Sklaverei

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Die Amerikas vor 1492 (und in Gebieten unter indigener Kontrolle auch danach) kannten alle Formen von Kriegsgefangenensklaverei – oft mit den erwähnten grausamen Formen der Opfersklaverei (wie bei Irokesen, Azteken und Maya). Opfersklavereien gab es auch bei den Kelten, Germanen und vielen Völkern Afrikas sowie als Sonderform der Entstehung von Sklavereiansätzen möglicherweise weltweit. In ganz Afrika existierten lange vor der atlantischen Sklaverei schon Kin-Sklaverei und viele lokale Formen der Schuldsklaverei, zumal nicht die Kontrolle von Land die Hauptkapitalform in Afrika darstellte, sondern die Kontrolle über Menschen.

Dass Verschuldung im Zusammenhang mit Versklavung steht, ist weltweit ein ungelöstes Problem (es ist noch heute Grundlage vieler Sklavereien, vor allem von Kindern)79. In Israel in biblischen Zeiten und im klassischen Griechenland, wie überhaupt im Vorderen Orient, kamen ganze Bauernbevölkerungen wegen hoher Zinsen sehr schnell unter die Herrschaft von reichen Wechslern, Kaufleuten und Eliten. Gleiches geschah in Han-China. Die Reformen Solons in Griechenland gingen das Problem wenigstens an; auch in Rom gab es Versuche dazu, etwa mit dem Grundsatz, Schuldner innerhalb der Kerngesellschaft oder religiösen Ökumene nicht zu versklaven. Muslime sollten keine Muslime versklaven und Juden nur Nicht-Juden; versklavte Juden lebten bei Juden nur in zeitlich begrenzten Haussklavereien. Auch im Kongoreich und anderen afrikanischen Staaten galt dieses Prinzip.

Allerdings entsprachen die Sklavereipraktiken kaum jemals den Normen. So versklavten Katholiken in den Kolonien der iberischen Reiche (Spanisch-Amerika, Brasilien) zum Christentum bekehrte Afrikaner (diese galten als »Brüder in Christo« – weswegen der Papst und die katholische Kirche bis weit ins 19. Jahrhundert Sklaverei für notwendig hielten), Protestanten in amerikanischen und karibischen Kolonien versklavten ebenfalls christliche und andere Afrikaner (und nahmen sie nicht in ihre Gemeinden auf), und zum Islam übergetretene Versklavte blieben Sklaven. In langen Bürgerkriegen, wie etwa im Kongoreich 1570–1670, in dem Portugiesen und ihre Verbündeten N’Dongo als Angola vom Kongo abspalteten, wurden auch zahlreiche Menschen aus dem Kongo versklavt und zumeist als congo-Sklaven in die Amerikas verschleppt. In China, einer Kultur ohne Monotheismus, versklavten Chinesen Chinesen bzw. betrieben in großem Umfang Selbstversklavung wegen Verschuldung – vor allem seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als amerikanische Pflanzen und amerikanisches Silber nach China einströmten.

Am meisten hat wohl die islamische Kultur dazu beigetragen, die Kin-Sklaverei der mediterranen Antike, vermischt mit eigenen lokalen Formen der Sklaverei, in der Weltgeschichte zu verbreiten. Zugleich ergaben sich immer größere Verflechtungen durch Sklavenhandel, sodass zu Recht schon von frühen Formen der Globalisierung gesprochen wird. Das wirklich Neue der Sklaverei in islamisch-arabischen Territorien war die Konfessionalisierung der Sklaverei (sicherlich auf hellenistischen, römischen Rechtsgrundlagen und jüdisch-christlichen Religionswurzeln). Erstens geschah das durch die großen Kriegs- und Razziensklavereien der Expansionsphase des Kalifats (alle Imperien bis Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet die territoriale Expansion, manche auch noch danach). Dasselbe galt aber auch für Kulturen, die aus der Perspektive der Zentren des Kalifats und der islamischen Nachfolgereiche als »Peripherien« konstruiert wurden und oft als räuberische (predatory) Gesellschaften (mit und ohne Staat) bezeichnet werden. Schließlich setzten sie der Expansion des selbsternannten imperialen Zentrums (mit der entsprechenden Kulturarroganz) sehr gewaltsame Formen von Widerstand und allgemein Sklavereien sowie intensive Raubzüge entgegen. Bisweilen entwickelten sie Letztere auch weiter (wie Transoxanien, Jurchen/Manchu, bestimmte »ethnische Minderheiten« im heutigen China, die erst im 20. Jahrhundert unter Kontrolle Chinas kamen, und etwa die Wikingerkulturen in ganz Nordeuropa, in der Rus und auf dem Nordatlantik, Schotten gegen Nordengland oder Slawen- und Pruzzen-Krieger gegen die imperialen Ostexpansionen). Ein zweites Hauptmerkmal islamischer Sklaverei lag im Vergleich zu anderen imperialen Gebilden zwischen 500 und 1000 (Byzanz, Indien, China und Europa) in der perfekten Funktionalisierung der Kin-Sklaverei: Sklaven spielten die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Rollen, manche davon waren geradezu unverzichtbar, wie etwa die genealogische und demografische Sicherung von Nachkommenschaft.80 Aber auch auf Arbeit, Dienstleistung und Ausbeutung menschlicher Körper war man angewiesen.81

