Читать книгу: «Vorspiele», страница 2

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Es war Mittag. Der Verkehr für eine halbe Stunde zum Erliegen gekommen. Über der Teerstrasse flirrten und flimmerten die Spiegelungen der Hitze. Die Zeit stand still. Niemand wagte, die zähe Ruhe zu stören. Bis von der Kuppe ein Moped surrte. Den ganzen Morgen hatte Meret an der Töpferscheibe gesessen, Ton zentriert und geformt. Nun genoss sie das Ausfahren, den Fahrtwind, die Freiheit und das insektengleiche Surren des Motors, der auf dem Schutzblech des Vorderrades sass wie ein kleiner Tornister. Von Weitem schwenkte sie den Männerhut. Die leicht rötlich gefärbten Haare flatterten, die weisse Bluse plusterte sich im Fahrtwind auf zu einer Glocke. Die Schösse der Weste klatschten hin und her wie kleine Flügel eines Wasservogels. Sie fuhr an den Granitstein des Trottoirs, stützte mit dem rechten Fuss auf und legte das andere Bein quer in den Rahmen. Sie trug hohe, gelbe, stellenweise grau abgewetzte Schnürschuhe mit gerillten Sohlen. Die verwaschenen Jeans reichten nur bis zur Wade und liessen das Muschelweiss ihrer Haut hervorblitzen. Sie hatte wieder einmal eine Nachricht zu verkünden. Im Kleintheater spiele Isla mit seinem Trio, rief sie. Das müsse man gehört haben. Wir verstanden nichts. Isla war uns kein Begriff. Entschlossen nahm sie einen Bildband vom Gepäckträger, kam die Treppe hochgerannt und stand schon in der Küche. Die nussbraunen Augen weit aufgesperrt. Die Wangen pflaumenviolett überschossen. Isla, der Bassist, und sein Trio. Das sei ein Muss.

»Natürlich kommen wir. Am Samstag?«

Sogleich war sie beim nächsten Thema. Sie hatte in den Tagesmeldungen von Überschwemmungen gehört. Entsetzte sich über Ungerechtigkeiten und den zeitlichen Verzug der Hilfslieferungen. Kinder waren betroffen. Tränen stürzten ihr aus den Augen. Ihre Gesichtshaut wurde gefleckt. Dann zeigte sie den Bildband her. Sie habe ihn nur ausgeliehen. Müsse ihn unbedingt kaufen. Wahnsinnig, die Schönheit dieser Menschen, schwärmte sie. Im Band waren absonderliche Gestalten abgebildet. Verwachsene, Gebuckelte, Riesen und Zwergwüchsige, Ausschnitte von Füssen mit Schwimmhäuten, von Brüsten mit vielen Warzen, von Frauen mit nabellangen schwarzen Bärten. Meret fieberte. Die Wangen noch nass von Tränen, lachte sie wieder. Vor Freude. Ergriffenheit. Klingendes Schellen und kehliges Gluckern lösten sich ab. Sie vergass die Umgebung. Bei jedem Umblättern wurde es wahnsinniger. Die Lippen waren aufgeschwollen. Sie bekam etwas Stülpnasiges und Lüsternes. Mitten in der Betrachtung griff sie nach Wanners Uhr. Ich muss gehen, rief sie. Rannte los, startete das Moped. »Bis Samstag«, schrie sie, schwenkte den Hut und weg war sie.

Als ich sie am Abend mit Wanner in ihrer Töpferwerkstatt abholte, waren die Lippen wieder schmal, das Flackern in den Augen dem ruhigen Blick gewichen. Die Stirn gesenkt, drehte sie in die feuchte, gestaltlose Masse von Lehm luftleichte Formen von Vasen und Krügen.

Wie weit deine Hände bei der Wohnungssuche mit im Spiel waren, habe ich nie erfahren. Ob du Meret angerufen oder sie anders kontaktiert hast, blieb mir verborgen. Vielleicht hätte Wanner mehr gewusst. Wir anderen kümmerten uns nicht darum. Wir nahmen das Angebot des Hauses als Geschenk, ohne seine Herkunft zu hinterfragen.

