Der scharlachrote Buchstabe

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Immerfort und auf tausenderlei Weise fühlte sie das Herzklopfen der Pein ohne Unterlaß, das ihr von dem unvergänglichen, allzeit tätigen Urteilsspruch des puritanischen Tribunals so ausgeklügelt zugedacht worden war. Geistliche blieben auf der Straße stehen, um Worte der Ermahnung an sie zu richten, die einen Auflauf von Menschen mit seinem Gemisch von Spottlächeln und Stirnrunzeln um das arme sündige Weib versammelten. Wenn sie in eine Kirche trat und das Sonntagslächeln des Vaters aller zu teilen hoffte, so war es oft ihr Missgeschick, zu finden, daß sie selbst den Text der Rede abgab. Allmählich begann sie vor Kindern Furcht zu hegen, da sie von ihren Eltern eine unbestimmte Vorstellung von etwas Entsetzlichem an diesem einsamen Weibe einsogen, welches so stumm und nie mit andern Gefährten als einem einzigen Kinde durch die Stadt glitt. Sie ließen sie daher zuerst vorüber, und verfolgten sie dann aus der Ferne mit schrillem Geschrei und dem Nachrufen eines Wortes, welches für ihr eigenes Bewusstsein keine klare Bedeutung besaß, aber für Esther um so furchtbarer war, weil es von Lippen kam, die es nachschwatzten. Das alles schien eine so weite Verbreitung ihrer Schmach zu beweisen, daß die ganze Natur davon wußte. Es hätte ihr keinen tieferen Schmerz bereiten können, wenn das Laub an den Bäumen sich die düstere Geschichte zugeflüstert, wenn das Sommerlüftchen davon gemurmelt, wenn der Wintersturm sie laut ausgeschrien hätte. Eine andere eigentümliche Folter lag in dem Blicke eines neuen Auges. Schauten Fremde mit Neugier auf den Scharlachbuchstaben – und niemals verfehlte einer dies zu tun –, so brannten sie ihn frisch in Esthers Seele ein; so daß sie sich zuweilen kaum enthalten konnte, sich aber doch stets enthielt, das Symbol mit ihrer Hand zu bedecken. Dann aber hatte auch wieder ein kühles, vertrautes Auge seine eigene Pein aufzuerlegen. Sein kaltes bekanntes Gaffen war unerträglich. Ja, von Anfang bis zu Ende hatte Esther Prynne stets die entsetzliche Qual zu erleiden, daß sie ein menschliches Auge auf dem Zeichen fühlte. Die Stelle wurde nie unempfindlich, es schien sogar, als ob sie durch die tägliche Folter reizbarer werde.

Aber zuweilen in vielen Tagen oder vielleicht in vielen Monaten einmal fühlte sie ein Auge, ein menschliches Auge, auf dem schmählichen Brandmale, und es schien ihr eine vorübergehende Erleichterung zu gewähren, als ob die Hälfte ihrer Pein geteilt werde. Im nächsten Augenblicke strömte sie völlig wieder zurück und fügte ihr eine noch tiefere Qual zu, denn in diesem kurzen Zwischenraum hatte sie von neuem gesündigt. Hatte Esther allein gesündigt?