Es gab innerhalb des Plateaus der Kin-Slavery selbstverständlich auch Nicht-Kin-Institutionen, die Sklaven hielten. In China etwa waren das die Vereinigungen des chün-t’ien-Systems: Kooperativen zur Bewachung der Feldkulturen und Ernten, Löwentänzergruppen, Kriegskunstgruppen, Komitees zur Pflege und Erhaltung von Tempeln und Schreinen, schamanistische und daoistische Therapiegruppen von Heilern, Drachenbootteams; sogenannte Geheimgesellschaften zur Überwachung von Transportwegen und Transporten, getragen von Fuhrleuten und Bootsbesitzern (meist gestützt auf Herbergen und Rasthäuser entlang der Handelsrouten).

Wie sind Kin-Sklaverei und ihre spezifischen Ausformungen in einem frühen Stadium der Imperialbildung vorstellbar? Ich will ein Beispiel wählen, das höchstwahrscheinlich frei von eurasischem Einfluss ist, denn es stammt aus den Maya- und Aztekenreichen, die Teile dessen sind, was in der Forschung als »Alt-Amerika« bezeichnet wird. Makroevolutionistisch betrachtet waren das politische Gebilde, die entweder an der Schwelle zum Imperium standen (so die Maya, die aber aus unterschiedlichen Gründen scheiterten) oder sich in einer frühen expansiven Phase der Bildung eines Imperiums unter Kontrolle eines Städtebundes befanden, in dem sich eine Stadt durchgesetzt hatte (wie die Azteken bzw. Mexica).

Die Mayas der klassischen Periode und danach (um 250–900) kannten Sklaven und Opfersklaverei. In Zentralamerika hießen Sklaven bei den Náhuatl sprechenden Völkern tlacotin (bei den Mexica/Azteken in Zentralmexiko, den pipil in El Salvador und den Nicarao in Nicaragua); bei den Maya-Sprechern, wie den K’iche’-Maya, nannte man sie munib. Bei den Chontales, die Kriegsgefangenensklaverei, Strafsklaverei und unterschiedliche Schuldsklavereien betrieben, wie alle anderen Völker Zentralamerikas auch, wurden Arbeitssklaven meya uinicon (= Arbeitende) genannt. Die direkten Aufgaben in der Landwirtschaft wurden in ganz Zentralamerika zum größten Teil von freien Bauern erledigt (bei den Maya: masehualo’ob). Sklaven waren die unterste Gesellschaftsschicht, eine Kaste der Ehrlosen. Neben der relativ kleinen Elite (Kriegeradel und Priester, Kriegerkaufleute) gab es die große Gruppe der Gemeinen (in der englischsprachigen Forschung commoners). Sklaven und Sklavinnen wurden meist zu schmutzigen Arbeiten (menial works) sowie wenig geachteten Dienstleistungs- und Nebenaufgaben (wie Wasser schleppen, Holz sammeln, Mais mahlen, Fäkalien beseitigen, Kleinvieh hüten, Essen servieren, Reinigungsarbeiten), aber auch und gerade als Träger (Náhuatl: tamemes) eingesetzt. Sklaven konnten gekauft und verkauft, sexuell ausgebeutet sowie nach dem Willen ihrer Besitzer getötet oder geopfert werden. Sklave konnte werden, wer von seinen Verwandten verkauft wurde oder wer sich selbst verkaufte wegen einer Schuld; Sklaven wurden auf lokalen Märkten feilgeboten. Manche Menschen wurden auch wegen krimineller Taten (vor allem Mord und Ehebruch) zur Sklaverei verurteilt. Zur Kennzeichnung von Sklaven wurde ein Farbpulver (tile) hergestellt, welches in einen Schnitt an einer sichtbaren Körperstelle (oft Gesicht oder Arme) gerieben wurde. Es blieb nach Heilung der Wunde als eine Art Tätowierung erhalten.82

