Читать книгу: «Gewandelt », страница 7
Endlich befanden sie sich wieder oberirdisch in den Straßen von New York City. Doch sie hatte keine Ahnung, wo sie waren.
»Halte dich gut fest«, forderte er sie auf, und sie verstärkte den Griff um seine Brust. Während er lief und lief, erreichte er eine Geschwindigkeit, die sie noch nie erlebt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie einmal vor Jahren auf einem Motorrad mitgefahren war und der Wind ihr bei fast achtzig Stundenkilometern durch die Haare peitschte. Genau so fühlte es sich auch jetzt an. Nur dass sie noch schneller waren.
Inzwischen mussten sie etwa hundertzwanzig Stundenkilometer erreicht haben, dann hundertsechzig, hundertneunzig … Es ging immer weiter. Die Gebäude, die Menschen, die Autos – alles verschwamm in einem Nebel. Und dann hoben sie plötzlich ab.
Sie flogen durch die Luft. Dazu öffnete er seine großen schwarzen Schwingen, die neben ihr langsam auf und ab schlugen. Sie flogen über die Autos und die Menschen hinweg. Als sie hinunterschaute, sah sie, dass sie gerade die 14. Straße überflogen. Und nur wenige Sekunden später die 34. Dann befanden sie sich über dem Central Park. Es raubte ihr den Atem.
Er warf einen prüfenden Blick über die Schulter, und sie folgte seinem Beispiel. Doch sie konnte kaum etwas sehen, weil ihr der Wind in die Augen peitschte. Dennoch erkannte sie, dass ihnen niemand folgte.
Schließlich wurde er ein wenig langsamer und verringerte ihre Flughöhe. Nun flogen sie direkt über den Baumwipfeln. Es war wunderschön. So hatte sie den Central Park noch nie erlebt. Die Wege waren erleuchtet, und die Baumkronen befanden sich direkt unter ihnen. Sie hätte die Hände ausstrecken und sie berühren können. So wunderschön würde ihr der Park bestimmt nie wieder vorkommen.
Sie verstärkte den Griff um seine Brust und spürte seine Wärme. Ein Gefühl von Sicherheit machte sich in ihr breit. Wie unwirklich das alles auch sein mochte, in seinen Armen fühlte es sich wieder normal an. Am liebsten wäre sie ewig so weitergeflogen. Sie schloss die Augen, spürte die kühle Brise über ihr Gesicht streichen und betete, dass diese Nacht nie enden würde.
11. Kapitel
Caitlin spürte, wie sie immer langsamer wurden und weiter an Höhe verloren. Sie öffnete die Augen. Keines der Gebäude unter ihnen kam ihr bekannt vor. Offensichtlich waren sie in einem Vorort, womöglich irgendwo in der Bronx.
Sie flogen über einen kleinen Park, und in der Ferne glaubte sie ein Kloster zu erkennen. Als sie näherkamen, sah sie, dass es sich tatsächlich um ein Kloster handelte. Was hatte denn ein Kloster in New York City zu suchen?
Angestrengt zerbrach sie sich den Kopf. Auf einmal fiel ihr ein, dass sie dieses festungsähnliche Gebäude schon einmal gesehen hatte. Irgendwo auf einer Ansichtskarte … Ja. Es war ein Museum. Als sie einen kleinen Hügel hinaufflogen, sah sie die Befestigungsmauern und die mittelalterlich anmutenden Kreuzgänge. Plötzlich wusste sie wieder, worum es sich handelte: The Cloisters. Das kleine Museum, das zum Metropolitan Museum of Art in New York City gehörte. Die Fragmente waren in Europa zusammengetragen und Stück für Stück in die USA gebracht worden. Es war viele Hundert Jahre alt. Warum brachte er sie hierher?
Sie überflogen die äußeren Mauern und landeten sanft auf einer großen Steinterrasse, von der aus man den Hudson River sehen konnte. Es war dunkel, trotzdem landete er mit beiden Füßen elegant auf dem Steinboden. Vorsichtig ließ er sie herunter.
Als sie ihm gegenüberstand, betrachtete sie ihn genau. Sie hoffte, dass er sich nicht als Traumfigur entpuppen und gleich wegfliegen würde. Und sie hoffte, dass er wirklich so fantastisch aussah, wie sie ihn in Erinnerung hatte.
