Читать книгу: «Wie man Dinge repariert», страница 2
BEZIEHUNGSSTATUS:
Die Frage nach dem Beziehungsstatus ist immer auch eine Schätzfrage.
VERSUCHSANORDNUNG
Objekt 1: Du, Mitte zwanzig, sommergesprosst, wolltest als Kind Heißluftballonfahrerin werden, mit dem Heißluftballon einmal um die Welt oder zumindest einmal raus aus dem Lavanttal, aber als du dreizehn warst, hat man dir die Sandbeutel aufgeschlitzt. Seitdem rieselst du. Seitdem hebst du nur mehr selten ab und fliegst tief, ganz tief, unter jedem Radar.
Objekt 2: Er, Ende dreißig, schütteres Haar, schüttere Gedanken, vielleicht auch schüttere Absichten. Wollte als Kind gar nichts werden. Berufswunsch: Kind bleiben. Nur ganz kurz wollte er nach Hollywood und Schauspieler in Sexfilmen werden, aber dann haben ihm seine Freunde erzählt, dass die Brüste der weiblichen Darstellerinnen aus Plastik sind und bloße Attrappen. Also doch nicht Hollywood, sondern lieber Mietwohnung in Klagenfurt.
Du kennst ihn schon seit über zehn Jahren, kennst ihn noch mit vollerem Haar, kannst dich an den einen Tag erinnern, als er seinen Bart abrasiert hat, dass er dir nicht gefallen hat ohne Bart, du weißt, wie er riecht am Morgen, wie er riecht am späten Nachmittag. Weißt, wie er ausschaut, wenn er zu wenig geschlafen oder am Vortag zu viel Bier getrunken hat. Jetzt willst du wissen, wie er am Abend riecht und spät in der Nacht, wenn keine Busse mehr fahren. Und einmal willst du der Grund sein, warum er aufbleibt die ganze Nacht.
Er kennt dich, kennt deine Handschrift, hat jahrelang deine Buchstaben entziffert, dein Geschriebenes decodiert, hat seine Schrift über deine Schrift gelegt, ein Wechselspiel, ein Dialog – ein Palimpsest aus Nicht- und Fast-Gesagtem. Er weiß, dass du an heißen Sommertagen zu wenig anhast, er weiß, in welche Richtung du deine Locken um den Finger wickelst, wenn du nachdenkst. Und er weiß, dass dein Vater zu viel trinkt, dass dein Vater nicht weiß, wann es genug ist, auch wenn er nicht getrunken hat.
An ein Schicksal glaubst du nicht, also hilfst du nach. Schicksal ist Zufall, dem wir eine Bedeutung geben, hat er einmal gesagt. Dieser Satz ist hängen geblieben. Wie so viele andere seiner Sätze hängen geblieben sind zwischen deinen Zähnen. Seit du ihn nicht mehr gesehen hast, schmeckt alles, was die anderen sagen, nach Amalgam. Die Tage ohne ihn wie Plomben in deinem Kalender. Beim Strandurlaub in Italien füllst du eine leere Wasserflasche bis zum Rand mit Sand und verstaust sie in deinem Rucksack.
Er weiß zuerst nicht, ob er antworten soll. So etwas passiert doch nur in Büchern, denkt er, so etwas passiert doch nur in Filmen und in Serien. Und am Ende ist der Protagonist tot oder zumindest seine Existenz zerstört. Also antwortet er. Er schreibt: Sehr gern. Was machst du nächsten Samstag? Ich kenne da eine Bar ganz bei mir in der Nähe. Und dann schickt er noch die Adresse und eine Uhrzeit.
Jetzt hast du, was du wolltest: Koordinaten. Du hoffst, dass er immer noch raucht, hoffst, dass er nicht merken wird, dass dir Bier noch immer nicht schmeckt, hoffst, dass deine Sommersprossen nicht zu sehr leuchten im Licht der Bar, dass dein Kleid kurz genug ist und dass dein Träger in den richtigen Momenten rutscht, aber nicht zu weit. Es ist eine Inszenierung, die Art, wie du ihn begrüßt, ist eine Inszenierung, deine Lippen auf seinen Wangen, deine Lippen streifen seine Mundwinkel. Du hast gut aufgepasst, du hast viel von ihm gelernt: Du weißt, wie wichtig die Exposition und was ein erregender Moment ist. Ihr bestellt das erste Bier. Die Handlung steigt, und in dir drinnen rieselt der Sand jetzt langsamer.
