Kindheit

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Der Unterricht

Ins Zimmer trat ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit blassem, pockennarbigem, länglichem Gesicht, langen grauen Haaren und einem dünnen, rötlichen Barte. Er war so groß, daß er, um durch die Tür zu kommen, nicht nur den Kopf beugen, sondern seinen ganzen Körper zusammenbiegen mußte. Er war in ein zerfetztes Gewand gehüllt, das teils einem Bauernrock, teils einem Priesterkleid glich; in der Hand trug er einen riesigen Stab. Ins Zimmer tretend, klopfte er mit diesem Stab aus Leibeskräften auf den Fußboden, wobei er die Augenbrauen zusammenzog, den Mund übermäßig weit aufsperrte und in ein schreckliches, unnatürliches Lachen ausbrach. Auf einem Auge war er blind, und die weiße Pupille dieses Auges rollte unaufhörlich hin und her und verlieh dem ohnedies häßlichen Gesichte einen noch garstigeren Ausdruck.

»Aha, erwischt?« schrie er, mit kurzen Schritten auf Wolodja zueilend, den er beim Kopfe packte, um sorgfältig seinen Scheitel zu betrachten; dann ging er mit ganz ernster Miene von Wolodja fort, trat an den Tisch und begann, unter das Wachstuch zu blasen und das Kreuzeszeichen darüber zu machen.

»Ooo schade! ooo, tut weh! – Die Lieben werden davonfliegen!« sprach er sodann mit von Tränen zitternder Stimme, indem er Wolodja voller Herzeleid anblickte, und mit dem Ärmel die tatsächlich fallenden Tränen trocknete.

Seine Stimme war rau und heiser, seine Bewegungen waren hastig und unregelmäßig, seine Worte sinnlos und ohne Zusammenhang (er gebrauchte niemals ein Fürwort), aber die Betonung war so rührend, und das gelbe, mißgestaltete Gesicht nahm zuweilen einen so aufrichtig betrübten Ausdruck an, daß man sich beim Zuhören eines gewissen, aus Mitleid, Angst und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühles nicht erwehren konnte.

Das war der unstet umherirrende Grischa.

Woher stammte er? wer waren seine Eltern? was hatte ihn veranlaßt, das Wanderleben, das er führte, zu erwählen? – Das wußte niemand. Ich weiß nur, daß er von seinem fünfzehnten Lebensjahre an als Narr bekannt war, der Sommer und Winter barfuß ging, die Klöster besuchte und Leuten, die er lieb gewann, kleine Heiligenbilder schenkte; daß er rätselhafte Worte sprach, welche von manchen als Weissagungen aufgefaßt wurden; daß ihn niemand je anders gekannt hatte, als er jetzt war; daß er zuweilen zu meiner Großmutter kam und daß die einen von ihm sagten, er sei der unglückliche Sohn reicher Eltern und eine unschuldsvolle Seele, und andere, er sei nichts als ein Bauer und Faulenzer.

Endlich erschien der langersehnte und pünktliche Foka, und wir gingen hinunter. Grischa folgte uns schluchzend, ohne mit seinen unsinnigen Reden aufzuhören, und stieß mit dem Stab auf die Stufen der Treppe. – Papa und Maman schritten Arm in Arm im Salon auf und nieder und sprachen miteinander. Maria Iwanowna saß würdevoll in einem Lehnstuhl, der symmetrisch in rechtem Winkel an den Diwan gerückt war, und gab den neben ihr sitzenden Mädchen mit strenger, aber gedämpfter Stimme gute Lehren. Als Karl Iwanowitsch ins Zimmer trat, blickte sie sich nach ihm um, wandte sich aber sofort wieder ab, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, den man ungefähr deuten konnte: »Ich bemerke Sie nicht, Karl Iwanowitsch!« Den Mädchen sah man's an den Augen an, daß sie sich danach sehnten, uns irgend eine sehr wichtige Mitteilung zu machen; aber vom Platze aufspringen und uns entgegengehen wäre eine Übertretung von Mimis Regeln gewesen. Zuerst mußten wir zu ihr gehen, mußten sagen: »Bonjour, Mimi« und einen Kratzfuß machen, dann erst durfte man ein Gespräch anfangen.