Der Samstag kam. Meret meldete, sie habe Barbara, Danielle und weitere Freunde ins Küngelhaus zum Essen eingeladen. Sie müsse noch einiges erledigen, bringe einen Nachtisch mit, um drei sei sie zurück. Und schnurrte mit dem Moped dahin. Stüten war mit dem Opel Kadett auf Einkaufstour gegangen, den gemeinsam erstellten Warenzettel in der Brusttasche seiner Military-Jacke. Troller per Postauto zum Stadtbahnhof gefahren, um sich dort für eine Stunde eine Kabine mit Badewanne zu mieten – weisse Frotteetücher sowie Duftmittelchen inbegriffen – und sich aufzupeppen, damit die Haare auf das Wochenende hin wieder wehten und seine Wangen glänzten. Wanner dagegen hörte sich in einem der oberen Küngelhauszimmer unzählige Male die ewig selbe Schallplatte an, um an seinem Instrument die Basslinien nachzuspielen. Ich selber verschwand im Höhlendunkel des Proberaums und kletterte im Lichtspalt des Spotlichts penetrant die immer gleichen Bluestonleitern hinauf und hinab.

Jetzt stand der Tisch unter dem Pflaumenbaum bereit. Barbara, Danielle und Freunde waren angekommen. Meret hatte Kuchen mitgebracht. Wir tranken Kaffee. Reichten Gitarren herum. Holten Schlaginstrumente. Es wurde gejammt, gesungen, gequatscht, gelacht und gekocht. Als Wanner eine Basslinie zu summen anfing, stimmten alle ein. Abwechselnd übernahmen wir die Soli, eine Gitarre oder ein Saxofon imitierend. Applaus nach jedem Einsatz. Troller schüttelte ein wildes Zwischenspiel auf die Bongos.

Für mich war der Moment gekommen. Den Gesang auf den Lippen, verdrückte ich mich ins obere Zimmer, legte die Kleider ab und zog den Bademantel über. Eben schwoll der Chorus in voller Stärke durch die Eingangstür, als ich ungesehen vorbeiglitt und die Kellertreppe hinunterstieg. Die Tür zur alten Waschküche stand halb offen. Das spärliche Licht, das durch einen vergitterten Schacht sickerte, liess die Wände, den Waschtrog, die Abdeckung des Abflusses zementgrau erscheinen. Hinter der Tür stand die milchweisse Badewanne, am Kopfende bewacht von der dunklen Säule eines Kupferkessels. Ich hatte am frühen Morgen Wasser eingefüllt und Feuer gemacht. Jetzt öffnete ich den Schwenkhahn, liess heisses Wasser in die Wanne strömen und goss Badeessenz nach. Weisser Schaum quoll auf und erklomm die Wannenwände. Als ich einstieg, schwappte das Wasser über, spritzte über den Holzrost und überschwemmte einen Teil des Bodens, der dunkel eingefärbt wurde. Der überschüttete Schaum zeichnete flüchtig fliessende Figuren in den Grund. Ich schmiegte mich in die Wannenwölbung. Die Beschichtung war an einigen Stellen abgeplatzt und kratzte. Ich legte den Nacken in den weichen Bogen der Umrandung und spürte am Hinterkopf die Wärme des Kupferkessels. Ich schloss die Augen, hörte das Knittern von Schaumblasen und hinter dem Knistern das ferne Klirren von Geschirr, die gezupften Töne der Gitarren, die wie durch einen Schleier gedämpften Stimmen der Küngelhäusler und Gäste, das Summen der Gasleitung und das stete Pochen von Schritten in der Küche.

Ich musste einige Momente dösend im Dämmer gelegen haben. Als ich den Blick wieder schweifen liess, meinte ich den Augen nicht trauen zu können. In der hintersten Ecke der Waschküche bemerkte ich drei Schlachtkörper von Küngeln. In der Geschäftigkeit des Feuerns und des Wassereinlassens hatte ich sie offenbar übersehen. Ich stierte entsetzt über den Wannenrand auf die zerschlagenen Schädel, auf die von der Wäscheleine hängenden blauen Leiber, das geäderte, glänzende Fleisch, die schwarzen Lachen und Rinnsale am Boden. Gespenstisch schienen sie noch zu baumeln. Offensichtlich hatte der Vermieter drei Küngel für einen Festtagsbraten veräussern können und liess sie in der Waschküche abhängen. Ich hatte gemeint, in ein Badehaus gestiegen zu sein und war in Wirklichkeit im dampfenden Bottich eines Schlachthauses gelandet. Schnell wusch ich mir die schulterlangen, verknoteten Haare, tauchte der Länge nach unter, spähte in einer Art makabrer Lust über den Rand, ob sie noch da waren. Ich spülte Schaum und Seife unter dem Schwenkhahn heraus und zog den Spund. Während sich das Wasser über den Boden ergoss und durch die Ritzen des Schachtes strudelte, frottierte ich mich, warf mich in den Bademantel und glitt in die Hausschuhe. Noch einmal zwang mich eine gruslige Gier, sie zu sehen. Sie baumelten noch immer. Es schauderte mich. Ob vor Kälte oder vor Abneigung, dass ich hier gebadet hatte, wusste ich nicht. Ich rannte die Treppe hoch, als ob jemand hinter mir her sei. Zog mich oben um und mischte mich so unauffällig wie möglich unter die Speisenden. Von den Küngelkadavern erzählte ich niemand.