Das tat er. Womöglich sogar noch besser. Er blickte mit seinen großen braunen Augen auf sie hinunter, und in dem Moment war sie verloren.
Es gab so viele Fragen, die sie ihm gerne stellen wollte, dass sie überhaupt nicht wusste, womit sie beginnen sollte. Wer war er? Warum konnte er fliegen? War er ein Vampir? Warum hatte er für sie sein Leben riskiert? Warum hatte er sie hierher gebracht? Und was am wichtigsten war: War all das, was sie gerade erlebt hatte, nur eine wilde Halluzination gewesen? Oder gab es tatsächlich Vampire, und das mitten in New York City? War sie auch einer?
Sie öffnete den Mund, um zu beginnen, aber alles, was sie herausbrachte, war: »Warum sind wir hier?«
Ihr war sofort klar, wie dumm die Frage war, und sie hasste sich dafür, nichts Wichtigeres gefragt zu haben. Doch als sie dort so in der kalten Märznacht stand, das Gesicht ein wenig taub vor Kälte, brachte sie einfach nicht mehr zustande.
Er starrte sie an. Sein Blick schien ihre Seele zu durchbohren, als könnte er in sie hineinsehen. Es sah aus, als überlegte er, wie viel er ihr anvertrauen sollte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete er schließlich den Mund und wollte etwas sagen.
Doch da rief jemand: »Caleb!«, und sie drehten sich beide um.
Eine Gruppe von Männern – waren es Vampire? – in schwarzer Kleidung marschierte direkt auf sie zu. Caleb wandte sich ihnen zu. Caleb. Der Name gefällt mir.
»Wir haben keine Freigabe für deine Ankunft«, erklärte der Mann in der Mitte äußerst ernst.
»Ich komme unangekündigt«, entgegnete Caleb geradeheraus.
»Dann müssen wir dich in Gewahrsam nehmen«, erwiderte der Mann und nickte seinen Männern zu, die Caleb und Caitlin langsam einkreisten. »So sind die Regeln.«
Caleb nickte unbeeindruckt. Der Mann in der Mitte sah Caitlin direkt an. Sie entdeckte Missbilligung in seinen Augen.
»Du weißt, dass wir sie nicht reinlassen können«, erinnerte er Caleb.
»Doch, das werdet ihr«, bestimmte Caleb. Fest erwiderte er den Blick des Mannes. Hier wurde offensichtlich ein Machtkampf ausgetragen.
Caitlin merkte, dass der Mann unsicher war, was er tun sollte. Es folgte ein langes, angespanntes Schweigen.
»Na schön«, meinte er schließlich, drehte sich abrupt um und ging voraus. »Das ist deine Sache.«
Caleb folgte ihm mit Caitlin an seiner Seite.
Der Mann öffnete eine riesige, mittelalterliche Tür, indem er an dem runden Türöffner aus Messing zog. Dann trat er zur Seite und bedeutete Caleb, einzutreten. Drinnen standen zwei schwarz gekleidete Männer direkt links und rechts neben der Tür.
Caleb nahm Caitlin an der Hand und führte sie hinein. Als sie durch den steinernen Torbogen trat, hatte sie das Gefühl, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein.
»Ich nehme an, wir müssen keinen Eintritt zahlen«, sagte Caitlin zu Caleb und lächelte.
Er sah sie an und blinzelte mit den Augen. Offensichtlich brauchte er einen Moment, um zu begreifen, dass sie einen Scherz gemacht hatte. Doch dann erwiderte er ihr Lächeln.
Er hatte ein wunderschönes Lächeln.
Plötzlich musste sie an Jonah denken und war verwirrt. Es sah ihr nicht ähnlich, starke Gefühle für einen Jungen zu entwickeln – und schon gar nicht für zwei am selben Tag. Sie mochte Jonah immer noch. Aber Caleb war anders. Jonah war ein Junge, aber Caleb war – obwohl er jung aussah – ein Mann. Oder war er … etwas anderes? Er hatte etwas an sich, was sie sich nicht erklären konnte, und sie war nicht in der Lage, den Blick von ihm zu wenden. Es war etwas, was in ihr den Wunsch weckte, ihm nicht mehr von der Seite zu weichen. Sie mochte Jonah sehr. Aber sie brauchte Caleb. In seiner Nähe zu sein, füllte sie vollständig aus.