Was war diese Mimi doch für eine unerträgliche Person! In ihrer Gegenwart durfte man zuweilen gar nichts sprechen: sie fand alles unpassend. Überdies quälte sie uns mit ihrem unaufhörlichen: »Parlez donc français!« während wir, wie zum Trotz, gerade gern russisch geplaudert hätten; oder man wollte sich beim Mittagessen eine Speise eben so recht schmecken lassen und wünschte, von niemand gestört zu werden, da ertönt unbedingt ihr: »Mangez donc avec du pain!« oder: »Comment-c'est que vous tenez votre fourchette?« – »Was hat sie sich überhaupt um uns zu kümmern?« denkt man, »mag sie doch ihre Mädels schulmeistern, wir haben dazu doch Karl Iwanowitsch!« Ich teilte dessen Haß gegen »gewisse Leute« vollständig.

»Bitt' doch Mama, daß man uns auf die Jagd mitnehme!« flüsterte Katjenka mir zu, indem sie mich beim Rock festhielt, als die Erwachsenen ins Zimmer vorangingen.

»Gut, ich werde mir Mühe geben.«

Grischa verzehrte sein Mittagbrot im Speisezimmer, aber an einem besonderen Tischchen; er blickte von seinem Teller nicht auf, seufzte von Zeit zu Zeit, schnitt entsetzliche Grimassen und sprach wie zu sich selbst: »Schade! – fortgeflogen – die Taube wird zum Himmel fliegen – ach, auf dem Grabe liegt der Stein!« usw.

Maman war seit dem Morgen aufgeregt; die Gegenwart, die Worte und das Gebaren des Idioten verstärkten ihre Erregung merklich.

»Ach ja, fast hätte ich vergessen, dich um etwas zu bitten«, sagte sie, indem sie meinem Vater den Teller mit Suppe reichte.

»Was denn?«

»Bitte, laß deine schrecklichen Hunde einsperren; sie haben beinahe den armen Grischa zerrissen, als er über den Hof ging. Sie können ebensogut die Kinder anfallen.«

Als Grischa hörte, daß man von ihm sprach, kehrte er sich dem Esstisch zu, zeigte die zerrissenen Schöße seines Gewandes und sprach dabei kauend:

»Wollte, daß totbeißen – Gott ließ nicht zu! Sünde, mit Hunden hetzen, große Sünde! Schlag' nicht, Großer, – warum schlagen? Gott wird verzeihen – die Zeiten sind nicht so –«

»Was redet er da?« fragte Papa, ihn aufmerksam und streng betrachtend; »ich verstehe nichts.«

»Aber ich verstehe ihn.« erwiderte Maman, »er hat mir erzählt, daß irgend ein Jäger absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen hat, deshalb sagte er: wollte, daß totbeißen, aber Gott ließ nicht zu, – und er bittet dich, du mögest den Jäger dafür nicht bestrafen.«

»Ach so!« sagte Papa; »woher weiß er denn, daß ich diesen Jäger bestrafen will? – Du weißt, ich bin im allgemeinen kein großer Freund dieser Herren«, fuhr er in französischer Sprache fort, »und dieser mißfällt mir ganz besonders und muß –«

»Ach, sag' das nicht, mein Freund!« unterbrach ihn Maman fast erschrocken, »wie kannst du wissen?«

»Ich denke, ich habe Gelegenheit genug gehabt, diese Gattung Menschen kennen zu lernen, – es kommen ihrer so viele zu dir, – alle nach demselben Schnitt! Ewig die gleiche Geschichte –«

Man merkte, daß Mütterchen in dieser Angelegenheit völlig anderer Meinung war und nicht darüber streiten wollte.

»Reich mir, bitte, ein Pastetchen«, sagte sie, »sind sie heute gut, wie?«

»Nein, mich ärgert es«, fuhr Papa fort, indem er ein Pastetchen ergriff, aber so weit weghielt, daß Maman es nicht erreichen konnte; »mich ärgert es, wenn ich sehe, daß kluge und gebildete Leute sich betrügen lassen.« Und er schlug mit der Gabel auf den Tisch.

»Ich bat dich, mir ein Pastetchen zu reichen«, wiederholte Maman, die Hand ausstreckend.

»Und man tut gut daran, daß man solche Leute polizeilich einsperrt«, sprach Papa weiter, indem er seine Hand zurückzog: »sie tun nichts, als daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Leute noch mehr aufregen«, schloß er mit einem Lächeln, als er merkte, daß dieses Gespräch Maman durchaus nicht gefiel, und reichte ihr das Pastetchen.