Ihre Einbildungskraft war einigermaßen von der eigentümlichen einsamen Folter ihres Lebens angegriffen und würde es noch mehr gewesen sein, hätte sie weichere moralische und intellektuelle Fasern besessen. Wenn sie mit ihren einsamen Schritten in der kleinen Welt, mit welcher sie äußerlich verbunden war, her und hin ging, kam es ihr zuweilen vor – war es auch ganz Phantasie, so besaß es doch zu viele Kraft, um Widerstand dagegen leisten zu können –, sie fühlte oder glaubte also zuweilen, daß der Scharlachbuchstabe ihr einen neuen Sinn verliehen habe. Es schauderte ihr bei dem Glauben, und doch konnte sie sich desselben nicht enthalten, daß er ihr eine sympathetische Kenntnis der verborgenen Sünde in dem Herzen anderer verleihe. Sie wurde von Entsetzen über die ihr so zuteil werdenden Enthüllungen ergriffen. Was waren sie? Konnten sie etwas anderes sein als das hinterlistige Flüstern des bösen Engels, der das widerstrebende Weib, bis jetzt nur halb sein Opfer, zu gern überredet hätte, daß die äußere Hülle der Reinheit nur eine Lüge sei, und daß, müßte überall die Wahrheit gezeigt werden, mancher andere als Esther Prynne den Scharlachbuchstaben auf seiner Brust flammen sehen würde? Oder mußte sie diese ihr dunkeln und doch so lebhaften Andeutungen als Wahrheit nehmen? In ihrer ganzen unglückseligen Erfahrung gab es nichts Furchtbareres und Abscheu Erregenderes als dieses Gefühl. Es verwirrte und entsetzte sie durch das unehrerbietige Unpassende der Anlässe, das es zu lebhafter Tätigkeit brachte. Zuweilen ließ die rote Schmach auf ihrer Brust ein sympathetisches Pochen fühlen, wenn sie an einem ehrwürdigen Geistlichen oder einer Magistratsperson vorüberkam, zu der jene altertümliche Zeit voller Ehrerbietung als Muster der Frömmigkeit und Gerechtigkeit wie zu einem mit Engeln in Gemeinschaft stehenden Sterblichen emporblickte. ›Welches schlimme Ding ist in der Nähe?‹ pflegte Esther zu sich zu sagen, und wenn sie ihre widerstrebenden Augen erhob, so war nichts Menschliches sichtbar als die Gestalt dieses irdischen Heiligen. Dann wieder machte sich eine mystische Schwesternschaft schmählich bemerkbar, wenn sie dem scheinheiligen Stirnrunzeln einer Matrone begegnete, die, wie alle Zungen behaupteten, ihr Leben lang kalten Schnee in ihrer Brust bewahrt hatte. Jener Schnee in der Matrone Busen, auf den nie ein Sonnenschein gefallen war, und die brennende Schmach auf der Brust Esther Prynnes – was hatten die beiden miteinander gemein? Oder ein anderes Mal verkündete ihr das elektrisierende Zucken: siehe da, Esther, hier ist eine Genossin! Und wenn sie aufblickte, entdeckte sie die Augen eines jungen Mädchens, welches scheu und verstohlen auf den Scharlachbuchstaben blickte und sich schnell wieder mit einem schwachen, kühlen Purpur auf den Wangen abwendete, als ob ihre Reinheit durch die rasche Betrachtung etwas besudelt worden sei. O Teufel, dessen Talisman dieses Symbol des Schreckens war, wolltest du dieser armen Sünderin weder an der Jugend nach am Alter etwas zu verehren übrig lassen? Ein solcher Verlust des Glaubens ist stets eine von den traurigsten Auswirkungen der Sünde. Man nehme als Beweis, daß an diesem armen Opfer seiner eigenen Schwäche und der harten Gesetze der Menschen doch nicht alles verderbt war, den Umstand an, daß Esther Prynne sich immer noch Mühe gab zu glauben, kein sterblicher Mitmensch sei so schuldig wie sie.

Das gemeine Volk, welches in jenen trüben, alten Zeiten dem, was seine Einbildungskraft interessierte, stets einen grotesken Schrecken beimaß, erzählte sich über den Scharlachbuchstaben eine Geschichte, welche wir leicht zu einer schaurigen Legende verarbeiten könnten. Es behauptete, daß das Symbol nicht bloßes, in einem irdischen Farbtopf gefärbtes Scharlachtuch sei, sondern von höllischem Feuer glühe und leuchtend zu sehen wäre, wenn Esther Prynne bei Nacht ihr Haus verlasse; und wir müssen schon sagen: es brannte in Esthers Busen so tief hinein, daß in dem Gerüchte vielleicht mehr Wahrheit lag, als unser moderner Unglaube zuzugeben geneigt ist.