Besonders auffällig in der Kultur der Maya und Mexica sind die vielen Opfersklaven. Auf die Bedeutung von Opferungen und Kannibalismus im Zusammenhang mit möglichen neolithischen Sklavereien hat schon Detlev Gronenborn verwiesen (erstes Plateau); bei den Maya sowie Azteken waren sie kombiniert mit Haussklaverei. Menschen wurden für Weihezwecke, besonders bei der Einweihung von Gebäuden und Anlagen sowie bei bestimmten Festtagen geopfert. Menschliches Blut, Tränen und Teile von Körpern, aber auch ganze Körper einer bestimmten Kategorie (Jungfrauen, Kinder, Krieger) verwendete man bei der Befragung von Orakelgottheiten. Menschenopfer brachte man zur Abwendung von Notzeiten, Krankheiten, Hungersnöten, Sonnen- und Mondfinsternissen, Seuchen oder Kriegen bzw. zu bestimmten Anlässen im Leben eines Herrschers. Nach Siegen in Schlachten und militärischen Erfolgen wurden gefangen genommene Menschen als Dank an die Götter in aufwändigen Ritualen geopfert – gleichzeitig sollte damit Schrecken unter den Feinden verbreitet werden. Letztere taten bei Siegen das Gleiche, es existierte eine weitverbreitete Kriegskultur der Gewalt. Viele Sklaven waren Kriegsgefangene. Menschen wurden auch als Sühne- und Reinigungsopfer zu Tode gebracht oder als Begleitopfer bzw. in Totenfolge. Es gab private Zeremonien mit Menschen als Opfer, und Freie konnten sich auch selbst als Opfer anbieten.

Priester suchten zu jedem Anlass Menschen nach den Kriterien körperliche Unversehrtheit, Schönheit und Reinheit heraus (castings). Die meisten Opfer (etwa 75 Prozent) waren Männer; nur ein Viertel war weiblichen Geschlechts (meist Mädchen). 45 Prozent aller Opfer waren Kinder. Die meisten Opfer stammten aus der Gruppe der Versklavten.83 Die Funktion von Körpern als Kapital wurde vor allem im strukturellen Konflikt zwischen Kriegern (die Sklaven für Ruhm und Status beschafften) und Priestern (die Opfersklaven und Opferungen als symbolisches Kapital einsetzten) deutlich. Hochrangige Gefangene und Anführer wurden oft geopfert (und in kannibalistischen Ritualen verspeist; Priester erhielten meist das Herz). Priester bekamen, je nachdem, wie mächtig sie waren, mehr oder weniger Kriegsgefangene aus der Beute zugesprochen; sie konnten auch andere Versklavte zur Opferung bestimmen. Ähnliches gilt für Menschen- und Kinderopfer im Inka-Reich; zum Opfer bestimmte Kinder hatten für eine gewisse Zeit (oft etwa ein Jahr vor Opferung) einen hohen Status.

 

Eduard Erkes hat darauf verwiesen, dass schon viel früher, im prähistorischen China der Shang-Dynastie (1600–1050 v. Chr.) im Tal des Gelben Flusses (Hwangho), Kriegsgefangene als Menschenopfer Verwendung fanden.84 Das bestätigt auch die neuere Forschung, in der allerdings mit Fundorten weiter südlich die Frage aufgeworfen wurde, ob die Shang-Kultur entweder extrem weit verbreitet war oder auf dem Gebiet des heutigen China mehrere frühe Zivilisationen existierten (wie die umstrittene Hsia/Xia-»Monarchie«).

In Gesellschaften, die sich im Übergang zum Imperium befanden (wie die Shang in China oder die Mexica/Azteken), sind die neuen Konzepte der Unfreiheit mit Opfersklaverei sowie speziellen lokalen Elementen und Formen der Kin-Sklaverei gemischt worden. Zugleich existierten die nun schon traditionellen lokalen Gebräuche des rituellen Opfers, der Deportation, der Kopfjagd und manchmal des Kannibalismus weiter, oft in räuberischen Gemeinschaften am Rande imperialer Kulturen. Durch Kriege und Austausch kamen sie mit technologisch höher entwickelten und wirtschaftlich-militärisch stärkeren imperialen Sklavereigesellschaften in Berührung. Oft wurden in diesen Übergangsgesellschaften eigene, lokale und performative Opferrituale übernommen oder beibehalten und zugleich Sklaverei und Sklavenhandel als Wirtschaftsform übernommen und ausgebaut – klassisch in Rom mit seiner Massensklaverei in Sizilien, den ritualisierten Tier- und Menschenopfern in den Arenen; aber auch im Reich der Azteken, bei den Maya, den Kelten und Germanen oder an der Goldküste beziehungsweise in Dahomey und Benin. Außerhalb von Europa und der Alten Welt existierten expansive Gesellschaften des Opfers, die das Potenzial zu großen Sklavereigesellschaften hatten. Daran knüpften die europäischen Expansionen seit dem engeren Beginn der aktiven Globalisierung (um 1300) überall an.