Am Abend zitterten am Himmel die Sterne. Über der Waldlinie glühten die Lichter der Stadt. Wir sassen bei Kerzenschein noch lange draussen, bis ein kühler Wind die Flammen löschte und uns in die Autos trieb. Stüten fuhr voraus. Ich folgte mit meinem Renault. Es ging eine kurvenreiche Strasse den Wald hoch. Die Scheinwerfer trieben ihre Lichtkegel in das aufragende Gitter von hellen und dunklen Stämmen. Wanner, auf dem Beifahrersitz, packte den Griff des Schaltstocks und ging in Bereitschaft. Als Fahrerduo waren wir minutiös aufeinander eingespielt. Während ich die Kupplung drückte und in den Motorenlärm ein Kommando schrie, schoss Wanner den Schalthebel in die nächsthöhere Position. Barbara applaudierte und legte lachend den Hinterkopf in den Falz des offenen Fensters. Ihre vollen Locken flatterten und trommelten ans Blech. Die wechselnden Schatten des Waldes strichen über ihr Gesicht. Sie hielt Ausschau nach den blinkenden Sternen. »Wie im Karussell«, rief sie, und winkte aus dem Fenster. Um sie zu erschrecken, fuhr ich über den Randstein. Äste ratterten entlang der Wagenseite, Rutenspitzen schnellten ins offene Fenster. Barbara kreischte. Blätter hingen ihr in den Haaren.

Kaum aus dem Wald verbarg das Licht der Strassenlampen den Nachthimmel. Unsere Motoren hallten von hohen Hausmauern. Eine rote Kette aus Rücklichtern zog sich durch die Häuserschlucht. Tanksäulen, in kaltes Neonlicht getaucht, säumten die Strasse. Stüten hielt bei der nächsten. Er trat an unser Fenster. Er habe sich gegen Isla und sein Trio entschieden. Es sei zu spät. Das Konzert habe längst begonnen. Meret stiess die Tür auf. Sie protestierte. Die anderen Wagenschläge wurden aufgerissen. Wie bei einem Überfall. Wir standen zwischen Tanksäule und Strasse. Verhandelten. Stritten. Ein kurzes Gefecht. Meret konnte nur Wanner überzeugen. Die anderen stimmten für die Gaskessel. Danielle wäre auch gerne in den feuchtheissen Dampf des Jazzkellers getaucht. Sie fühlte sich angezogen vom Ruch des politischen Untergrunds. Die Extravaganz von männlichem Parfüm und Pfeifenrauch betörte sie, auch wenn sie sich hinter einer Drahtbrille versteckte und ihre Leidenschaften nicht gleich verriet. Heute aber entschied sie sich, in der Umgebung von Troller zu bleiben und einen Abend lang die Dünste seines Schlagzeugkörpers zu atmen.

Von Weitem sahen wir die Gaskessel, die sich wie zwei Schildkrötenpanzer aus einem Schuppenareal wölbten. Sie waren von einem hohen Maschendraht umzäunt. Das Gittertor stand offen. Öliges Wasser lag in Dellen und Löchern. Farbige Glühbirnen wiesen den Weg zu einem groben Betonkubus, der die beiden Kuppeln verband. Oranges Licht flutete den Eingangskorridor. Ein brandroter Teppich kletterte im einen Kessel die Stufen hoch, bis an den Rand der Kuppelwölbung. Pärchen lagen in den Treppenbögen und schmiegten sich ineinander, wie auf Meeresgrund abgetaucht. Im anderen Kessel fielen wir ins beinah undurchdringliche Schwarz. Nur ein Punktlicht und der Schemen eines Discjockeys waren auszumachen. Wir tasteten uns vorwärts, rochen den Schweiss von Tänzern. Hörten kaum ein Flüstern oder Knacken. Dann hämmerte die Musik los. Lichtblitze zuckten und rissen für einen ritzenkleinen Zeitschnitt wild ausgreifende Gestalten ins grellhelle Licht – und liessen sie ebenso schnell wieder ins schwarze Nichts fallen. Marionettenhaft ruckte Bild um Bild vor. Die wirbelnden Körper wurden wie vom Reflex eines zwinkernden Auges auf eine imaginäre Plakatwand gebannt und wieder abgezogen. Ich begann mitzutanzen und warf meine Haare im Rhythmus der Musik vornüber und wieder zurück. Troller setzte zu irren Sprüngen an. Wie ein Sumoringer landete er in der Halbhocke mit den Händen auf den Knien, warf seinen Kopf hin und her und schlug das Haar herum, als wäre es der Riemen einer Peitsche. Zeitweilig stampften und hämmerten die Tanzenden den Beat auf den Schlag genau in den Boden und wurden zum Kolben einer immensen Maschine. Mechanisch wie der Puls des Schlagzeuges. Betörend wie der Sirenenton der Gitarre.