»Ich will dir darauf nur eines sagen«, erwiderte Maman, »es ist schwer zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre Winter und Sommer barfuß geht und unter seinem Gewande, ohne sie je abzulegen, Ketten im Gewicht von zwei Pud trägt, der wiederholt das Anerbieten ausschlug, ruhig und mit allem versorgt zu leben, – es ist schwer zu glauben, daß ein solcher Mensch das alles nur aus Trägheit tut. Was die Weissagungen betrifft –« fügte sie mit einem Seufzer hinzu und schwieg ein Weilchen, »je suis payée pour y croire; ich hab' dir ja erzählt, glaube ich, wie Kirjuscha meinem seligen Papa Tag und Stunde seines Todes ganz genau vorhergesagt hat.«

»Ach, was hast du mir angetan!« sagte Papa lächelnd und die Hand an der Seite, wo Mimi saß, vor seinen Mund haltend. (Wenn er das tat, horchte ich stets mit gespannter Aufmerksamkeit, weil ich etwas Komisches erwartete.) »Warum hast du mich an seine bloßen Füße erinnert? Ich hab' hingeschaut und kann nun nichts mehr essen!«

Das Mittagsmahl näherte sich dem Ende. Ljubotschka und Katjenka machten uns unaufhörlich Zeichen, rutschten auf ihren Stühlen hin und her und verrieten überhaupt große Unruhe. Ihre Zeichen bedeuteten: »Warum bittet ihr denn nicht, daß man uns auf die Jagd mitnehme?« Ich stieß Wolodja mit dem Ellenbogen an, Wolodja stieß mich an, entschloß sich aber endlich: zuerst schüchtern, dann ziemlich sicher und laut erklärte er, da wir heute abreisen müßten, sei es unser Wunsch, daß die Mädchen zusammen mit uns auf die Jagd fahren dürften, und zwar auf der Liniendroschke. Nach einer kurzen Beratung zwischen den Erwachsenen wurde die Frage zu unsern Gunsten entschieden und – was das Schönste war – Maman sagte, daß sie selbst ebenfalls mitfahren wolle.

Der Idiot

Während des Desserts wurde Jakob gerufen; die Weisungen in Bezug auf die Liniendroschke, die Hunde und die Reitpferde wurden ihm mit größter Ausführlichkeit erteilt, wobei jedes Pferd beim Namen genannt wurde. Wolodjas Pferd hinkte; Papa befahl daher, für ihn ein Jagdpferd zu satteln. Dieses Wort »Jagdpferd« erschreckte Maman: es schien ihr, als müsse ein Jagdpferd so etwas wie ein wildes Tier sein, und als werde es ganz bestimmt durchgehen und Wolodja ums Leben bringen. Trotz des Zuredens meines Vaters und Wolodjas – der mit staunenswerter Courage behauptete, das mache ihm gar nichts, er habe es sehr gern, wenn das Pferd durchgeht, – hörte die arme Maman nicht auf zu versichern, daß sie auf der ganzen Fahrt Angst ausstehen werde.

 

Das Mittagsmahl war zu Ende; die Großen begaben sich ins Kabinett Kaffee trinken, und wir liefen in den Garten, scharrten mit den Füßen in dem welken Laub, das die Wege bedeckte, und plauderten. Wir sprachen darüber, daß Wolodja auf dem Jagdpferde reiten werde, daß Ljubotschka sich schämen müsse, weil sie langsamer lief als Katjenka, daß es interessant wäre, Grischas Ketten anzuschauen usw.; über unsere Trennung aber wurde kein Wort gesprochen. Unser Gespräch wurde durch das Rollen der Liniendroschke unterbrochen, auf welcher an jeder Ecke ein Knechtsjunge saß. Hinter der Droschke ritten die Jäger mit den Hunden, hinter den Jägern der Kutscher Ignaz auf dem für Wolodja bestimmten Pferde, meinen uralten Klepper am Zügel führend. Wir stürzten alle zum Zaun, von dem aus diese interessanten Dinge zu sehen waren; dann aber liefen wir mit Gekreisch und Getrampel nach oben, um uns anzuziehen, und zwar so, daß wir einem Jäger so ähnlich sahen wie nur möglich. Eines der Hauptmittel zur Erreichung dieses Zwecks war das Hineinstecken der Hosen in die Stiefelschäfte. Ohne Zögern machten wir uns daran, um so schnell als möglich fertig zu sein, auf die Veranda hinauszulaufen und uns am Anblick der Hunde und Pferde sowie am Geplauder mit den Jägern zu ergötzen.