6
Perle

Wir haben bis jetzt kaum des Kindes erwähnt, des kleinen Geschöpfes, dessen unschuldiges Leben nach dem unerforschlichen Ratschluss der Vorsehung wie eine liebliche unsterbliche Blume aus der wuchernden Üppigkeit einer schuldig gewordenen Leidenschaft aufgeschossen war. Wie seltsam erschien es dem traurigen Weibe, wenn es das Wachstum und die Schönheit beobachtete, die täglich glanzvoller wurden, und den Verstand, welcher seinen blitzenden Sonnenschein auf die niedlichen Züge dieses Kindes warf! Ihre Perle! Denn so hatte sie Esther genannt, nicht um ihr Äußeres damit zu bezeichnen, welches nichts von dem ruhigen, weißen, leidenschaftslosen Schimmer besaß, welchen die Vergleichung andeuten könnte; aber sie nannte das Kind deshalb Perle, weil es von hohem Preise, mit allem, was sie hatte, erkauft, ihr einziger Mutterschatz war. Wie seltsam. Der Mensch hatte die Sünde dieses Weibes durch einen Scharlachbuchstaben bezeichnet, der eine so gewaltige unheilvolle Wirkung ausübte, daß sie keine menschliche Sympathie erreichen konnte, wenn sie nicht gleich ihr sündig war. Gott hatte ihr als unmittelbare Folge der Sünde, welche der Mensch auf diese Weise bestrafte, ein liebliches Kind gegeben, dessen Platz an eben diesem entehrten Busen war, und das seine Mutter für immer mit dem Geschlecht der Sterblichen verbinden und endlich ein seliger Geist im Himmel werden sollte. Diese Gedanken erfüllten Esther Prynne aber weniger mit Hoffnung als mit Besorgnis. Sie wußte, daß ihre Tat schlimm gewesen war, und konnte daher nicht glauben, daß deren Folgen gut sein würden. Tag um Tag blickte sie voll Furcht auf die sich entfaltende Natur des Kindes und fürchtete stets irgendeine düstere, wilde Eigentümlichkeit zu entdecken, die der Schuld, welcher sie ihr Dasein verdankte, entsprechen würde.

Ein körperlicher Mangel war sicherlich nicht vorhanden. Nach seiner vollkommenen Gestalt, seiner Kraft und natürlichen Geschicklichkeit in der Anwendung aller seiner noch unerprobten Glieder, war das Kind würdig, im Garten Eden gezeugt worden zu sein; würdig auch, dort als Spielzeug der Engel belassen zu werden, nachdem der Welt erste Eltern vertrieben worden waren. Das Kind besaß eine angeborene Anmut, welche nicht stets mit fehlerloser Schönheit vereinigt ist. Seine Kleidung, wie einfach sie auch sein mochte, gab dem Beschauer stets den Eindruck, als sei sie genau das Gewand, welches ihm am besten anstehe. Perlchen war aber nicht in ländliche Kleidung gesteckt worden. Ihre Mutter hatte mit einer krankhaften Absicht, die später besser verständlich werden wird, die reichsten Stoffe, welche zu erlangen waren, gekauft und ihrer Phantasie in der Anordnung und Verzierung der Kleider, welche das Kind vor den Augen der Menschen trug, freies Spiel gelassen. So prächtig war die kleine Gestalt, wenn sie so geziert war, und so strahlend Perlchens eigene Schönheit, die über die reichen Gewänder, welche seine bleichere Lieblichkeit verwischt haben würden, hervorschimmerte, daß geradezu ein strahlender Lichtkranz auf dem dunklen Hüttenboden um sie schwebte. Und doch gewährte ein von den muntern Spielen des Kindes zerrissenes und beschmutztes braunes Kleidchen ein ebenso vollkommenes Bild von ihr. Perlchens Äußeres war von einem Zauber unendlicher Verschiedenheit erfüllt, in diesem einen Kinde waren viele Kinder vereinigt, und es umfaßte den vollen Spielraum zwischen der Waldblumenfrische eines Bauernkindes und dem Pomp en miniature einer jungen Prinzessin. Bei allen diesen Eigentümlichkeiten war jedoch eine Leidenschaftlichkeit, eine gewisse Tiefe der Färbung vorhanden, welche es nie verlor, und wenn es bei irgendeiner seiner Veränderungen schwächer oder bleicher geworden wäre, so hätte es aufgehört, es selbst zu sein, – es wäre nicht mehr Perle gewesen.