Barbara hakte sich bei mir unter. Im Paarschritt umgingen wir das Kesselrund. Ich fühlte die Wärme ihres weichen Leibes an meiner Seite. Ihrem entschiedenen Griff merkte ich die Gärtnerinnenarbeit an. Sie überragte meine klein gewachsene Gestalt um einige Fingerbreiten. Ursprünglich stammte sie aus dem Nachbardorf, wohnte aber schon länger in der Stadt. Sie war alleine hergezogen. Meret hatte ihr von uns und dem Küngelhaus erzählt. Sie trug enge und zu kurze Jeans und eine über die Hüfte hängende Bluse. Zwischen Mundwinkeln und Nasenflügeln hatten sich zwei Falten gebildet. Wie eingraviert von ihrem rauchigen, dunklen und ansteckenden Lachen. Ich griff mit der offenen Hand in Barbaras ungezähmtes rotes Haar und versuchte sie an mich zu ziehen. Sie liess sich die Zärtlichkeit gefallen. Sie wollte ihren Durst nach Liebe stillen. Zwar hatte sie einen Freund im Dorf, bekam ihn aber nur alle paar Wochen zu sehen. Sie wusste, dass ich das verstehen und keine weiteren Ansprüche stellen würde. Später dürfte sie es auch ihrem Freund erzählen, wenn die Freundschaft gefestigt war und ein Zusammenziehen in Aussicht stand.

Barbara hatte von unserer Trennung gehört. Zu dieser Zeit warst du bereits unterwegs. Mit deinem Gespür für das Machbare und die Bedingungen für eine Frau im nahen und fernen Osten schlossest du dich einer Gruppe von Indienreisenden an. Einen grossen Teil der Strecke wolltet ihr per Anhalter zurücklegen, einen Aufenthalt in Teheran einlegen, um dann im damaligen Land der Sehnsucht, in Afghanistan, länger zu verweilen. Du immer auf der Suche nach den lokalen Tanzmeistern. Ich stellte mir vor, wie ihr mit weiten Kleidern durch die Basare Kabuls schlendert, wie ihr nachts im Steppengras liegt und euch am Himmel berauscht, der dort so leuchten soll wie nirgendwo. Afghanistan war einer der Träume, die du dir erfülltest. Ob es zu einer Beziehung mit einem der Reisenden gekommen war, wusste ich nicht, wollte ich nicht wissen, dazu war ich zu eifersüchtig.

Nachdem Barbara und ich eine Runde abgeschritten hatten, trafen wir wieder auf Danielle. Sie lachte und lockte Troller in gespielt laszivem Tanz zu Stüten hinüber, der etwas ausserhalb des Geschehens als stangenlanger Heiliger an einer Säule lehnte. Obwohl Leadgitarrist, war Stüten gehemmt. Seine Grösse und sein Frank-Zappa-Schnurrbart, das schulterlange rote Haar hätten aus ihm einen Seemann oder sonst einen Abenteurer gemacht, wenn er denn nicht so zerbrechlich dünn und weisshäutig gewesen wäre. Im Wirtshaus konnte er vor einem Bier sitzen, den Fuss des Glases halten und stundenlang in den Schaum hineinlachen. Als Schriftsetzer war er beliebt. Ohne den üblichen Gewerkschaftskram fügte er Bleiletter an Bleiletter. Die stoische Regelmässigkeit machte ihn zu einem effizienten Arbeiter. Wenn jemand einen Witz riss, klopfte er sich auf die Schenkel. Stüten liess sich die Anwerbung von Danielle gefallen. Heuschreckengleich schritt er in die Runde und begann mit seinem überlangen Leib zu schlenkern, sich zu drehen und mit den Beinen in den Raum hineinzufahren, als ob er die Pedale eines überdimensionierten Tretrades zu bedienen hätte. Er geriet in Rücklage und fiel auf die Tanzfläche. Troller und Danielle hüpften um ihn herum wie Nachtklubtänzerinnen. Stüten kam vor Lachen nicht hoch. Die Musik wälzte sich vorwärts. Eine Lichtorgel begann über dem wogenden Händemeer zu kreisen und verwandelte den Kesseldom in eine kosmische Sphäre. Das ganze Gewölbe tönte in wechselnden Farben. Für einen Wimpernschlag wurde die Harmonie der ewigen Gesetze sicht- und hörbar. Hier war die Erdachse. Unter der Kuppel dieses Gaskessels wurde der Welt ein neues Drehmoment verpasst.