Calebs Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Er war eindeutig beunruhigt.
»Ich fürchte, unser Eintrittspreis wird viel höher sein«, sagte er, »falls dieses Treffen nicht so läuft, wie ich es mir erhoffe.«
Er führte sie durch einen weiteren Torbogen in einen kleinen mittelalterlichen Innenhof. Der Hof war vollkommen symmetrisch und an allen vier Seiten von Säulen und Bogengewölben umgeben. Im Mondschein sah er wunderschön aus. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich immer noch in New York City befanden. Genauso gut hätten sie irgendwo in Europa auf dem Land sein können.
Sie überquerten den Hof und gingen einen langen Gang entlang. Das Geräusch ihrer Schritte wurde von den Steinwänden zurückgeworfen. Mehrere Männer begleiteten sie. Ob es wohl Vampire waren? Und falls ja, warum waren sie so zivilisiert? Warum griffen sie weder Caleb noch sie an?
Sie bogen in einen weiteren Gang ein und traten durch eine weitere mittelalterliche Tür. Dann wurden sie plötzlich aufgehalten.
Vor ihnen stand ein Mann – ebenfalls schwarz gekleidet –, der Caleb verblüffend ähnlich sah. Er trug einen voluminösen roten Umhang um die Schultern und war in Begleitung einer Gruppe von Männern. Offensichtlich hatte er eine verantwortliche Position.
»Caleb«, sagte er leise. Er klang betroffen.
Caleb sah ihn mit ruhigem Blick an.
»Samuel«, erwiderte Caleb.
Der Mann schüttelte ganz leicht den Kopf.
»Keine Umarmung für deinen verlorenen Bruder?«, fragte Caleb.
»Du weißt, dass die Lage sehr ernst ist«, entgegnete Samuel. »Du hast mehrere Gesetze gebrochen, indem du heute Nacht hierher gekommen bist. Insbesondere, indem du sie mitgebracht hast.«
Er machte sich nicht einmal die Mühe, Caitlin eines Blickes zu würdigen. Sie war beleidigt.
»Aber ich hatte keine andere Wahl«, verteidigte sich Caleb. »Der Tag ist gekommen. Es herrscht Krieg.«
Unter den Vampiren, die hinter Samuel standen, brach unterdrücktes Gemurmel aus, ebenso in der wachsenden Gruppe hinter Caleb und Caitlin. Sie drehte sich um und stellte fest, dass sie inzwischen von mehr als einem Dutzend Vampiren umgeben war. Allmählich bekam sie Platzangst. Sie waren absolut in der Unterzahl, und es gab keinen Ausweg. Zwar hatte sie keine Ahnung, was Caleb getan hatte, aber was auch immer es war – sie hoffte, dass es ihm gelingen würde, sich herauszureden.
Samuel hob die Hände, und das Gemurmel erstarb.
»Was noch wichtiger ist«, fuhr Caleb fort, »ist diese Frau hier.« Er nickte in Caitlins Richtung. »Sie ist es.«
Frau. Caitlin war noch nie als Frau bezeichnet worden. Das gefiel ihr. Aber sie verstand nicht, was er meinte. Sie ist es? Er hatte den Satz so komisch betont, beinahe, als würde er vom Messias reden. Langsam fragte sie sich, ob sie alle verrückt waren.
Wieder ging ein Raunen durch die Menge, und alle Köpfe wandten sich ihr zu, alle starrten sie an.
»Ich muss den Rat sehen«, verlangte Caleb. »Und ich muss sie mitnehmen.«
Samuel schüttelte den Kopf.
»Du weißt, dass ich dich nicht davon abhalten kann. Ich kann dir bloß einen Rat geben. Und ich rate dir, sofort zu gehen, auf deinen Posten zurückzukehren und zu warten, bis der Rat dich rufen lässt.«
Starr erwiderte Caleb seinen Blick. »Ich fürchte, das ist nicht möglich.«
»Du hast schon immer getan, was du wolltest«, stellte Samuel fest.
Er trat zur Seite und bedeutete Caleb mit der Hand, dass er passieren konnte.
»Deine Frau wird nicht erfreut sein«, kommentierte Samuel.
