältesten mit einem halben Eimer süßen Branntweines und setzte es durch, daß Gabriel zu Rutenhieben verurteilt wurde. Das Urteil wurde dem Gabriel bei Gericht vorgelesen. Der Schreiber liest:

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