Ein Beispiel von umstrittenen Kin- und Kollektivsklavereien sind die Sklavereien im Russischen Reich. Sie erstrecken sich zeitlich (nicht räumlich) weit in das welthistorische Plateau der atlantischen Sklavereien, nämlich bis 1861. Mit der Expansion nach Sibirien um 1580–1860, deren Abschluss die Gründung von Wladiwostok darstellt, und den Versklavungen von Menschen dieser Territorien reichen die Sklavereien auf dem Gebiet des heutigen Russlands sogar bis weit in das fünfte Plateau der großen Lagersklavereien im 20. Jahrhundert hinein. Allerdings gab es nach 1861 keine formalen Versklavungen mehr und insgesamt auch kein drittes Plateau (mit Ausnahme einiger russischer Schiffe im atlantischen Sklavenhandel).

Das sobornoe uloženie, das Grundgesetz des russischen Zarentums von 1649 (Alexej I.), auf das sich die Ständeversammlung des Reichs (sobor) geeinigt hatte, enthält ein ganzes Kapitel über Bauern. Sie wurden, schreibt Hans-Heinrich Nolte, im Jahre 1649 schließlich »dem Boden zugewiesen«, blieben aber »persönlich frei«.85 Es war nicht legal, sie als Individuen zu verkaufen, aber der Boden konnte mit »fixierten« Bauern verkauft werden; Bauern wurden Teil der Immobilie. In der Realität waren in Russland keineswegs alle Bauern an die Scholle gebunden. Da orthodoxe Christen nicht unter den Muslimen dienen sollten, kam es zu einem langen Prozess, der dazu führte, dass im Jahre 1713 muslimischen Herren in Russland die formale Kontrolle über ihre orthodoxen Bauern aberkannt wurde.

Im 16. und 17. Jahrhundert gab es in Russland eine soziale Gruppe, deren Mitglieder einzeln verkauft werden konnten – die kholopy (Sing.: kholop) oder Cholopen. Unter ihnen gab es Statusunterschiede, aber alle sollten im kholopii prikaz, einem Register, aufgeführt sein. Richard Hellie nennt die Cholopen »Sklaven«. Auch in benachbarten Territorien wurden Sklaven nach einem Begriff auf gesamtslawischer Wurzel holop genannt: Versklavte in den Fürstentümern Moldau und Walachei sowie sicherlich auch andere Verschleppte wurden zunächst, ähnlich dem slawischen Begriff cholop, holop genannt (15. Jahrhundert); seit dem 17. Jahrhundert roabă (rob). Cholopen bildeten einen eigenen Stand und kamen über Schuldverschreibung, Kontrakte oder Gefangennahme auch aus Städten in die Sklaverei.86 In Hellies Worten waren »die meisten Sklaven Moskowiens Einheimische« – d. h. idealtypisch gesehen eine Nahsklaverei meist von Bauern in mehr oder weniger selbstverwalteten Dorfgemeinden, die zunehmend in staatliche Abgaben- und private Besitzstrukturen hineingerieten und dadurch ihrer Mobilität beraubt wurden. Das gelang natürlich wegen naturräumlicher Gegebenheiten vor allem im Norden, Osten und Süden der Territorien Russlands nur unvollkommen, zumal die Bauern an die Grenzen (u kraina) flohen – aber die Tendenz verschärfte sich bis in das 19. Jahrhundert.

Bei anderen Gruppen war der Sklavenstatus noch deutlicher. Nicht-orthodoxe Menschen bildeten einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung Russlands. Deshalb werden sie nicht nur in den Abschnitten des Uloženie zum Gerichtswesen (Urteil) erwähnt sowie in den Abschnitten zur Grundherrschaft, sondern auch im Kapitel über die Cholopen. Cholopen – weil Christen – waren Sklaven mit Ehre und Gerichtsbarkeit. Wie gesagt, es war nicht-orthodoxen Herren verboten, orthodoxe Cholopen zu halten. Als Gründe nennt das Uloženie, dass die orthodoxen Cholopen in den nicht-orthodoxen Haushalten ohne geistige Väter (Popen) leben und, noch schlimmer, ohne letzte Beichte sterben mussten; außerdem hatten sie während der Fastenzeiten verbotene Nahrung zu essen.