Es war ein heißer Tag. Weiße Wölkchen von seltsamer Form hatten sich schon am Morgen am Horizont gezeigt; ein leichter Wind hatte sie näher und näher getrieben, so daß sie zuweilen die Sonne verdeckten. Doch wie auch die Wolken hin und her zogen und dunkler und dunkler wurden, – es war ihnen nicht vergönnt, sich zu einem Gewitter zusammenzuziehen und noch zu guter letzt unser Vergnügen zu stören. Gegen Abend zerstreuten sie sich wieder: die einen wurden blaß und lang und eilten dem Horizonte zu; andere, gerade über uns stehende, verwandelten sich in weiße, durchsichtige Schuppen; nur eine große schwarze Wolke blieb im Osten stehen. Karl Iwanowitsch wußte immer schon vorher, wohin jede einzelne Wolke ziehen würde; er erklärte, daß diese Wetterwolke nach Maßlowka ziehe, daß es nicht regnen, sondern wunderschön bleiben werde.

Foka kam trotz seines vorgerückten Alters schnell und gewandt die Treppe herabgeeilt, schrie: »Vorfahren!« und stellte sich breitspurig und sicher zwischen der Stelle, wohin der Kutscher den Wagen fahren mußte, und der Türschwelle auf, mit der Haltung eines Menschen, der nicht erst an seine Pflicht erinnert zu werden braucht. Die Damen kamen die Treppe herab, und nach einer kurzen Debatte darüber, wo eine jede sitzen und an wem sie sich festhalten sollte (obgleich ich der Ansicht war, daß es gar nicht notwendig sei, sich festzuhalten), nahmen sie Platz, öffneten ihre Sonnenschirme und fuhren ab. Als die Droschke sich in Bewegung setzte, fragte Maman den Kutscher mit zitternder Stimme, indem sie aus das »Jagdpferd« zeigte:

»Ist das das Pferd für Wladimir Petrowitsch?« Und als der Kutscher bejahte, machte sie eine resignierte Handbewegung und wandte sich ab.

Ich war in höchster Ungeduld, bestieg mein Pferdchen, sah zwischen seinen Ohren hindurch und führte auf dem Hof allerhand Evolutionen aus.

»Überreiten Sie die Hunde nicht, wenn's beliebt!« sagte einer der Jäger zu mir.

»Sei ruhig, ich reite nicht zum erstenmal«, erwiderte ich stolz.

Wolodja bestieg das »Jagdpferd« ungeachtet seiner Charakterfestigkeit nicht ohne einiges Zusammenzucken und fragte mehrmals, indem er das Pferd streichelte:

»Ist es sanft?«

Aber er nahm sich zu Pferde sehr gut aus, – ganz wie ein Großer. Seine in engen Beinkleidern steckenden Schenkel schlossen so fest am Sattel, daß ich neidisch war, besonders weil ich, nach meinem Schatten zu urteilen, bei weitem keine so gute Figur machte.

Jetzt erschallten Papas Schritte auf der Treppe; der Hundewärter trieb die sich umhertummelnden Hunde zusammen; die Jäger riefen ihre Windhunde und bestiegen die Pferde; der Leibjäger führte das Reitpferd vor die Freitreppe und die Hunde von Papas Koppel, die sich bisher in verschiedenen malerischen Stellungen um das Pferd gruppiert hatten, stürzten ihm entgegen. Mit einem Perlenhalsband geschmückt und mit der Schnalle klirrend, kam Milka lustig hinter Papa hergelaufen. Beim Herauskommen pflegte sie sich stets mit den Hunden aus dem Zwinger zu begrüßen: mit den einen spielte sie, mit anderen beschnüffelte sie sich knurrend, und bei noch anderen suchte sie nach Flöhen.

Papa bestieg sein Pferd, und wir brachen auf.