Er weiß, welche Wirkung seine Stimme hat, wenn er erzählt von den Jahren, wenn er erzählt von früher, wenn er das Wort WIR verwendet, weiß, welche Wirkung seine flüchtigen Berührungen haben, wenn er dich am Oberarm berührt oder am Rücken. Jetzt glaubt er zu wissen, wie deine Haut funktioniert, jetzt glaubt er zu wissen, warum du da bist. Er zählt die Sommersprossen auf deiner rechten Wange anstelle der Jahre zwischen euch.
Es wird spät, und jetzt weißt du, wie er riecht, wenn die Busse nicht mehr fahren. Im Stiegenhaus fummelst du mit seinem Gewissen. Er holt eine Flasche Wein aus seiner Wohnung, und ihr klettert auf das Dach. Klagenfurt ist nicht Hollywood, sagt er und macht deinen BH auf. Du schmeißt die leere Weinflasche auf die Straße. Es ist zu dunkel, um den Sand zu sehen, der von deinen Lippen abhebt. Die Masken verrutscht, die Kostüme zu groß oder zu klein. Zwei Objekte ohne Fall.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Als ich dir erklärt habe, dass Sex eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung sei, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet werde, ihr Ziel in sich selber habe und begleitet werde von dem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des Andersseins als das gewöhnliche Leben, als ich dir damals erklärt habe, was Sex ist für mich, habe ich in Wahrheit Johan Huizingas Homo Ludens zitiert und das Wort »Spiel« mit »Sex« ersetzt.
DIE WAHRHEIT, TEIL 2
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommst du mir ein paar Zentimeter größer vor.
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommen mir deine Kleider ein paar Millimeter kürzer vor.
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe.
Und ich weiß, du färbst dir jetzt deine Haare, ich weiß, du hast ein paar Kilo abgenommen – und beides macht mich traurig, und nie weiß ich, warum.
Und ich weiß, du erzählst deinen Freunden, wir hätten uns auf einer Beerdigung kennengelernt, dass ich süchtig war nach deiner Haut, aber nicht die Finger lassen konnte von den anderen, mich ständig einwickeln musste in neue Erzählanfänge, dass ich dich am Flughafen stehen gelassen habe, dass ich mit zwei Flugtickets an Bord gegangen bin und dich zurückgelassen habe mit einem fünfundzwanzigseitigen Abschiedsbrief, geschrieben in Schriftgröße 12 und mit 1,5 Zeilenabstand, dass niemand deinen Namen aufgerufen hat am Gate und dass du die S-Bahn zurück nach Wien genommen hast, dein Koffer ganz schwer, aber dein Herz überraschend leicht, so leicht, als wäre es ein Ballontier.
Und ich weiß, du erzählst deinen Freunden, dass du gut ohne mich kannst, dass du nicht mehr jeden Tag auf mein Facebook-Profil gehst oder schaust, was ich auf Twitter schreibe, dass du aufgehört hast, dich mit meinen anderen Ex-Freundinnen auf Kaffee und weiße Spritzer zu treffen, dass du einen Urlaub gebucht hast ans Meer, dass du gerne alleine reist, dass du vielleicht noch manchmal an mich denkst, aber erst nach dem dritten oder vierten Glas, also trinkst du weniger und machst mehr Sport, gehst am liebsten wandern, dann schaust du stundenlang nicht auf dein Handy, dann bist du ganz bei dir.
Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, wie du in meinem Fenster gestanden bist und springen wolltest, wie du mich angeschrien hast, dass du dich jetzt umbringst wegen mir, dass ich dich weggerissen habe vom Fenster und du eingeschlagen hast auf mich, bis auch ich eingeschlagen habe auf dich, als würden wir hageln, ein Korn nach dem anderen, dass wir irgendwann erschöpft aufgehört haben, verschwitzt aufeinandergelegen sind, dass wir dann Sex gehabt haben und du mir unter der Dusche gesagt hast, du willst ein Kind von mir.
Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, dass jeder Schnaps, den du trinkst, auf mich ist, dass du im Sommer das Grab meines Vaters besucht hast, dass du das Haus gesucht hast, in dem ich aufgewachsen bin, und den Fußballplatz, auf dem ich meine ersten Tore geschossen habe, dass du dich zur Sandkiste am Kinderspielplatz gesetzt hast und ein paar Minuten lang die zerbrochenen Plastikschaufeln angeschaut hast und die löchrigen Plastikkübel, und dass du mir fast ein Foto geschickt hättest von der Schaukel, die sich ganz leicht bewegt hat im aufkommenden Wind.
Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, dass du manchmal noch die Tür aufmachst, wenn ich mitten in der Nacht anläute, dass du aufgehört hast zu zählen, wie oft wir schon gesagt haben: DAS IST DAS LETZTE MAL.
Die Wahrheit ist: Wenn es regnet, höre ich die Kilometer zwischen uns, wie sie gegen meine Fensterscheibe trommeln. Dann liege ich in meinem Bett und berechne: die Neigung des Regens.
Die Wahrheit ist: Du teilst deine Kleider im Schrank noch immer in zwei Hälften – die Kleider, die ich dir schon ausgezogen habe, und die Kleider, die ich dir noch ausziehen werde.
Die Wahrheit ist: Seit ich dich kenne, will ich ein Buch über Hungerkünstler schreiben.
Die Wahrheit ist: Ich kann den Taxifahrern von jedem Punkt dieser Stadt den kürzesten Weg zu deiner Wohnung ansagen.
Die Wahrheit ist auch: Du hattest Angst vor meinen ungelesenen Büchern, Angst vor den vielen Namen in meinem Adressbuch, Angst vor jeder Handy-Vibration. Angst vor Synonymen.
Und die Wahrheit ist: Nichts davon stimmt.
Was bleibt: zu klein gewordene Parkbänke, ein zu klein gewordener Bezirk, eine zu klein gewordene Stadt.
Was bleibt: eine lange Liste mit tatsächlichen und eingebildeten Abschieden.
Was bleibt: eine Vergangenheit, die uns blaue Flecken schlägt.
Und ich weiß, du wirst mir nicht glauben, wenn ich dir sage: Schau, ich schreibe noch immer über dich. Und schau, mittlerweile weiß ich, was uns gefehlt hat: eine Anleitung, wie man Dinge repariert. Und schau: LIEBEN HEISST, DAS EIGENE ICH ZERLEGEN.
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommst du mir ein paar Zentimeter größer vor.
Ich will den Spliss anfassen in deinen Haaren, will wissen, ob er immer noch mir gehört.
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Du fragst, ob ich noch immer gern mit den falschen Frauen zusammen bin.
WAS BLEIBT, IST STILLE IM 4/4-TAKT
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an beim Fahrradfahren verschluckte Fliegen, an Dorffeste mit billigen Mixgetränken, an von der RAIKA gesponserte Parkbänke, an das Geräusch von Kreissägen am Wochenende, an bei Glatteis in den Straßengraben gerutschte Postbusse, an deinen ersten Lungenzug auf einem Hochstand, an deinen ersten Kuss beim Flaschendrehen, an den Geschmack von in der Hosentasche warm gewordenem Kaugummi, an stillgelegte Bahnhöfe und an Weichen, die keiner mehr stellt, an mit dem Mund aufgeblasene Luftmatratzen, denkst an die Spielsachen deiner Kindheit am Dachboden in Kisten verstaut und beschriftet, denkst und denkst und denkst, und deine Gedanken baumeln.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an Bier, das nach Feldweg schmeckt, an in halbvollen Gläsern ersoffene Wespen, an den Geruch von frisch gemähtem Gras, an im Lagerfeuer verbrannte Briefe, an die Mohnnudeln deiner Mutter, an den Bierbauch deines Vaters, an die Barbiepuppen deiner Schwester und wie unheimlich sie nackt ausgeschaut haben.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an deinen ersten Computer, an das Geräusch, das dein Modem gemacht hat, an das Läuten des Telefons, und keiner geht hin, an Sommergewitter und Stromausfälle und Kerzenlicht und Wachs auf deinen Fingern.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an Senkgruben und Misthaufen und Silos und Böschungen, an von Autos überfahrene Katzen, Adventskränze und Grablichter. Wenn du ans Land denkst, denkst du manchmal daran, irgendwann zurückzukehren. Irgendwann – aber das Wort liegt ganz feucht und schwer auf deiner Zunge.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an verregnete Hochzeiten und an Begräbnisse bei fast vierzig Grad im Schatten, dann denkst du an Hollywoodschaukeln und Grillen am Balkon, das Hineinstechen mit der Gabel in die Käsekrainer, um zu testen, ob sie schon fertig sind, und als deine Mutter vierzig wird, feiert ihr in der Garage, alle Nachbarn sind eingeladen, es gibt Bier vom Fass, und du erlebst deine Mutter das erste und letzte Mal in deinem Leben betrunken, und am nächsten Tag gibt es nichts zu essen, weil ihr so schlecht ist – auch daran denkst du, wenn du ans Land denkst.