Frau?, dachte Caitlin, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Warum war sie plötzlich so wahnsinnig eifersüchtig? Wie konnte es bloß sein, dass sie in so kurzer Zeit so starke Gefühle für Caleb entwickelt hatte? Welches Recht hatte sie, so besitzergreifend zu sein?
Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Es machte ihr tatsächlich etwas aus. Zwar ergab das nicht den geringsten Sinn, aber es machte ihr sogar sehr viel aus. Warum hat er mir nicht erzählt …
»Nenn sie nicht so«, entgegnete Caleb. Seine Wangen waren ebenfalls feuerrot. »Du weißt, dass …«
»Du weißt was?!«, schrie eine weibliche Stimme.
Alle drehten sich um, als eine Frau den Gang entlang auf sie zukam. Sie war ebenfalls von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und hatte lange, wallende rote Haare, die sich über ihre Schultern ergossen, und riesige, funkelnde grüne Augen. Sie war groß, alterslos und auffallend schön.
In ihrer Gegenwart fühlte Caitlin sich klein und unbedeutend, als wäre sie gerade geschrumpft. Das war eine Frau. Oder war sie … ein Vampir? Was auch immer sie sein mochte, sie war eine Kreatur, mit der Caitlin sich niemals würde messen können. Sie war ernüchtert und sofort bereit, ihr Caleb kampflos zu überlassen.
»Du weißt was!?«, wiederholte die Frau und starrte Caleb wütend an, wobei sie dicht an ihn herantrat. Sie warf Caitlin einen kurzen Blick zu und verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. Noch nie hatte jemand Caitlin derart hasserfüllt angesehen.
»Sera«, begann Caleb sanft, »wir sind seit siebenhundert Jahren nicht mehr verheiratet.«
»Vielleicht deiner Ansicht nach«, fauchte sie.
Langsam umkreiste sie sie beide. Dabei musterte sie Caitlin von Kopf bis Fuß, als wäre sie ein hässliches Insekt.
»Wie kannst du es wagen, sie hierher zu bringen!«, knurrte sie. »Also wirklich, das hättest du eigentlich besser wissen müssen.«
»Sie ist es. Die, auf die wir gewartet haben. Die Auserwählte«, erklärte Caleb entschieden.
Anders als die anderen wirkte diese Frau nicht überrascht. Stattdessen lachte sie nur spöttisch.
»Das ist ja lächerlich«, entgegnete sie. »Du hast Krieg über uns gebracht, und das für einen Menschen. Bloß weil du ein bisschen verliebt bist«, fügte sie mit wachsender Verärgerung hinzu. Mit jedem Satz schien sie mehr Unterstützung von der Menge hinter sich zu bekommen, deren Zorn langsam wuchs. Allmählich wurden die Vampire zu einem wütenden Mob.
»Eigentlich«, fuhr Sera fort, »haben wir das Recht, sie zu zerfleischen.«
Die Zuschauer hinter ihr begannen zustimmend zu murmeln.
Wut blitzte in Calebs Gesicht auf.
»Dann müsstest du zuerst mich erledigen«, erwiderte er und hielt ihrem Blick stand.
Caitlin wurde es warm ums Herz. Schon wieder setzte er für sie sein Leben aufs Spiel. Vielleicht bedeutete sie ihm doch etwas.
Samuel trat zwischen die beiden und streckte die Hände aus. Die Menge beruhigte sich wieder.
»Caleb hat um eine Audienz vor dem Rat gebeten«, erklärte er. »Das ist das Mindeste, was wir ihm schuldig sind. Lasst ihn seinen Fall darlegen. Lasst den Rat entscheiden.«
»Warum sollten wir?«, fauchte Sera.
»Weil ich es gesagt habe«, antwortete Samuel mit eiserner Entschlossenheit. »Und hier erteile immer noch ich die Befehle, Sera, nicht du.« Samuel warf ihr einen langen, strengen Blick zu. Schließlich zog sie sich zurück.
Samuel trat zur Seite und zeigte auf die Steintreppe.
Caleb nahm wieder Caitlins Hand und führte sie die breiten Steinstufen hinunter, die irgendwo in der Dunkelheit verschwanden.
Hinter ihnen hallte höhnisches Gelächter.