Vorbereitungen zur Jagd

Während des Desserts wurde Jakob gerufen; die Weisungen in Bezug auf die Liniendroschke, die Hunde und die Reitpferde wurden ihm mit größter Ausführlichkeit erteilt, wobei jedes Pferd beim Namen genannt wurde. Wolodjas Pferd hinkte; Papa befahl daher, für ihn ein Jagdpferd zu satteln. Dieses Wort »Jagdpferd« erschreckte Maman: es schien ihr, als müsse ein Jagdpferd so etwas wie ein wildes Tier sein, und als werde es ganz bestimmt durchgehen und Wolodja ums Leben bringen. Trotz des Zuredens meines Vaters und Wolodjas – der mit staunenswerter Courage behauptete, das mache ihm gar nichts, er habe es sehr gern, wenn das Pferd durchgeht, – hörte die arme Maman nicht auf zu versichern, daß sie auf der ganzen Fahrt Angst ausstehen werde.

Das Mittagsmahl war zu Ende; die Großen begaben sich ins Kabinett Kaffee trinken, und wir liefen in den Garten, scharrten mit den Füßen in dem welken Laub, das die Wege bedeckte, und plauderten. Wir sprachen darüber, daß Wolodja auf dem Jagdpferde reiten werde, daß Ljubotschka sich schämen müsse, weil sie langsamer lief als Katjenka, daß es interessant wäre, Grischas Ketten anzuschauen usw.; über unsere Trennung aber wurde kein Wort gesprochen. Unser Gespräch wurde durch das Rollen der Liniendroschke unterbrochen, auf welcher an jeder Ecke ein Knechtsjunge saß. Hinter der Droschke ritten die Jäger mit den Hunden, hinter den Jägern der Kutscher Ignaz auf dem für Wolodja bestimmten Pferde, meinen uralten Klepper am Zügel führend. Wir stürzten alle zum Zaun, von dem aus diese interessanten Dinge zu sehen waren; dann aber liefen wir mit Gekreisch und Getrampel nach oben, um uns anzuziehen, und zwar so, daß wir einem Jäger so ähnlich sahen wie nur möglich. Eines der Hauptmittel zur Erreichung dieses Zwecks war das Hineinstecken der Hosen in die Stiefelschäfte. Ohne Zögern machten wir uns daran, um so schnell als möglich fertig zu sein, auf die Veranda hinauszulaufen und uns am Anblick der Hunde und Pferde sowie am Geplauder mit den Jägern zu ergötzen.

Es war ein heißer Tag. Weiße Wölkchen von seltsamer Form hatten sich schon am Morgen am Horizont gezeigt; ein leichter Wind hatte sie näher und näher getrieben, so daß sie zuweilen die Sonne verdeckten. Doch wie auch die Wolken hin und her zogen und dunkler und dunkler wurden, – es war ihnen nicht vergönnt, sich zu einem Gewitter zusammenzuziehen und noch zu guter letzt unser Vergnügen zu stören. Gegen Abend zerstreuten sie sich wieder: die einen wurden blaß und lang und eilten dem Horizonte zu; andere, gerade über uns stehende, verwandelten sich in weiße, durchsichtige Schuppen; nur eine große schwarze Wolke blieb im Osten stehen. Karl Iwanowitsch wußte immer schon vorher, wohin jede einzelne Wolke ziehen würde; er erklärte, daß diese Wetterwolke nach Maßlowka ziehe, daß es nicht regnen, sondern wunderschön bleiben werde.

Foka kam trotz seines vorgerückten Alters schnell und gewandt die Treppe herabgeeilt, schrie: »Vorfahren!« und stellte sich breitspurig und sicher zwischen der Stelle, wohin der Kutscher den Wagen fahren mußte, und der Türschwelle auf, mit der Haltung eines Menschen, der nicht erst an seine Pflicht erinnert zu werden braucht. Die Damen kamen die Treppe herab, und nach einer kurzen Debatte darüber, wo eine jede sitzen und an wem sie sich festhalten sollte (obgleich ich der Ansicht war, daß es gar nicht notwendig sei, sich festzuhalten), nahmen sie Platz, öffneten ihre Sonnenschirme und fuhren ab. Als die Droschke sich in Bewegung setzte, fragte Maman den Kutscher mit zitternder Stimme, indem sie aus das »Jagdpferd« zeigte:

»Ist das das Pferd für Wladimir Petrowitsch?« Und als der Kutscher bejahte, machte sie eine resignierte Handbewegung und wandte sich ab.

Ich war in höchster Ungeduld, bestieg mein Pferdchen, sah zwischen seinen Ohren hindurch und führte auf dem Hof allerhand Evolutionen aus.

»Überreiten Sie die Hunde nicht, wenn's beliebt!« sagte einer der Jäger zu mir.