Du denkst außerdem daran, wie dir dein Vater gezeigt hat, wie man sich rasiert oder wie man eine Motorsäge richtig hält oder wie man mit Handbremse bergauf wegfährt, denkst an das alte Auto deines Vaters, in dem deine Mutter auf dem Weg nach Hause von der Straße abgekommen ist, mit dem sich deine Mutter dreimal überschlagen hat, aus dem deine Mutter mit nur drei blauen Flecken ausgestiegen ist, so als wäre sie unsterblich.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an den kleinen Fußballplatz gleich neben dem Kinderspielplatz, an den einen Onkel, der immer nach Wein riecht, egal um welche Uhrzeit, an Blasmusik und Fürbitten, an Mopedfahren und Wasserschlachten mit den Nachbarskindern, an die erste feste Freundin, das Miteinander-Gehen und dass man dann doch wieder in unterschiedliche Richtungen weitergegangen ist, an Volleyball beim Badeteich, an dein erstes Handy mit Antenne und an die gemeinsamen Abende vorm Röhrenfernseher, ans Schauen von Universum oder vom Wetterbericht.
Wenn du ans Land denkst, bewegt sich ein Gletscher in dir, aber in der Gefriertruhe gibt es noch Eis, auf das kannst du dich verlassen, in der Gefriertruhe gibt es noch Eis und Fleisch und Tiefkühlpizza.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an die einzige Disko weit und breit und an Schaumpartys und Menschen, die zu den größten Hits der 80er- und 90er-Jahre tanzen, zu den größten Hits der 80er- und 90er-Jahre schwitzen, und nach ein paar Runden Tequila ist das Wochenende vorbei, und zwischen den Zähnen stecken noch am Montag die Zitronenreste.
Wenn du ans Land denkst, dann auch an dein erstes Mal Wählen in einem der beiden Wirtshäuser im Dorf. Und als du deine Stimme abgibst, riecht es nach Schweinsbraten, und am Stammtisch im Nebenzimmer werden die Karten laut auf den Tisch geknallt, und die Weingläser scheppern. Als du das Wirtshaus verlässt, ist es kurz nach Mittag und es schaut nach Regen aus. Am Abend fährst du dann zurück in die Stadt, in der du studierst, und denkst darüber nach, warum du nie zu Hause bist.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an den Heizraum. Dort steht noch immer ein rotes Kofferradio, dort hängt noch immer die alte Bundesheerjacke deines Vaters, und in den Spinnweben klebt ganz fein der Holzstaub, und da liegt ein Stapel Zeitungen, und du machst Feuer. Eine halbe Stunde später dann ticken die Heizkörper.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an Häuser, die jetzt leer stehen, an Zimmer, die einmal bewohnt waren, an Geräusche, die es nicht mehr gibt, weil es die Menschen nicht mehr gibt, denkst an die Geräusche, die du früher nicht gehört hast und die jetzt so laut sind, weil sie fehlen.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an den Mond, den man nicht fotografieren kann, und an Sonnenaufgänge, die man nicht fotografieren kann. Wenn du ans Land denkst, denkst du an deine Cousine mit den toten Zwillingen im Bauch.