Wir strömten aus. Jeder ein Trabant für sich. Vergassen uns selbst. Ich hörte Barbaras rauchiges Lachen hinter mir. Wir fassten uns an den Händen. Hätten uns noch Stunden so gedreht, wäre nicht Troller auf uns zugekommen.

»Ich möchte gehen«, sagte er. »Stüten steht schon an der Tür.«

Meret und Wanner warteten bei der Tiefgarage. Auf der Heimfahrt war es still. Das Schlagen der Autotüren hallte vom nachtdunklen Saum des Waldes wider. Wie Schatten drängten wir uns den Treppenschacht hoch und verschwanden im Küngelhaus. Die Bettenverteilung ging einfach. Nur zwei Zimmer standen zur Auswahl. Beide küngelhausklein und von der Dachschräge in der Höhe eingeschränkt. Beide mit gewachsten Tannenriemenböden und Täfelungen, auf denen der gleiche dicke Lack glänzte wie im Probelokal. Im einen standen das Bett von Troller beim Eingang, dasjenige von Stüten mitten im Zimmer und meines senkrecht zu den anderen mit Kopflade gegen die Fensterfront. Danielle legte sich zu Troller. Stüten lag als Wächter alleine. Barbara schmiegte ihren Gärtnerinnenleib an mich, sie mit schlechtem Gewissen gegenüber ihrem Freund, ich mit Erinnerungen an dich. Das andere Zimmer stand Meret und Wanner zu, weil sie ein festes Paar bildeten. Die beiden hatten sich sofort zurückgezogen. Noch lange ertönte aus ihren Lautsprechern verhaltener Blues und schützte die Liebenden vor dem Zugriff fremder Ohren. Alle lagen unter ihrem Klangzelt und liessen sich vom gespannten Netz der Basslinien auf dem geschotterten Untergrund des Schlagzeuges tragen. Nachts knallte der Dachstuhl, hämmerte die Wasserleitung, kratzten und tapsten die Mäuse, schlugen dumpf die Küngel an ihre Stallbretter. Und es rischelte die Strohschütte.

Nachtzug, 19 Uhr

Anfänglich war im Zug ein Gehen und Kommen. Aus dem Grubenlicht der Bahnhöfe stiegen Passagiere zu. Mitreisende, mit denen gerade noch ein Gefecht über Fussball geführt worden war, verliessen die Bahn. Die Weiterfahrenden standen im Korridor wie Hinterbliebene und beobachteten durch trübe Fenster die Flüchtenden, die Ausgemusterten, die Beurlaubten, wie sie ihre Füsse vertraten und verloren auf der Plattform ihres neuen Lebens standen, wie sie auf einen der tempelhohen Ausgänge zustrebten oder sich einer wartenden Person um den Hals warfen. So nahe man sich beim Gang auf die Latrinen und in die Waschkabinen gekommen, so eng man im Couchette gesessen hatte, wo man Armlehnen geteilt, Füsse zwischen die Beine des Gegenübers platziert, fremde Gerüche eingeatmet hatte: Man wird sich nicht mehr sehen. Der Abschied ist einer für immer.

Burger hatte die Vorhänge seines Abteils offengelassen. Er mochte das Bewegen, Wechseln und Promenieren auf dem Gang, die Blicke durch das spiegelnde Glas auf die Passagiere, die Bahnhöfe, die zu einzelnen Lichtern reduzierte Nachtlandschaft draussen. Die Störungen halfen ihm beim Nachdenken und Zurechtrücken seiner Vorstellungen. Anhand eines Stichwortes am Seitenrand hatte er sich von seinen Notizen gedanklich entfernt. Weit zurück in die Kindheit war er geraten in eine Zeit, als sie beide, er und sie, noch zusammenspielten, noch zur Schule gingen und sich beinah täglich besuchten, zusammen Bildbände anschauten über ferne Länder, Asien, Afrika, Japan, und über die Museen der Welt.