»Und tschüss!«
12. Kapitel
Ihre Schritte hallten auf den Steinstufen, und es ging immer weiter abwärts. Die Beleuchtung war schwach. Caitlin hakte sich bei Caleb unter und hoffte, dass er sie nicht abwimmeln würde. Doch er hielt sie fest und verstärkte seinen Griff sogar. Wieder fühlte sich alles irgendwie gut an. Sie konnte sogar in die Tiefen der Dunkelheit hinabsteigen, solange sie nur zusammen waren.
Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Was war das für ein Rat? Warum hatte er darauf bestanden, sie mitzunehmen? Und warum wollte sie unbedingt an seiner Seite bleiben? Sie hätte doch dort oben einfach protestieren und ihm sagen können, dass sie lieber oben warten würde. Aber sie wollte nicht oben warten; sie wollte bei ihm sein. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, woanders zu sein.
Nichts davon ergab einen Sinn. Statt Antworten zu bekommen, begegnete Caitlin auf Schritt und Tritt neuen Fragen. Wer waren all diese Leute dort oben? Waren sie wirklich Vampire? Und was machten sie hier, in The Cloisters?
Sie bogen um eine Ecke und betraten einen großen Raum, dessen Schönheit sie beeindruckte. Es war einfach unglaublich! Es kam ihr so vor, als würde sie tatsächlich in eine echte mittelalterliche Festungsanlage hinuntersteigen: hohe Decken und Räume, die aus mittelalterlichem Stein geschlagen worden waren. Rechts standen mehrere Sarkophage auf dem Boden. Ihre Deckel waren mit Schnitzereien verziert. Manche waren geöffnet. Schliefen sie etwa darin?
Caitlin versuchte sich an die Legenden über Vampire zu erinnern, die sie mal gehört hatte. Sie schliefen in Särgen, waren nachts munter, verfügten über übermenschliche Kräfte sowie eine übermenschliche Geschwindigkeit. Sonnenlicht bereitete ihnen Schmerzen. Offensichtlich passte das alles. Auch sie selbst hatte in der Sonne Schmerzen gehabt, aber es war nicht unerträglich gewesen. Und sie war immun gegenüber Weihwasser. Darüber hinaus wimmelte es an diesem Ort von Kreuzen, The Cloisters war voll davon. Doch augenscheinlich machte das diesen Vampiren nichts aus. Im Gegenteil, das hier schien ihr Zuhause zu sein.
Gerne hätte sie Caleb all diese Fragen gestellt, aber sie wusste nicht, mit welcher sie anfangen sollte. Schließlich entschied sie sich für den letzten Punkt.
»Die Kreuze«, begann sie und nickte in Richtung eines Kreuzes, an dem sie gerade vorbeikamen. »Stören sie euch nicht?«
Er sah sie verständnislos an. Offensichtlich war er ganz in seine Gedanken versunken gewesen.
»Fügen Kreuze Vampiren nicht Schmerzen zu?«, fragte sie.
Jetzt begriff er.
»Nicht allen Vampiren«, antwortete er. »Unsere Rasse ist sehr vielfältig, ganz wie die menschliche Rasse. Es gibt viele Arten innerhalb unserer Rasse, und auch viele Territorien – oder Clans. Das Ganze ist ziemlich komplex. Auf gute Vampire haben Kreuze jedenfalls keinen Einfluss.«
»Gute Vampire?«
»Ganz wie bei euch Menschen gibt es auch bei uns gute und böse Mächte. Wir sind nicht alle gleich.«
Dabei beließ er es. Wie üblich warfen seine Antworten nur noch mehr Fragen auf, doch sie schwieg. Schließlich wollte sie nicht zu neugierig erscheinen. Nicht jetzt.
Trotz der hohen Decken waren die Türen sehr klein. Die bogenförmigen Holztüren standen offen, und sie mussten den Kopf einziehen. Der nächste Raum war ebenfalls atemberaubend. Sie blickte zur Decke und sah überall buntes Glas. Rechts von ihr war eine Art Kanzel, und davor standen Dutzende kleiner Holzstühle. Es war schlicht, aber wunderschön. Es sah absolut so aus wie in einem mittelalterlichen Kloster.
Doch sie entdeckte weder ein Lebenszeichen, noch hörte sie eine Bewegung. Sie hörte gar nichts. Wo waren sie alle?