»Sei ruhig, ich reite nicht zum erstenmal«, erwiderte ich stolz.

Wolodja bestieg das »Jagdpferd« ungeachtet seiner Charakterfestigkeit nicht ohne einiges Zusammenzucken und fragte mehrmals, indem er das Pferd streichelte:

»Ist es sanft?«

Aber er nahm sich zu Pferde sehr gut aus, – ganz wie ein Großer. Seine in engen Beinkleidern steckenden Schenkel schlossen so fest am Sattel, daß ich neidisch war, besonders weil ich, nach meinem Schatten zu urteilen, bei weitem keine so gute Figur machte.

Jetzt erschallten Papas Schritte auf der Treppe; der Hundewärter trieb die sich umhertummelnden Hunde zusammen; die Jäger riefen ihre Windhunde und bestiegen die Pferde; der Leibjäger führte das Reitpferd vor die Freitreppe und die Hunde von Papas Koppel, die sich bisher in verschiedenen malerischen Stellungen um das Pferd gruppiert hatten, stürzten ihm entgegen. Mit einem Perlenhalsband geschmückt und mit der Schnalle klirrend, kam Milka lustig hinter Papa hergelaufen. Beim Herauskommen pflegte sie sich stets mit den Hunden aus dem Zwinger zu begrüßen: mit den einen spielte sie, mit anderen beschnüffelte sie sich knurrend, und bei noch anderen suchte sie nach Flöhen.

Papa bestieg sein Pferd, und wir brachen auf.

Die Jagd

Allen voran, auf blaugrauem, krummnasigem Pferde, ritt der Pikör, der den Beinamen »der Türke« hatte, mit einer zottigen Pelzmütze auf dem Kopfe, einem riesigen Horn über der Schulter und einem Jagdmesser im Gürtel. Aus dem finstern, wilden Aussehen dieses Menschen hätte man schließen können, daß er nicht zur Jagd, sondern in einen Kampf auf Leben und Tod reite. Neben den Hinterbeinen seines Pferdes liefen in buntem, wogendem Knäuel die zusammengekoppelten Jagdhunde. Es war traurig zu sehen, welches Schicksal den unglücklichen Hund ereilte, der es sich einfallen ließ, zurückzubleiben. Mit großer Anstrengung mußte er seinen Kameraden zu sich herüberziehen, und wenn ihm dies gelungen war, schlug ihn unbedingt einer der hinterher reitenden Hundewärter mit der Hetzpeitsche und schrie ihm zu: »In die Koppel!«

Als wir das Hoftor passiert hatten, befahl Papa den Jägern und uns, die Straße entlang zu reiten, während er selbst ins Roggenfeld hineinlenkte.

Die Getreideernte war in vollem Gange. Das unübersehbare, glänzend gelbe Feld stieß nur an einer Seite an den hohen, bläulich schimmernden Wald, der mir damals als der allerentfernteste und geheimnisvollste Ort erschien, hinter welchem entweder die Welt aufhörte oder eine unbewohnbare Wildnis begann. Das ganze Feld war mit Garben und Menschen bedeckt. Im hohen und dichten Roggen sah man hier und da auf einem ausgemähten Streifen den gekrümmten Rücken einer Schnitterin, das Schwingen der Ähren, wenn sie sie zwischen den Fingern ordnete, dann eine im Schatten stehende Frau, die sich über eine Wiege beugte, und auf dem mit Kornblumen besäten Erntefelde verstreut umherliegende Garben. Auf der anderen Seite luden die Männer, nur mit Hemd und Beinkleid bekleidet und auf den Leiterwagen stehend, die Garben auf, wobei sie auf dem ausgedörrten Felde viel Staub aufwirbelten. Der Aufseher, in hohen Stiefeln, mit über die Schulter geworfenem Rocke und dem Merkholz in der Hand, hatte Papa schon von weitem bemerkt, nahm seinen aus Lämmerwolle gemachten Hut ab, trocknete sein rötliches Haupt- und Barthaar mit einem Handtuche und trieb die Weiber durch Zurufe zur Arbeit an. Der kleine Fuchs, den Papa ritt, ging leicht und tänzelnd, dann und wann den Kopf zur Brust neigend, am Zügel ziehend und mit dem dichten Schweif die Bremsen und Fliegen forttreibend, die sich gierig an ihm festsaugen wollten. Zwei Windhunde setzten graziös über die hohen Stoppeln hinter dem Pferde her, die Beine hochhebend, mit sichelförmig nach oben gekrümmtem Schweife; Milka lief voran und bog den Kopf zurück, als erwarte sie etwas. Die Stimmen der Leute, das Getrampel der Pferde, der Lärm der Wagen, der fröhliche Schlag der Wachteln, das Summen der Insekten, die in fast unbeweglichen Schwärmen in der Luft hingen, der Geruch von Wermut, Stroh und Pferdeschweiß, die tausenderlei Farben und Schatten, welche die glühende Sonne über das hellgelbe Erntefeld, die blaue Ferne des Waldes und die lichtvioletten Wolken verteilte, die weißen Sommerfäden, die in der Luft schwebten oder sich über die Stoppeln legten, – all das sah, hörte und fühlte ich.