Gegenden der Kindheit

Ich bin etwa zehnjährig, als ich an einem späten Nachmittag nach Hause komme und mit dem Vorderrad in die Tür des Geräteschuppens stosse, wo neben Werkzeugen, einigen Blumenzwiebeln, Gartenschuhen und Überkleidern vor allem die Fahrräder untergebracht sind. Es ist ein einfacher Anbau zum Wohnhaus. Die ausgebleichte, ehemals graue Farbe an der Holzverschalung und der Schatten eines Zwetschgenbaums verleihen ihm etwas Geheimnisvolles. Die Kinder des Dorfes spielen gerne hier. Wir klettern das Regenrohr hoch, hängen uns an die Traufe und lassen uns hinunterfallen. Die Grösseren und Mutigeren ziehen sich bis auf das Blechdach, nehmen Anlauf und springen über den Plattenweg und die Wäscheleine mit gewagtem Satz ins Gras. Heute liegt der Schuppen verlassen da. Ich beuge mich über die Lenkstange, drücke die Falle und schlage mit dem prallen Reifen die Türe auf. Ich hebe das Rad über die Steinschwelle und schiebe es in eine Lücke.

Durch ein seitliches Fenster fällt vom Zwetschgenbaum gedämpftes Licht. Im weichen Dämmer entdecke ich dich an der hinteren Wand. Wie ein Bauernmädchen im Sonntagsstaat stehst du da. Um dich herum, aufgereiht, an die Wand gelehnt oder übereinandergeworfen, Laubrechen und Besen, Harken, Pickeln und Schaufeln. Von deinen glänzenden Sandalen und deinen kleinen Füssen geht ein Leuchten aus, das auf die gehäkelten Kniestrümpfe, den blumenbesetzten Rock und die helle Bluse übergeht. Deine Eltern sind aus dem Süden Italiens ins Land gezogen, geflohen vor der Arbeitslosigkeit, vor den ewig schimpfenden Grosseltern, vor den kranken Onkeln und sich aufspielenden Tanten, vor der eintönigen Arbeit in den Olivenhainen, vor materieller Armut und seelischer Verödung. Sie glauben an die Zukunft im Norden, auch wenn sie keinen Beruf erlernen durften und jetzt Ziegelöfen bestücken und Spinnereimaschinen bedienen müssen, auch wenn sie sich nicht eingestehen wollen, dass ihnen das aufwühlende Farbenspiel des Meeres und das Hundegebell bei der Olivenernte fehlen.

Ihr mietet über der Kurzwarenhandlung des Dorfes eine Wohnung. Euer Weihnachtsbaum, der jeweils im Erker zur Hauptstrasse steht, ist immer der schönste im Dorf. Mit echten Engelshaaren, echten Engelsglocken und einem Musikdosengloria. Eure Sonntagskleider stechen alle anderen aus. Du bist im Dorf geboren und ein Kind des Dorfes geworden. Dein breites ovales Gesicht aber, die weichen Wangen, die ungezähmten, spröden, honigbraunen Haare, die Schattengruben in den Mundwinkeln, der Flaum auf der Oberlippe und die nachtdunklen Augen machen aus dir ein Bauernkind aus dem Süden. Du hattest mir einen Kuss versprochen und bist gekommen, um das Versprechen einzulösen. Ich zwänge mich durch das Räder- und Stangengewirr. Wir stehen voreinander und sind unschlüssig, welche Neigung unsere Köpfe einzunehmen haben, wissen nicht, wohin mit den Händen. Wir nippen eher, als dass wir von den Lippen kosten. Aber es ist ein Kuss, so echt wie die Engelshaare. Danach stehen wir verlegen. Ich gehe zur Tür und spähe durch einen Spalt. Als ich sehe, dass niemand auf dem Plattenweg daherkommt und die Lage unter dem Zwetschgenbaum ruhig bleibt, lasse ich dich durch die Öffnung entwischen. Einige ewige Sekunden später versuche ich Richtung Hauseingang zu schlendern, summend, als wäre nichts geschehen, als spürte ich nichts von der fiebrigen Kühle auf meinen Lippen.