Sie erreichten den nächsten Raum, dessen Boden leicht abschüssig war, und sie schnappte nach Luft. Diese kleine Kammer war komplett mit Schätzen gefüllt. Da es ein Museum war, waren die Schätze alle in Glasvitrinen untergebracht. Direkt vor ihren Augen befanden sich unter hellen Halogenstrahlern sehr alte unvergleichliche Schätze im Wert von Hunderten von Millionen Dollar. Goldene Kreuze. Große Silberpokale. Manuskripte aus dem Mittelalter …
Staunend folgte sie Caleb durch den Raum, bis er vor einer hohen, schmalen Glasvitrine stehen blieb. Darin lag ein langer, prachtvoller Elfenbeinstab. Er betrachtete ihn eingehend.
Mehrere Sekunden lang harrte er schweigend davor aus.
»Was ist das?«, fragte sie schließlich.
Zuerst antwortete er nicht, doch schließlich erwiderte er: »Ein alter Freund.«
Das war alles, mehr sagte er nicht. Sie fragte sich, was er wohl mit diesem Gegenstand zu tun hatte und welche Macht er besaß. Dann las sie, was auf der Tafel stand: „Anfang 14. Jahrhundert“.
»Das ist ein Bischofsstab. Er ist sowohl eine Rute als auch ein Stab – eine Rute zur Bestrafung und ein Stab zur Führung treuer Anhänger –, das Symbol unserer Kirche. Er hat die Macht zu segnen oder zu verfluchen. Er ist das, was wir bewachen. Er ist das, was uns beschützt.«
Ihre Kirche? Was sie bewachen?
Doch bevor sie weiterfragen konnte, nahm er sie an der Hand und führte sie durch die nächste Tür.
Sie stießen auf ein Absperrseil aus Samt. Er hakte es los und zog es zur Seite, damit sie durchgehen konnte. Dann folgte er ihr, hakte das Seil wieder ein und ging voraus zu einer kleinen Wendeltreppe aus Holz. Sie führte abwärts, und es sah aus, als würde sie im Fußboden enden. Verwirrt betrachtete sie die Treppe.
Caleb kniete sich hin und öffnete einen im Boden verborgenen Riegel. Eine Bodenklappe öffnete sich, und sie konnte jetzt sehen, dass die Treppe weiter in die Tiefe führte.
Caleb sah ihr in die Augen. »Bist du bereit?«
Gerne hätte sie Nein gesagt, aber stattdessen nahm sie seine Hand.
Diese Treppe war schmal und steil und führte in tiefe Schwärze. Sie wand sich immer tiefer, bis Caitlin schließlich in der Ferne Licht sah und hörte, dass sich etwas bewegte. Als sie um die Ecke bogen, erreichten sie einen weiteren Raum.
Dieser Raum war groß und hell erleuchtet, überall steckten Fackeln. Alles sah genauso aus wie in den Räumlichkeiten im oberen Stockwerk; es gab hohe, mittelalterliche Steindecken, die nach oben gewölbt und reich verziert waren. An den Wänden hingen große Wandteppiche, und der Raum war mit mittelalterlichen Möbeln ausgestattet.
Außerdem war er voller Leute. Voller Vampire. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und verteilten sich zwanglos im Raum. Viele von ihnen saßen auf den verschiedensten Sitzgelegenheiten, manche unterhielten sich. In dem anderen Clan unter der City Hall waren das Böse und die Dunkelheit allgegenwärtig gewesen, und Caitlin hatte sich ständig bedroht gefühlt. Hier dagegen war sie seltsam gelassen.
Caleb führte sie mitten durch den Raum. Dabei wurde es immer ruhiger um sie herum. Alle Blicke waren auf sie beide gerichtet. Am anderen Ende näherte Caleb sich einem Vampir, der noch größer war als er und auch wesentlich breitere Schultern hatte. Ausdruckslos blickte der Mann auf Caleb herunter.
»Ich brauche eine Audienz«, sagte Caleb schlicht.
Der Vampir drehte sich langsam um, verließ den Saal und schloss die Tür.
Caleb und Caitlin warteten. Sie drehte sich um und ließ den Blick schweifen. Alle – Hunderte von Vampiren – sahen sie an. Aber niemand machte Anstalten, sich ihnen zu nähern.