 

Diese äußere Veränderlichkeit zeigte die verschiedenen Eigenschaften ihres inneren Lebens an und drückte sie nur eben aus. Ihre Natur schien aber nicht nur Verschiedenartigkeit, sondern auch Tiefe zu besitzen, jedoch mangelte es ihr, wenn Esther nicht von ihren Befürchtungen getäuscht wurde, an Beziehung auf und Fügung in die Welt, in die sie geboren war. Das Kind ließ sich keiner Regel unterwerfen. Durch seinen Eintritt in das Leben war ein wichtiges Gesetz gebrochen worden, und das Ergebnis war ein Wesen, dessen Elemente wohl schön und schimmernd waren, aber sich alle in Unordnung oder in einer ihnen eigentümlichen Ordnung befanden, in welcher der Punkt, von wo die Verschiedenheit und Anordnung ausging, sich schwer oder unmöglich entdecken ließ. Esther konnte den Charakter des Kindes nur dadurch, und selbst so höchst unbestimmt und unvollkommen erklären, daß sie sich an das erinnerte, was sie selbst während jener wichtigen Periode gewesen, in welcher Perle ihre Seele von der geistigen Welt und ihre körperliche Gestalt von ihrem Erdenmaterial eingesogen hatte. Der leidenschaftliche Zustand der Mutter war das Mittel gewesen, durch welches dem noch ungeborenen Kinde die Strahlen seines moralischen Lebens überliefert wurden, und wie weiß und klar sie ursprünglich auch gewesen sein mochten, so hatten sie doch die tiefe, purpurne und goldene Färbung, den feurigen Schimmer, den schwarzen Schatten und das ungemilderte Licht der vermittelnden Substanz angenommen. Vor allem war in Perle der Kampf fortgepflanzt worden, welcher zu jener Zeit in Esthers Geiste stattfand. Sie konnte ihre wilde, verzweifelte, trotzige Stimmung, die Flatterhaftigkeit ihrer Launen und selbst einige von den Wolkengestalten der Düsterheit und Entmutigung wiedererkennen, welche in ihrem Herzen gebrütet hatten. Sie wurden jetzt durch den Morgenstrahl eines kindlichen Charakters erleuchtet, konnten aber beim weiteren Vorrücken des Tages der irdischen Existenz an Stürmen und Wirbelwinden fruchtbar werden.

Die Familiendisziplin war in jener Zeit weit härter als jetzt. Der strenge Blick, der scharfe Tadel, die von der Heiligen Schrift gebotene häufige Anwendung der Rute, wurden nicht nur als Strafen für wirkliche Vergehen, sondern auch als heilsame Zuchtmittel für das Wachstum und die Beförderung aller kindlichen Tugenden betrachtet. Esther Prynne, die alleinstehende Mutter dieses einen Kindes, lief jedoch nur geringe Gefahr, auf der Seite unziemlicher Strenge zu irren; da sie sich indes fortwährend ihrer eigenen Irrtümer und Unfälle erinnerte, bemühte sie sich früh schon, der unsterblichen Seele des ihrer Obhut anvertrauten Kindes eine liebevolle, aber strenge Erziehung zu geben. Die Aufgabe überforderte sie jedoch. Nachdem sie sowohl Güte wie Strenge versucht, aber gefunden hatte, daß keine von beiden Behandlungsweisen einen irgend berechenbaren Einfluß ausübte, sah sich Esther endlich gezwungen, beiseite zu treten und es dem Kinde zu überlassen, wohin es seine eigenen Impulse führen würden. Körperlicher Zwang oder Antrieb war natürlich wirksam, solange er dauerte, was aber jede andere Art der Disziplinierung betraf, mochte sie sich nun an ihren Geist oder ihr Herz wenden, so befand sich die kleine Perle je nach Laune, welche den Augenblick beherrschte, bald in deren Bereich, bald auch nicht. Ihre Mutter lernte, als Perle noch ein Kind war, einen gewissen eigentümlichen Blick kennen, welcher ihr verkündete, wenn es vergebliche Mühe sein würde, zu beharren, zu überreden oder zu bitten; es war ein so intelligenter und doch unerklärlicher, so eigenwilliger, zuweilen so boshafter, gewöhnlich aber von einer so wilden, übermütigen Laune begleiteter Blick, daß Esther sich in solchen Momenten fragen mußte, ob Perle ein Menschenkind sei. Sie schien eher ein Luftgeist zu sein, der, nachdem er eine kurze Zeitlang seine phantastischen Spiele auf dem Boden der Hütte getrieben, mit einem spöttischen Lächeln wieder verschwinden würde. Wenn je sich dieser Blick in ihren unsteten, strahlenden, tiefschwarzen Augen zeigte, so bekleidete er sie mit einer seltsamen Abwesenheit und Unfassbarkeit; es war, als ob sie in der Luft schwebte und plötzlich wieder unsichtbar werden könne, wie ein schimmerndes Licht, welches kommt und geht, wir wissen nicht woher noch wohin. Wenn ihn Esther wahrnahm, so mußte sie auf das Kind zustürzen, den kleinen Elfen auf der Flucht, die er stets begann, verfolgen und ihn mit innigem Druck und eifrigen Küssen an ihren Busen pressen, nicht sowohl aus überströmender Liebe, wie um sich zu überzeugen, daß Perle ein Wesen von Fleisch und Blut und nicht geradezu ein Blendwerk sei. Wenn Perle aber gefangen wurde, so machte ihr Lachen, wiewohl es voller Heiterkeit und Wohllaut war, die Mutter doch noch zweifelhafter als vorher.