Am nächsten Tag, auf dem Heimweg, bleiben wir an eurer Hausecke stehen. Die Daumen unter die Gurte deines Schulranzens geklemmt, zeichnest du mit dem Fuss Figuren in den Kies und sagst: »Meine Eltern küssen und umarmen sich beim Verabschieden immer.« Bevor ich etwas erwidern kann, drückst du mir einen Kuss auf die Lippen. Der Atem stockt mir. Du schaust mir mit Schalk in die Augen, drehst dich um und rennst davon. Ich sehe den wackelnden Ranzen an deinem Rücken. Die Daumen hast du noch immer untergehakt. Am nächsten Tag mache ich es dir nach. Der Abschied wird zu unserem Ritual. Es bleibt aber ein kurzes Zwischenspiel. Einige Schulkameraden verpetzen uns bei Fräulein Hungerbühler. Mitten im Unterricht ruft Felix: »Die haben schon geknutscht.« Und Hans: »Sie knutschen jeden Tag. Ich habe sie an der Hausecke gesehen.« Wir müssen nach der Stunde drinbleiben. Fräulein Hungerbühler redet uns ins Gewissen. Du schweigst. Zu stolz, um zu antworten oder einen Fehler zuzugeben. Ich hingegen fühle mich schuldig. Als sie nicht aufhören will, mich mit Fragen zu bedrängen, fange ich an zu flennen. Am nächsten Morgen steht Frau Heilig, die Hauswartin, mit ihrem Reisbesen beim Schuleingang. Kontrolliert mit flammendem Blick die Schuhe der Kinder. Als wir durchschlüpfen wollen, grummelt sie: »Ihr macht ja schöne Sachen.«

In unseren Kindheiten gibt es vorerst keine Badezimmer. Weder bei dir noch bei mir. Bei uns steht die Wanne auf vier verschnörkelten Füssen in der Kellerwaschküche. Sie steht an einer rau verputzten Zementwand zwischen dem tonnenförmigen Kupferkessel und der zierlichen Zentrifuge. Der Blick aus dem Fenster, von einer Schachtmauer beschnitten, geht auf die nahen Obstbäume von Eberhards hinaus. Die in der oberen Hälfte verglaste Aussentür legt im Morgenlicht vier helle Mosaiksteine in den Waschküchenboden. Von der Tür führt eine flache Rampe zur Hauseinfahrt und zum Garten. Dort spiele ich mit meinen Geschwistern, oft aber auch mit dir. Wir versuchen, Spinnen zu fangen, lassen Kieseln und Murmeln hinunterrollen, bauen kleine Hütten aus Laub und Holz und spielen Familie. An Samstagen, wenn der Vorplatz mit dem Reisigbesen gefegt oder mit dem Schlauch abgespritzt ist und dich die Glocken nach Hause gerufen haben, heize ich mit den Brüdern den Kessel ein. Danach sitzen wir zu zweit und zu dritt mit unserer perlweissen Haut in der überschäumenden Riesenmuschel, pflastern uns Schaumbärte an und kratzen uns die Rücken wund, während du in eurer verwinkelten Stube von deiner Mutter in einen Zuber getaucht wirst, um wie neugeboren, nach Seife riechend und frisch frottiert, daraus hervorzugehen.

Nach dem Einbau der Badezimmer bei euch und bei uns bleiben die Wannen weiter im Gebrauch. Am Vorabend werden die verschmutzten Wäschestücke darin in eine Lauge gelegt, am Wäschetag mit dem Stampfer durchgewalkt, wenn nötig im Waschtrog unter dem Fenster geschruppt und dann zum Kochen in den Kessel geworfen, bis sie mit einem Holzbleuel oder einer langen Holzkelle wie tote Fische aus dem siedenden Wasser gezogen werden. Das Spülen ist eine nasse und langwierige Arbeit. Im Winter setzt es kalte, käsige Hände und Arme ab, bis endlich die Seife ausgeschwemmt ist und die klatschnassen Wäscheballen unter Wimmern und Dröhnen in der Zentrifuge ausgeschwungen werden können.

An Wäschetagen legen unsere Mütter von innen den schwarzen Schlüssel um, öffnen die Türen und lassen die Sonne ein, um ihre Gelten und Zainen voll duftender Wäsche an die freie Luft zu tragen. Du bist Einzelkind. Wir sind eine grosse Familie. Bei uns stehen der Einfahrt und dem Schuppen entlang verzinkte Stangen mit je zwei schneckenförmigen Haken daran. Einmal im Jahr schlauft mein Vater neue Drähte ein und spannt sie. Das reicht für den Wäscheberg von sieben Kindern aber nicht aus. Meine Mutter haspelt darum vom Holzwickler eine Leine ab, befestigt sie am nächsten Telefonmast und an unserem Berner-Rosen-Baum, von dem ich dir im Herbst jeweils einen Pausenapfel mitbringe.