Es gab zudem im 17. Jahrhundert ›echte‹ Privatsklaven in Russland, mit minimalem Rechtsstatus und ohne religiösen Schutz. In der Umgangssprache (wenn auch nicht im Uloženie) wurden sie mit dem Begriff iasyry benannt, der aus dem Türkischen stammt; im Uloženie heißen sie polonianiki (Gefangene). So wurden Nichtchristen genannt, die in den Kämpfen und Raubzügen an den südlichen und östlichen Grenzen gefangen genommen worden waren, in den Steppen, in Persien, im Osmanischen Reich bzw. in Gebieten, die vor der russischen Kontrolle unter osmanischer Oberherrschaft standen, oder in Sibirien. Iasyry wurden sie so lange genannt, wie sie nicht getauft waren. Im Moskowien des 17. Jahrhunderts gab es also einen Handel mit nicht-orthodoxen Gefangenen, finnischen Razziensklaven und Menschen, die sich selbst verkauften, der umfangreich und wichtig genug war, um im Reichsgesetz geregelt zu werden.

Kapitel 20, Abschnitt 117 des Uloženie lässt zumindest vermuten, woher diese Versklavten kamen. Das Kapitel erinnert an ein Dekret von Zar Michail, dem Vater des regierenden Zaren Alexej, demzufolge es im Reich (tsarstva) bzw. in den ehemaligen Khanaten Sibirien und Astrachan »verboten ist, einen Tataren oder Leute ihrer Art zu kaufen oder als Geschenk anzunehmen und zu taufen, seien es Männer oder Frauen, und sie in Rus ›mit niemandem‹ zu senden«87. In Sibirien lautete die Regel, dass Gefangene, sowohl männliche als auch weibliche (iasyrki), an ihre Leute zurückgeschickt werden mussten. Es war allerdings sehr schwierig für die wenigen Beamten, diese Regel gegen Händler und Kosaken durchzusetzen, die Arbeitskräfte oder Frauen brauchten oder wenigstens jemanden, der das Feuer unterhielt, die Hausarbeit und das Essen machte. Deshalb wurde die Ausnahme von der Regel – dass getaufte Gefangene nicht zurückgeschickt werden konnten – recht häufig als Vorwand benutzt, um die Gefangenen zu taufen. Die Kirche fragte nicht allzu scharf nach, ob die Taufe, wie vorgeschrieben, freiwillig vollzogen worden war. Auch sollte die Taufe sicherstellen, dass sexuellen Beziehungen und Reproduktion eine christliche Form gegeben würde, vor allem was den Nachwuchs betraf. Einmal getauft wurden diese iasyrki orthodox-russische Ehefrauen und nahmen den Status ihrer Männer an.88

Sehr deutlich wird der Unterschied zwischen den Begriffen institutioneller Rechtssprachen (wie im Uloženie u. a.) und realem Sklavendasein bei der Zwangsintegration von Sklaven anderer Territorien, Religions- und Rechtskulturen in imperiale Gesellschaften mit unterschiedlichen Rechtsregeln. Andere Religions- und Rechtskulturen bedeuten auch andere Wertsysteme. Weit überwiegend wurde nicht von »Sklaven« gesprochen, aber die Vererbung des unfreien Status von der Mutter aufs Kind belegt jenseits der Begriffe die reale Sklaverei. Ehud Toledano beschreibt, wie mit der Expansion der christlichen Habsburger und Russen gegen Ende des 18. Jahrhunderts das osteuropäische Reservoir an Kriegsgefangenen für die Versklavung in der osmanischen Landwirtschaft und in Haushalten austrocknete. Die Nachfrage der osmanischen Eliten nach Sklaven wurde mehr und mehr aus dem subsaharischen und östlichen Afrika sowie aus dem Kaukasus gedeckt, wo marodierende Sklavenjäger etwa junge Frauen an die Händler verkauften, die sie ins Reich verschleppten. Besonders aus dem Kaukasus und vom Balkan kamen Elitesklaven für die Harems und das osmanische Heer, in dem jüngere männliche Sklaven sogar Karriere machen konnten. Bestes Beispiel für solche und ähnliche Militärsklaven sind die berühmten Mamluken, die von Militärsklaven zu territorialen Herrscherdynastien unter dem Sultanat in Ägypten und Indien (der sogenannten »Sklavendynastie« im Sultanat von Delhi) aufstiegen. Die ländliche Sklaverei stand unter viel härteren Bedingungen; in den Grenzgebieten zum Zarenreich glichen sich die Sklavereiregimes, in deren Zentrum Raubzugssklaverei und Kindersklaverei standen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in zwei Territorien des Osmanischen Reichs zu einem Wiederaufschwung ländlicher und landwirtschaftlicher Sklaverei: In Ägypten, dem (formalen) Vizekönigreich unter Muhammad Ali und seinem Nachfolger, wurden vor allem sudanesische Arbeiter für die während des US-amerikanischen Bürgerkriegs boomenden Baumwollplantagen versklavt. In Anatolien, dem östlichen Balkan und der Levante siedelte das osmanische Reich derweil Sklavenbauern in umkämpften Grenzgebieten an, die in den Kriegen des niedergehenden Reiches einen Großteil der Flüchtlinge und Kriegsopfer ausmachten.89