 

Als wir am Kalinowschen Walde anlangten, fanden wir die Liniendroschke schon vor und außerdem – ganz unerwarteterweise – einen einspännigen Feldwagen, in welchem der Küchenmeister saß. Aus dem Heu, das den Boden des Wagens bedeckte, lugten hervor: ein Samowar, eine Eismaschine und einige verheißungsvolle Bündelchen und Schächtelchen. Ein Irrtum war nicht möglich: das bedeutete einen Tee im Freien mit Gefrornem und Früchten. Beim Anblick des Wagens bekundeten wir eine lärmende Freude, denn im Walde Tee zu trinken, auf dem Grase gelagert, und überhaupt an einem Orte, auf dem niemand je Tee getrunken hatte, galt uns als besonderer Genuss.

»Der Türke« kam an das Gehölz herangeritten, machte halt, hörte aufmerksam Papas genaue Weisungen an, wie man ausrücken und wo man herauskommen sollte (übrigens befolgte er diese Weisungen niemals, sondern tat, was ihm gut schien), koppelte die Hunde los, band ohne besondere Eile die Koppeln hinten an den Sattel, bestieg wieder sein Pferd und verschwand, den Hunden zupfeifend, hinter den jungen Birken.

Die losgekoppelten Jagdhunde äußerten vor allem durch Schweifwedeln ihre Freude, schüttelten und reckten sich und rannten dann in leichtem Trab schnüffelnd und schweifwedelnd nach verschiedenen Richtungen.

»Hast du ein Taschentuch?« fragte mich Papa.

Ich zog es hervor und zeigte es ihm.

»Nun, so binde diesen grauen Hund daran –«

»Den Giran?« fragte ich mit Kennermiene.

»Ja, und lauf den Weg entlang. Wenn du an die Lichtung kommst, bleibst du stehen. Und paß auf: daß du mir nicht ohne Hasen zurückkommst!«

Ich umwickelte Girans zottigen Hals mit dem Tuche und rannte Hals über Kopf der bezeichneten Stelle zu. Papa lachte und rief mir nach:

»Schneller, schneller! sonst kommst du zu spät!«

Giran blieb alle Augenblicke stehen, spitzte die Ohren und horchte auf die antreibenden Rufe der Jäger. Es fehlte mir an Kraft, ihn von der Stelle zu schleppen, und ich begann zu rufen: »Hatu! Hatu!« Da stürmte er so ungestüm vorwärts, daß ich ihn kaum halten konnte und mehr als einmal hinfiel, bevor ich an Ort und Stelle kam. Nachdem ich mir am Fuße einer hohen Eiche ein schattiges und ebenes Plätzchen ausgesucht hatte, legte ich mich ins Gras, platzierte Giran neben mir und wartete. Meine Phantasie eilte, wie das in ähnlichen Fällen immer zu sein pflegt, der Wirklichkeit weit voraus: ich bildete mir ein, daß ich schon den dritten Hasen hetzte, während im Walde der erste Hund Laut gab. Die Stimme des »Türken« schallte lauter und lebhafter durch den Wald; ein Jagdhund schlug an, und seine Stimme wurde öfter und öfter hörbar; bald gesellte sich eine zweite, tiefere Stimme dazu, dann eine dritte und vierte. – Zuweilen verstummten diese Stimmen, dann wieder klangen sie bunt durcheinander. Sie wurden immer lauter und anhaltender und vereinigten sich schließlich zu einem hellen, langgezogenen Getöne. Das ganze Gehölz schien von Tönen erfüllt und die Jagdlust der Meute hatte den höchsten Grad erreicht.