Die Trommelwaschmaschine erreicht unsere Haushalte etwa zur selben Zeit. In den Waschküchen vollzieht sich ein zarter Funktionen- und Generationenwechsel. Es wird stiller um sie. Sie werden die heimlich Vertrauten von uns Heranwachsenden, weil sie Hintertüren bieten und damit einen versteckten Zugang ermöglichen. In der Regel ist die Türe geschlossen. Aber der Schlüssel steckt immer. Jahre später, in einer Sommernacht, machen wir uns die Waschküchenausgänge zunutze und stehlen uns davon. Nicht zusammen, das hätte Aufsehen im Dorf erregen können. Wir gehen zur abgemachten Zeit in unterschiedliche Richtungen los. Ich nehme das Rad aus dem Geräteschuppen, fahre bei lauer Luft über einige Hinterwege zum Bahnhof, dann durch den tief liegenden Pfad zwischen Geleisemauer und Getreidesilo, an der Villa der Müllersfamilie vorbei bis zur Kanalbrücke und zum Bahnübergang. Schon von Weitem höre ich die Schranke schellend heruntergehen. Der Zug rollt heran. Die hellen Fenster zucken wie Lichtbilder vorbei. Ich verfolge einen Passagier, verliere ihn aus den Augen und drehe den Kopf zurück zum nächsten. Mein Kopf gerät ins Schütteln, als würde ich Nein sagen. Dann knarren und zurren die Drahtseile und die Schranke bimmelt wieder hoch. Ich schwenke in die Kanalstrasse ein. Die Siedlung der Spinnereiangestellten bildet einen Riegel gegen den Mühlewald. Die Fabrik auf der Kanalseite, wo deine Mutter arbeitet, ist durch ein Gittertor geschlossen, der Innenhof von einem Scheinwerfer ausgeleuchtet. Aus den Gebäuden dringt das Klopfen und Summen der Nacht- und Maschinenschicht. Nach der Passage eines Turbinenhauses gerate ich auf einen Feldweg. Vorerst von einer hohen Böschung des Damms begrenzt und von Pappeln gesäumt, wird er in der Ferne zusammen mit dem Kanal von einem Waldgürtel verschlungen. Ich beschleunige meine Fahrt, will dich nicht warten lassen. Der Wind lässt mein Hemd flattern. Ich tauche ins Dunkel des Waldes. Ich höre das Wimmern des Dynamos und folge dem voraustastenden Fleck des Radlichts.

Am Waldausgang wartest du. Wir haben uns an der kleinen Brücke verabredet. Du siehst den heranzitternden Schein, der sich aus dem Walddunkel löst, und beantwortest den gepfiffenen Melodieanfang aus unseren Kindertagen. Wir begrüssen uns kaum. Das Gelächter aus einer abgelegenen Gartenwirtschaft vertreibt die Stimmung. Du machst dich bereit für die Weiterfahrt. Willst von der Brücke und dem altertümlichen Kandelaber weg. Wir folgen einer Art Treidelweg. Hier hatte uns Herr Kaltenbrunner einmal erklärt, dass die Kanäle früher Transportwege waren und die Uferpfade genutzt wurden, um mit Tieren die Lastkähne wieder stromaufwärts zu ziehen. Wir haben zwar keine Fracht angeleint, tragen aber eine Erinnerung mit. Wir sind ländlich aufgewachsen, zusammen zur Kirche gegangen. Es ist für uns selbstverständlich, jungfräulich zu sein. Auch wenn nicht alle Geheimnisse unberührt geblieben sind, sprechen wir nicht leichtfertig über das letzte. Nachdem du bei einem meiner Versuche, dich zu verführen, wie irre hattest loslachen müssen, fühlte ich mich zurückgestossen. Unsere Beziehung wurde kühler. Ich kam seltener in eure Wohnung. Du besuchtest mich kaum mehr in unserem Garten. Bis deine Mutter uns bittet, beim Zubereiten und Einmachen von Früchten und Gemüse behilflich zu sein. Sie plaudert, lacht viel und wir fühlen uns nahe. Als sie in die Küche verschwindet, stockt unser Gespräch, legt sich die Stille wie ein Haustier zu uns. Auf dem mit Plastik abgedeckten Stubentisch liegt ein Berg von Rüstabfällen. Ich berühre nur einen deiner Finger und frage so leise, dass ich die Ruhe nicht störe, ob du an der Kanalbrücke auf mich wartest. Du verstehst mich sofort. Der Moment ist gekommen.

1 992,36 ₽
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372 стр. 5 иллюстраций
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9783906907468
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