Dann ging die Tür wieder auf, und der große Vampir gab ihnen ein Zeichen. Sie traten ein.
In dem kleinen Raum war es dunkler, nur schwach wurde er von zwei Fackeln an der anderen Seite erleuchtet. Außerdem war er fast leer, abgesehen von einem langen Tisch an einer Seite. Dahinter saßen sieben Vampire, die sie ernst ansahen. Sie wirkten wie ein Richtergremium.
Diese Vampire hatten etwas an sich, was sie deutlich älter wirken ließ. Ihr Gesichtsausdruck war strenger – definitiv ein Richtergremium.
»Der Rat tagt!«, rief der große Vampir, stieß seinen Stab auf den Boden und verließ schnell das Zimmer. Mit Nachdruck schloss er die Tür. Jetzt standen sie beide allein den sieben Vampiren gegenüber.
Unsicher hielt sich Caitlin neben Caleb und wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte.
Es folgte eine ungemütliche Stille, während die Richter sie musterten. Caitlin hatte das Gefühl, als würden sie ihr direkt in die Seele blicken.
»Caleb«, begann schließlich der Vampir in der Mitte des Gremiums mit rauer Stimme. »Du hast deinen Posten verlassen.«
»Das habe ich nicht, Sir«, antwortete Caleb. »Ich habe meinen Posten treu und brav zweihundert Jahre lang innegehabt. Doch heute Abend war ich gezwungen, aktiv zu werden.«
»Du hast nur aktiv zu werden, wenn wir es dir befehlen«, lautete die Antwort. »Du hast uns alle in Gefahr gebracht.«
»Es war meine Pflicht, vor einem bevorstehenden Krieg zu warnen«, erläuterte Caleb. »Und ich glaube, dass die Zeit gekommen ist.«
Die Mitglieder des Rates schnappten nach Luft. Danach folgte ein langes Schweigen.
»Und wieso denkst du das?«
»Sie haben sie mit Weihwasser übergossen, aber es hat ihre Haut nicht verbrannt. Unsere Lehre besagt, dass der Tag kommen wird, an dem die Auserwählte erscheint, und sie wird immun gegenüber unseren Waffen sein. Außerdem heißt es, dass sie der Vorbote des Krieges sein wird.«
Ein unterdrücktes Raunen breitete sich aus. Alle musterten Caitlin prüfend. Einige der Vampire begannen sogar, sich zu unterhalten, bis schließlich der Mann in der Mitte mit der Handfläche auf den Tisch schlug.
»Ruhe!«, rief er.
Allmählich erstarb das Gemurmel.
»So. Du hast uns also alle in Gefahr gebracht, um einen Menschen zu retten?«, fragte er.
»Ich habe sie gerettet, um uns zu retten«, entgegnete Caleb. »Wenn sie wirklich diejenige ist, auf die wir warten, dann sind wir nichts ohne sie.«
Caitlin schwirrte der Kopf. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Die Auserwählte? Lehre? Wovon redete er bloß? Sie fragte sich, ob er sie vielleicht verwechselt hatte und sie für jemanden hielt, der viel bedeutender war als sie.
Das Herz wurde ihr schwer. Nicht, weil der Rat sie so eindringlich musterte, sondern weil sie befürchtete, dass Caleb sie nur in seinem eigenen Interesse gerettet haben könnte. Sicher würde er herausfinden, dass sie nur ein ganz normales, durchschnittliches Mädchen war, unabhängig davon, was in den letzten Tagen passiert war. Und dann würde er sich von ihr abwenden. Wie alle anderen Typen in ihrem Leben zuvor auch.
Als wollte er ihre Gedanken bestätigen, schüttelte der Richter in der Mitte den Kopf und sah Caleb herablassend an.
»Du hast einen schweren Fehler begangen«, behauptete er. »Du siehst nicht, dass du es bist, der diesen Krieg angefangen hat. Dein plötzlicher Aufbruch hat sie auf unsere Anwesenheit aufmerksam gemacht. »Außerdem ist sie nicht diejenige, für die du sie hältst.«
Caleb versuchte es erneut: »Wie erklärt ihr es euch dann …«
Ein anderes Mitglied des Rates unterbrach ihn: »Vor vielen Jahrhunderten gab es einmal einen ähnlichen Fall. Damals war auch ein Vampir immun gegen Waffen, und die Leute haben geglaubt, er wäre der Auserwählte. Aber er war es nicht. Er war nur ein Halbblut.«
»Ein Halbblut?«, fragte Caleb. Plötzlich klang er unsicher.