In der speziell west- und mitteleuropäischen Tradition des Feudalismus ist sicherlich ein kurzer Abschnitt zu Sklavereien in West- und Mitteleuropa nach 1000 angebracht. Aus globalhistorischer Sicht und im Hinblick auf Sklavereipraktiken (Gewalt, Statusminderungen und exzessive Arbeit, aber auch Essen und Behausung) ist die Frage »Sklaven oder Leibeigene« bzw. »Leibeigene sind Versklavte – nur in Europa« seit Längerem debattiert worden.90 Zunächst möchte ich die gängige Darstellung der »Nichtexistenz« von Sklaverei nach etwa 1100 aufgreifen. In Europa sind mit dieser Behauptung die europäischen Formen von Sklaverei durch den im Wesentlichen auf Marc Bloch zurückgehenden Distinktionsanspruch des spezifisch westeuropäischen »Feudalismus« aus der Geschichte seit dem 10./11. Jahrhundert wegdefiniert worden.91 Vorher habe es alle Formen von Sklavereien des ersten und zweiten Plateaus gegeben. Seit Neuestem wird argumentiert, dass solche Formen auch nach 1000 erhalten blieben. Ich will einige Formen vorstellen, die in den Kreis der Debatten um globale Sklaverei gehören. Militärische Gefolgschaft etwa stellte eine »kultisch gefestigte Unfreiheit« dar, deren waffenfähige Angehörige, meist junge oder sehr kriegserfahrene Männer, auf Kelto-Romanisch als ambactus oder vassus (Vorformen der Begriffe Amt und Vasall) bezeichnet wurden. Sie praktizierten die kultische Devotion (Weihe) von Kriegsgenossen gegenüber einem Anführer (dux, rex oder rich, auch als »Richter«), einem Gott oder einer Gruppe.92

Im Altsächsischen hießen Unfreie liten; im Althochdeutschen hieß ein »unfreier Knecht«, der auch Sklave war, skalk (Schalk, von Gotisch skalks). Man denke an den Aufstieg der Worte Seneschall oder Marschall (Letzteres wörtlich »Pferdesklave«), die am Beginn der Wortgeschichte oft Trosssklaven bezeichneten. Bei Ministerialen im Reich wird meist auf eine »unfreie Herkunft« verwiesen, obwohl in der Mittelalterforschung (mit Ausnahmen – etwa bei Forschern zum östlichen Mitteleuropa) der Begriff »Sklave« und die Institution »Sklaverei« wegen ihres engen Zusammenhangs zum »römischen« Recht fast immer vermieden werden.93 Es gab unfreie Edle (Elite- und Militärsklaverei), wie die adalschalks im Bayern des 8. Jahrhunderts oder Ministeriale (marhskalk) in Altsachsen im 9. bis 11. Jahrhundert; eine Variante findet sich mit berittenen Unfreien im westlichen England der gleichen Zeit (radcnights, geneats).

 

Bezüglich globaler Sklavereien, raumzeitlich im zweiten Plateau, wies das periphere Europa nördlich der Alpen und westlich des Urals zwischen 1000 und 1500 (in Osteuropa bis um 1860) Bauerngesellschaften mit regionalen, rechtlich definierten Sklavenpopulationen (wie die der tigani und Roma in Moldau sowie in der Walachei)94, aber auch informelle Sklaven ›ohne Sklaverei‹, vielfältigste Kriegs- und Raubzugsgrenzen und große Populationen unfreier Bauern (serfs, Leibeigene, Hörige) auf. Der Begriff serf ist eine französische Weiterentwicklung des lateinischen servus (Sklave). Meist heißt es, dass unter dem Einfluss von Christentum und Kirche Sklaverei in Westeuropa um 1000 durch serfdom ersetzt worden sei. Keiner kann allerdings sagen, wie. Das Rechtsbuch Sachsenspiegel des Eike von Repkow (um 1220–1235) wird oft als Beweis für »Freiheit« im Sinne von mehr Freiheiten für abhängige Bauern in Mitteleuropa und im Reich als Teil der westelbischen Gebiete herangezogen, oft verweist man auf Teil 2 des Sachsenspiegels über das Landrecht.95