Im tiefsten Herzen über diesen neckenden und verwirrenden Zauber verwundet, welcher sich so oft zwischen sie und ihren einzigen Schatz stellte, den sie so teuer erkauft hatte und der ihre ganze Welt war, brach Esther zuweilen in unaufhaltsames Weinen aus. Dann runzelte vielleicht – denn man konnte nicht voraussehen, wie es sie berühren würde, – Perle die Stirn und ballte ihre kleine Faust und verhärtete ihre niedlichen Züge zu einer finsteren gefühllosen Miene voller Unzufriedenheit. Nicht selten traf es sich, daß sie von neuem und lauter als vorher lachte, wie ein Ding, das des menschlichen Kummers unfähig und dem er unverständlich wäre, oder – aber dies kam seltener vor – sie wurde von einem Schmerzparoxismus durchkrampft und schluchzte ihre Liebe zu ihrer Mutter in gebrochenen Worten aus und schien beweisen zu wollen, daß sie ein Herz habe, indem sie es brechen ließ. Esther konnte sich jedoch kaum mit Zuversicht dieser stürmischen Zärtlichkeit hingeben, denn sie verging ebenso plötzlich wieder, wie sie gekommen war. Die Mutter brütete über allen diesen Dingen und hatte ein Gefühl, als ob sie einen Geist heraufbeschworen, aber infolge irgendeiner Unregelmäßigkeit bei der Beschwörung nicht vermocht habe, das Meisterwort zu erlangen, welches dieses neue, uns unverständliche Wesen beherrschte. Ihr einziger wirklicher Trost war der, das Kind im ruhigen, sanften Schlafe liegen zu sehen. Dann war sie seiner sicher und genoß Stunden stillen, trüben, köstlichen Glückes, bis die kleine Perle erwachte und vielleicht eben jener verkehrte Ausdruck unter ihren neugeöffneten Lidern hervorschimmerte.