Wenn du ans Land denkst, dann auch daran, dass du deiner Schwester versprochen hast, nicht mehr so viel zu trinken, deiner Schwester, die sonst kein Wort gesprochen hat die ganze Autofahrt lang, dir nur dieses eine Versprechen abgenommen hat, dann hat sie beschleunigt, und das Fernlicht des Autos hat die Felder am Straßenrand berührt und ist irgendwann in einem leer gefischten Teich untergegangen.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an das Stück Wald, das jetzt dir gehört und in dem du deinen Großvater gefunden hast, der seit zwei Tagen verschwunden war. Du wolltest deinen Großvater nicht finden, aber du hast ihn gefunden, tief im Wald. Zuerst hast du nur seinen Schatten gesehen, dann seinen Körper, wie er baumelte in den Ästen. Alles war still, in dir drin war es am stillsten. Wenn du ans Land denkst, dann baumelt dein Herz und du spürst die Tannennadeln unter deiner Haut. Wenn du ans Land denkst, hörst du den Wind zwischen deinen Rippen und wartest auf das Geräusch von splitterndem Holz.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Ich schreibe ein Buch über dich, aber ich kann es nicht »Unheimliche Heimat« nennen, weil mir jemand zuvorgekommen ist. Und ich kann es nicht »Die Beschreibung des Unglücks« nennen, weil mir jemand zuvorgekommen ist. Das Problem, wenn man sich mit Mitte dreißig kennenlernt: Es ist mir nicht nur einer zuvorgekommen. Zuvor, und was weiß ich wohin.
EIN FINSTERES LAND
In Österreich heißen Schokoküsse Schwedenbomben. Und viel mehr muss man auch nicht wissen, finde ich, über die kulturellen Unterschiede. Den Rest kann man bei Elfriede Jelinek nachlesen oder bei Thomas Bernhard. Es ist ein finsteres Land, Österreich, und wir wählen die Politik, die uns verspricht, es noch ein wenig finsterer zu machen. Seit die Sonne vom Himmel gefallen ist, soll sie auch nicht mehr aufgehen, das ist österreichische Politik, das bringt die meisten Stimmen. Es ist der Triest-Komplex, der Traum vom Meerzugang. Wir wollen einen Meerzugang, um ihn dann gleich wieder zu schließen. Überhaupt wollen wir alle Grenzen schließen, damit niemand sieht, was wir in unseren Kellern verstecken.
Meinen ersten längeren Text habe ich mit fünfzehn oder sechzehn in ein kariertes A5-Heft geschrieben. Damals habe ich noch geglaubt, dass man Geschichten erzählen kann, dass es eine Erzählperspektive gibt, auf die man sich verlassen kann. Dass es eine Sprache gibt, mit der ich etwas BESCHREIBEN kann. Mittlerweile wissen wir beide: Sprache kann im besten Fall etwas ZERSCHREIBEN. Und seitdem fallen wir auseinander. Wie ein Kartenhaus, könnte ich jetzt schreiben, aber die Vergleiche ruinieren uns. Seit wir angefangen haben zu vergleichen, sind wir nicht mehr ganz.
Der Text, der jetzt irgendwo in einer Schublade in meinem Elternhaus liegt, basiert auf dem Videospiel Super Mario Bros. Es ist also eine klassische Liebesgeschichte. Ärger als Romeo und Julia. Härter als jeder Tarantino-Film. Es gibt eine Prinzessin, aber die Prinzessin ist immer IN ANOTHER CASTLE, und Mario, der tragische Held, nimmt harte Drogen, um mit seinem Vermissen zurechtzukommen, mit der Tatsache klarzukommen, dass, egal wie schnell er sprintet und egal wie weit oder hoch er springt, er immer zu spät dran sein wird, die Prinzessin ist schon wieder weg. Die Röhren, die in die Unterwelt führen, repräsentieren sein Unbewusstes, stehen für sein ES, seine dunklen Fantasien, wenn er sich zum Beispiel vorstellt, die Prinzessin an ihr Prinzessinnenbett zu fesseln, oder sich vorstellt, ihren Prinzessinnenhals ein wenig zu würgen. Wenn man, so wie ich, alle Teile Super Mario gespielt hat und miteinander vergleicht, wird eines klar: Der Protagonist ist hochgradig beziehungsunfähig. Er wird nie wieder wirklich lieben können, egal wie viele Extra-Leben er auch sammelt, die Prinzessin wartet nicht auf ihn, die Prinzessin ist nicht wählerisch, sie nimmt jeden dahergelaufenen Installateur, ja sogar seinen Bruder würde sie nehmen.