Was sagt Eike von Repkow? Ich ziehe seine Aussagen als Beweis für meine These heran, dass es sich bei den im Sachsenspiegel erwähnten »Unfreiheiten« um mitteleuropäische Versionen globalhistorischer Sklavereien handelt und die Zeitgenossen noch nicht klar zwischen Sklaverei und Leibeigenschaft unterschieden haben. In § 1 betreibt der Autor christliche Sollensphilosophie: Alle Menschen sind vor Gott gleich. Das war als allgemeiner Grundsatz, etwa in allen iberischen Imperien, die bis Ende des 19. Jahrhunderts gleichwohl offene Sklavereien als Plantagen- und Massensklaverei erlaubten, gültig. In § 2 kommt Eike von Repkow gleich zu einer Sklavereiform, der der »Dienstmannen« (»dienstlüde«: Ministeriale; Elitesklaven, Amtsexekutoren), deren es sehr viele mit zahlreichen unterschiedlichen Rechtsstatus gebe. Dann wird es wirklich spannend. Eike von Repkow behandelt in § 3–6 den »Ursprung der Unfreiheit«. Er beginnt mit einer Geschichtskonstruktion, die die Sollensphilosophie mit der historischen Zeit der Sachsen (»unse vorderen«) verbindet, in der Eike von Repkow sich auch selbst verortet (er war möglicherweise ein »Dienstmann«). Früher seien alle Sachsen frei gewesen:

»ne was nen dienstman unde waren al die lude vri, do unse vorderen her to lande quamen. An minen sinnen ne kan ik is nicht upgenemen na der warheit, dat ieman des anderen sole sin; ok ne hebbe wie’s nen orkünde«96

Vor allem dieses »dat ieman des anderen sole sin« ist ein regelrechter Bannersatz der »Freiheit«. Eike von Repkow lässt dann die Bibelgeschichten der »Unfreiheit« Revue passieren: »dat sik egenscap irhüve«97 [»dass Eigenschaft sich beginne«; im Sinne von »wann beginnt Eigenschaft/Sklaverei?« – M. Z.] – und zählt im Folgenden die Möglichkeiten von Kain über Noahs Söhne (mit einer schon recht ausgeprägten Geschichte des Ham) auf.

Eike von Repkow benutzt das Wort egenscap (oder êgenscap = Eigenschaft). Dieses Wort wird heute fast immer und überall als »Hörigkeit« oder »Leibeigenschaft« übersetzt (eher selten als »Unfreiheit« oder gar »Sklaverei«).98 Was Eike von Repkow aber wirklich beschreibt, ist das Eigentum an Menschen, d. h., Sklavereiformen des ersten und zweiten Plateaus (u. a. die »Zeitsklaverei« im historischen Israel und Juda). Dann kommt wieder Sollensphilosophie, die aber nicht in Dogmatik mündet, sondern sehr zeit- und geschichtsbezogen im § 6 mit der Darstellung von Eigenschaft (Unfreiheit/Sklaverei)99 als legalisierter Zwang endet:

»Na rechter warheit so hevet egenscap begin von gedvange unde von vengnisse unde von unrechter walt, die man von aldere in unrechte wonheit getogen hevet, unde nu vore recht hebben wel«.100

[»Nach rechter Wahrheit hat Eigenschaft Beginn vom Zwange und von Gefängnis und von unrechter Gewalt, die man von alters her zu unrechter Gewohnheit gebracht hat und für Recht ausgeben will«.101]

Alice Rio verweist auf das Paradox, dass es auch nach 1000 oder 1100 noch eine geheimnisvolle »Aufgabe von Freiheit« in Europa gab, und bestätigt damit im Grunde Eike von Repkows Sachsenspiegel von 1220–1235:

»Oberflächlich betrachtet kann das kurios im Widerspruch stehen zu der Sichtweise, dass sich Sklaverei in dieser Zeit im Niedergang befand, aber die Selbstverkäufe in der mittelalterlichen Welt werden seltener mit der Sklaverei verbunden als mit der Leibeigenschaft. Die fortdauernde Verwendung der gleichen lateinischen Worte, die sich auf völlig unfreie Menschen während dieser Periode beziehen, bedeutet, dass die Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen der Unfreiheit gänzlich der Interpretation überlassen bleibt und dass viele verschiedene Chronologien für den Übergang von einem [Sklaverei] zum anderen [Leibeigenschaft/serfdom] vorgeschlagen worden sind. Marc Bloch, dessen Denken für alle Diskussionen der frühmittelalterlichen Knechtschaft grundlegend bleibt, vermutete diesen Übergang [von der Sklaverei zum serfdom – M. Z.] im neunten Jahrhundert; die Denkschule, die als ›feudaler Mutationismus‹ bezeichnet wird, zum Teil von Blochs Werk beeinflusst und [oft] mit Georges Duby assoziiert, setzt die Zäsur um das Jahr 1000. Damit hätten sich im 11. Jahrhundert die Selbstverkäufer in die Leibeigenschaft verkauft und die im früheren Mittelalter eingetretenen Selbstverkäufe hätten mit tatsächlicher Sklaverei zu tun«.102

Serfdom mit ihren Varianten gilt einigen Autoren, mich eingeschlossen, in globalhistorischer Perspektive als europäische Form der kollektiven Sklaverei.103 Der globalhistorische Ansatz hebt eurozentristische Distinktionen auf – ohne reale Unterschiede völlig zu verwischen. Der Vorteil der Leibeigenschaft für Leibeigene und ihre Eigner, meist Großgrundbesitzer, lag darin, dass Leibeigene durch ihre Arbeit für ihren eigenen Unterhalt sowie den ihrer Familien sorgten – bei Hungersnöten aber verhungerten sie. Freiheit im Sinne von mehr Freiheiten vor allem für die Nachkommen von geflohenen Leibeigenen existierte seit etwa dem 12. Jahrhundert in Städten und ansonsten in den Rodefreiheiten vor allem im 11. bis 13. Jahrhundert. Und die Grundherrschaft, die zweifellos mehr Mobilität für einzelne Bauern einschloss als Eigenwirtschaften mächtiger Herren (wie Villawirtschaft, Gutsherrschaft oder Plantage), sollte uns nicht daran hindern, hinsichtlich des zweiten Plateaus nach kollektiven Sklavereiformen sowie nach Haussklaverei, nach Kindersklaverei oder nach Versklavung von Fremden (aus bzw. in den Ostexpansionsgebieten, aus dem Mittelmeergebiet usw.) zu suchen.

Grob dauerten Serfdom/Leibeigenschaft (in England villainage) in Frankreich und Spanien bis ins 14. und 15. Jahrhundert, in England bis ins frühe 16. Jahrhundert.104 In skandinavischen Gebieten gab es kaum Serfdom (aber direkte Sklavereien bis mindestens 1335), außer in Dänemark, wo speziellere Formen der Leibeigenschaft erst im 18. Jahrhundert entstanden, und in Island, wo Letztere vom 11. bis 19. Jahrhundert existierte.105 In Osteuropa verschlechterte sich die Lage von Bauern in der Neuzeit, rechtlich abgesichert durch die Landtage in Polen und in russischen Gebieten durch das Uloženie. Nur in Polen wurde die These des Adels, dass alle Bauern eigentlich servi (Sklaven) seien, zur allgemeinen Rechtvermutung.106 Oftmals zeichneten sich Unfreiheitsverhältnisse, für die einige Kriterien der Sklavereidefinition durchaus zutreffen (mit der klaren Ausnahme, dass sie zeitlich meist begrenzt waren), gerade in der Neuzeit Europas durch schwammige oder völlig fehlende Rechtsgrundlagen aus. Ein Beispiel ist der Fall lediger Bauernkinder im frühneuzeitlichen Bayern, auf deren Arbeitskraft in Gestalt der »Scharwerk« genannten servitut (Fronen) drei »Gewalten« (Eltern, Ortsobrigkeit und Landesfürst) Anspruch hatten. Dabei setzten sich der Staat und die regionale Gewalt als Arbeitstributsbeschaffer fast immer durch, zumal sie durch Arbeitsstrafen (Galeeren, Zuchthaus, Festungsbau) realgeschichtlich die Unterschiede zwischen »Freiheit« und »Unfreiheit« verwischten.107 Leserinnen und Leser mögen mit mir raten, was aus dieser servitut in einem nicht durch Aufklärung und Französische Revolution geprägten historischen Umfeld geworden wäre.

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