Als ich das alles hörte, erstarrte ich förmlich auf meinem Platze. Die Augen fest auf den Waldessaum gerichtet, stand ich da und lächelte gedankenlos; die Schweißtropfen rannen mir über das Gesicht, und obgleich sie mich im Herabrollen am Kinn kitzelten, wischte ich sie nicht ab. Mir war, als ob es keinen wichtigeren Augenblick geben könne als diesen. Eine solche Nervenanspannung war zu unnatürlich, um von Dauer zu sein. Die Jagdhunde ließen sich bald ganz in der Nähe der Lichtung hören, bald in weiterer Ferne; kein Hase zeigte sich. Ich begann mich nach allen Seiten umzuschauen. Giran machte es ähnlich wie ich: zuerst hatte er gewinselt und sich frei machen wollen, dann aber streckte er sich neben mir aus, legte die Schnauze auf mein Knie und beruhigte sich.

Rund um die bloßgelegten Wurzeln der Eiche, unter der ich saß, auf der grauen, trockenen Erde, zwischen dem dürren Eichenlaub, den Eicheln, dem vertrockneten, bemoosten Reisig, dem gelblichgrünen Moos und den spärlichen, dünnen, grünen Grashälmchen wimmelte es von Ameisen. Eine hinter der andern hasteten sie auf den von ihnen selbst gebahnten Wegen vorwärts, einige eine Last schleppend, andere unbeladen. Ich nahm einen dürren Zweig und versperrte ihnen damit den Weg. Man muß es mitangesehen haben, wie sie, jede Gefahr verachtend, entweder unter dem Hindernis durchkrochen oder es überkletterten; aber einige, besonders die beladenen, verloren alle Fassung und wußten nichts anzufangen: sie blieben stehen, suchten einen Umweg, liefen zurück oder gelangten über den Zweig bis zu meiner Hand und schienen die Absicht zu haben, in den Ärmel meines Rockes zu schlüpfen. Von diesen interessanten Beobachtungen wurde ich durch einen gelbflügeligen Schmetterling abgelenkt, der mich äußerst verlockend umgaukelte. Sobald ich ihm aber meine Aufmerksamkeit zuwandte, flog er auf etwa zwei Schritte von mir fort, umflatterte eine halbverwelkte weiße Kleeblüte und ließ sich schließlich darauf nieder. Ich weiß nicht, ob er sich in der Sonne wärmte oder ob er Saft aus der Blume sog, aber ich sah es ihm an, daß er sich ungemein wohl fühlte. Er bewegte nur zuweilen die Flügelchen und schmiegte sich fest an die Blüte; schließlich blieb er unbeweglich sitzen. Ich stützte meinen Kopf in beide Hände und betrachtete ihn mit Vergnügen.

Plötzlich heulte Giran auf und riß mich so ungestüm vorwärts, daß ich beinahe hingefallen wäre. Ich blickte mich um. Am Waldessaum – den einen Löffel gesenkt, den andern gespitzt – sprang ein Hase umher. Mir schoß das Blut zu Kopfe; alles vergessend schrie ich etwas mit wilder Stimme, gab den Hund frei und stürmte vorwärts. Aber kaum hatte ich das getan, als ich's auch schon bereute: der Hase machte ein Männchen, hüpfte hoch auf – und ich sah ihn nicht wieder.

Aber wie sehr schämte ich mich, als hinter der Meute, die jetzt laut bellend die Spur des Hasen auf die Lichtung heraus verfolgte, aus dem Gestrüpp hervortretend »der Türke« erschien! Er hatte meinen Fehler (der darin bestand, daß ich nicht stillgehalten hatte) bemerkt und sagte nur mit einem Blick voller Verachtung: »Ei, Herr!« Aber man muß wissen, wie er das sagte! Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich wie einen Hasen hinten an seinen Sattel gehängt hätte.

Lange stand ich in höchster Verzweiflung auf demselben Fleck, rief den Hund nicht zurück und sagte nur immer wieder, indem ich mich auf die Schenkel schlug:

»Mein Gott, was hab' ich angerichtet!«

Ich hörte, wie die Meute weiterjagte, wie der Lärm sich auf die andere Seite des Gehölzes hinzog, wie »der Türke« mit seinem Riesenhorne die Hunde zurückrief, – aber ich rührte mich nicht von der Stelle.

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