Bei meinem nächsten Besuch im Waldviertel werde ich das Heft suchen und dir daraus vorlesen. Und dir gestehen, dass ich beim Wort SCHWEDENBOMBEN immer an deine Brüste denken muss. Wenn du dich bückst und dein T-Shirt nach vorne fällt und ich den Countdown lesen kann und nicht weiß, welchen bunten Draht ich durchschneiden soll. Ich finde, es gibt schlimmere Vergleiche. Ich kann mich noch erinnern, einmal hast du betrunken gesagt: Der Tag, an dem ich dich kennengelernt habe, ist mein persönliches 9/11. Wir haben gelacht, noch eine Runde Schnaps bestellt und angestoßen, als würden wir ein Jubiläum feiern.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Du sagst, ich soll keine Geschichte machen aus dir, ich soll bitte keine Fortsetzungsgeschichte machen aus dir, nicht schon wieder. Du sagst, ich soll mir endlich einen passenden Schluss einfallen lassen.
DIE GESAMTHEIT DES GEFUNDENEN
Es gibt den Kühlschrank und vier Dosen Bier, eine davon im Gemüsefach. Es gibt die Kohlensäure und das nasskalte Licht, das aus dem Kühlschrank kippt. Es gibt den ersten Schluck, und es gibt den letzten Schluck. Und die Zeit dazwischen.
Die Regenwahrscheinlichkeit gibt es. Es gibt den Dauerregen, den Nieselregen, den Starkregen, den Gewitterregen, den Steigungsregen und den Schlagregen. Es gibt den Regen, der uns überrascht, und den Regen, auf den wir warten.
Es gibt die Gedichte, die ich schreibe, nachts, wie ein Verbrecher, die Gedichte, die ich dir gebe, nachts, wie ein Verbrecher, und du steckst sie ein und dann höre ich nichts von dir, die nächsten paar Wochen.
Die Parkbank vor der Kirche gibt es, wenn es Abend wird und du meine Hand unter deinen Rock schiebst, auf der Parkbank vor der Kirche, die Schatten gibt es, die am Morgen in mein Blickfeld hineinfallen, wenn ich von deiner Wohnung nach Hause gehe, vorbei an der Kirche, die Glocken läuten.
Die Monatskarte fürs Hallenbad gibt es, aber ein Hallenbad ist kein Ersatz für das Meer, ein Hallenbad ist kein Ersatz für Nähe, nur weil dein Körper im selben Chlorwasser treibt wie mein Körper, nur weil dein Handtuch nach demselben Waschmittel riecht wie mein Handtuch, ein Hallenbad ist kein Ersatz.
Meine Wut gibt es, ich zerdrücke die Bierdosen mit ihr, zerdrücke dich zwischen meiner Wut und den Bierdosen, es gibt kein Pfand, schreie ich, es gibt kein Pfand auf das, was ich dir verschwiegen habe.
Es gibt den Massagegutschein, den du mir geschenkt hast, aber es sind die falschen Hände, warum schenkst du mir fremde Hände, habe ich dich gefragt.
Es gibt die Bierdeckel, auf die ich deine Sätze schreibe, die Bierdeckel, auf die ich deine Sätze schreibe und so lange verwische, bis es meine Sätze geworden sind.
Es gibt die E-Mails von Booking.com, ich soll meinen Aufenthalt bewerten, soll unsere letzte Reise auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten. Booking.com schickt mir immer noch Angebote für die Orte, die wir gemeinsam bereist haben.
Es gibt die Aschenbecher, die wir aus den Bars gestohlen haben, die wir früher gemeinsam besucht haben, die leeren Zigarettenschachteln gibt es, die leeren Feuerzeuge und Streichholzschachteln von Lokalen, die es nicht mehr gibt, mit einer Telefonnummer drauf, aber niemand hebt ab.
Es gibt den Rausch, in den ich mich hineinlege wie in die Donau, die Donau nimmt mich so, wie ich bin. Es gibt den Rausch und es gibt das Taxi, das mich nicht zu dir bringt, und wenn ich aussteige, schreien die Fassaden.
Es gib den unsichtbaren Regen und die Tage, an denen wir die einzigen Menschen mit aufgespannten Regenschirmen sind.
Und die Wiederholung, die gibt es auch.
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