»Ein Vampir von Geburt an«, erläuterte der andere, »einer, der nie verwandelt wurde. Sie sind immun gegenüber manchen Waffen, aber nicht gegenüber allen. Doch das macht sie noch lange nicht zu einem der Unseren. Es macht sie auch nicht unsterblich. Ich werde es dir zeigen.« Abrupt drehte er sich zu Caitlin um.
Sein durchdringender Blick machte sie nervös. »Erzähl mal, Kleine, wer hat dich verwandelt?«
Caitlin hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie wusste nicht einmal, was die Frage bedeuten sollte. Wieder einmal fragte sie sich vergebens, welche Antwort sie wohl am besten geben sollte. Sie zögerte, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre Antwort eine große Bedeutung haben würde – nicht nur für ihre eigene, sondern auch für Calebs Sicherheit. Um seinetwillen wollte sie die richtige Antwort geben, aber sie wusste einfach nicht, welche das war.
»Es tut mir leid«, gab sie schließlich zu, »aber ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich wurde nie verwandelt. Ich weiß nicht einmal, was das bedeutet.«
Ein anderes Ratsmitglied beugte sich vor. »Wer ist denn dein Vater?«, wollte er wissen.
Warum musste er sie ausgerechnet danach fragen? Es war die eine Frage, die sie sich ständig selbst gestellt hatte, ihr ganzes Leben lang. Wer war er? Warum hatte sie ihn nie kennengelernt? Warum hatte er sie verlassen? Die Antwort auf diese Frage war das, was sie sich mehr als alles andere im Leben wünschte. Und sie konnte sie definitiv nicht liefern.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie schließlich.
Der Vampir lehnte sich zurück, als hätte er einen Sieg errungen. »Siehst du?«, sagte er. »Halbblüter wurden nicht verwandelt. Und nie kennen sie ihre Eltern. Du hast dich geirrt, Caleb. Du hast einen großen Fehler gemacht.«
»Die Lehre besagt, dass der oder die Auserwählte ein Halbblut sein wird und dass er uns zu dem verlorenen Schwert führen wird«, widersprach Caleb herausfordernd.
»Die Lehre besagt, dass ein Halbblut den Messias bringen wird«, stellte das Mitglied des Gremiums richtig, »nicht sein wird.«
»Das ist Haarspalterei«, antwortete Caleb. »Ich sage euch, dass der Krieg begonnen hat und dass sie uns zu dem Schwert führen wird. Die Zeit vergeht. Wir müssen uns von ihr zu dem Schwert führen lassen. Es ist unsere einzige Hoffnung.«
»Das sind doch alles Ammenmärchen«, warf ein anderer Vampir ein. »Dieses Schwert, von dem ihr da redet, existiert gar nicht. Und sollte es doch existieren, wäre es bestimmt kein Halbblut, das uns zu ihm führen würde.«
»Wenn wir es nicht tun, dann werden es andere tun. Sie werden sie gefangen nehmen, das Schwert finden und es gegen uns verwenden.«
»Du hast einen schweren Regelverstoß begangen, indem du sie hierher gebracht hast«, wiederholte nun ein Vampir, der ganz außen saß.
»Aber ich …«, begann Caleb.
»ES REICHT!«, rief der Anführer.
Es wurde still.
»Caleb. Du hast vorsätzlich mehrere Gesetze unseres Clans gebrochen. Du hast deinen Posten verlassen. Du hast deine Mission nicht erfüllt. Du hast einen Krieg entfacht. Und du hast uns alle in Gefahr gebracht – wegen eines Menschen. Sie ist nicht einmal ein Mensch, sondern ein Halbblut, und du hast sie in unsere Mitte gebracht. Damit gefährdest du uns alle.
»Wir verurteilen dich zu fünfzig Jahren Gefangenschaft. Du wirst dieses Gelände nicht mehr verlassen. Und du wirst dieses Halbblut unverzüglich von hier fortschaffen.
»Und jetzt geh.«