Wie bald – mit welcher seltsamen Schnelligkeit – gelangte Perle zu dem Alter, welches eines weiteren geselligen Verkehrs als desjenigen mit dem stets bereiten Lächeln und den kindischen Schmeichelworten der Mutter fähig war! Und welches Glück würde es dann für Esther Prynne gewesen sein, wenn sie gehört hätte, wie ihre klaren, vogelähnlichen Töne sich mit dem Lärm anderer Kinderstimmen vermischten, und sie imstande gewesen wäre, Laute ihres Lieblings unter dem verwirrten Geschrei einer Gruppe von spielenden Kindern zu unterscheiden und herauszufinden. Aber dies konnte niemals sein. Perle war schon von Geburt an von der Kinderwelt ausgeschlossen. Als ein böser Kobold, ein Sinnbild und eine Frucht der Sünde, hatte sie kein Recht, sich unter Christenkinder zu mischen. Es konnte nichts Merkwürdigeres geben, als den Instinkt, denn dies schien es zu sein, womit das Kind seine Einsamkeit, das Schicksal, welches einen undurchdringlichen Kreis um es gezogen hatte, kurz, die ganze Eigentümlichkeit seiner Lage in Bezug auf andere Kinder begriff. Seit ihrer Entlassung aus dem Gefängnisse war Esther nie ohne Perle in der Öffentlichkeit erschienen. Bei allen Spaziergängen um die Stadt hatte sie auch ihr Kind bei sich, anfangs als Säugling auf dem Arme und später als kleines Mädchen, als Begleiterin ihrer Mutter, die mit ihrer ganzen Hand einen Zeigefinger umfaßt hielt und auf einen Schritt Esthers drei bis vier nebenhertrippelte. Sie sah die Kinder der Niederlassung auf dem berasten Rande der Straße oder auf den Schwellen der Familienhäuser auf die ernste Weise spielen, wie es die puritanische Erziehung gestattete, etwa In-die-Kirche-gehen oder Quäker peitschen oder in einem Scheingefecht mit Indianern Skalpe nehmen oder einander mit eingebildeten Hexereien in Furcht jagen. Perle sah sie und blickte sie aufmerksam an, bemühte sich aber nie, Bekanntschaft zu machen. Wenn sie angeredet wurde, so antwortete sie nicht. Wenn sich die Kinder um sie versammelten, wie es zuweilen geschah, so wurde Perle in ihrem Kinderzorn wahrhaft entsetzlich, hob Steine auf, um sie nach ihnen zu schleudern und stieß schrille, unzusammenhängende Schreie aus, bei welchen ihre Mutter erbebte, weil sie soviel von dem Klang der Verwünschungen einer Hexe in irgendeiner unbekannten Zunge an sich hatten.

Das Wahre an der Sache war, daß die kleinen Puritaner, die zu dem unduldsamsten Geschlecht, welches je gelebt, gehörten, eine unbestimmte Idee von etwas Ausländischem, Unmenschlichem oder mit dem gewöhnlichen Leben in Widerspruch Stehendem über Mutter und Kind gefaßt hatten und sie daher in ihrem Herzen verachteten und nicht selten mit ihren Zungen schmähten. Perle fühlte diese Einschätzung und vergalt sie mit dem bittersten Hasse, welcher an einem Kinderherzen fressen kann. Diese Ausbrüche eines zornigen Charakters besaßen eine Art von Wert und selbst Trost für die Mutter, da in dieser Stimmung wenigstens ein verständlicher Sinn statt der unbeständigen Laune lag, welche sie bei den Äußerungen des Kindes so oft in Verwirrung gesetzt hatte. Dessen ungeachtet aber schauderte ihr, als sie auch hier wieder eine schattengleiche Abspiegelung des Bösen entdecken mußte, welches in ihr selbst existiert hatte. Alle diese Feindseligkeit und Leidenschaftlichkeit hatte Perle nach unveräußerlichem Rechte aus Esthers Herzen geerbt. Mutter und Tochter standen in dem gleichen Kreise der Abgeschlossenheit von der menschlichen Gesellschaft beisammen, und in der Natur des Kindes schienen sich die unruhigen Elemente fortzupflanzen, welche Esther Prynne von Perlens Geburt durchwühlt, seitdem aber begonnen hatten, von den erweichenden Einflüssen der Mutterschaft beschwichtigt zu werden.

Daheim in der Hütte ihrer Mutter und um dieselbe fehlte es Perlchen nicht an einem weiten, verschiedenartigen Bekanntenkreise. Der Zauber des Lebens ging von ihrem stets schöpferischen Geiste aus und teilte sich tausenderlei Gegenständen mit, wie eine Fackel eine Flamme entzündet, wo sie auch angelegt werden mag. Die scheinbar untauglichsten Stoffe, ein Stock, ein Lumpenbündel, eine Blume waren die Puppen der Zauberei Perlens und paßten sich, ohne eine äußere Veränderung zu erfahren, geistig jedem Drama an, welches die Bühne ihrer inneren Welt einnahm. Ihre eine Kinderstimme diente einer Menge von eingebildeten Personen, so alten wie jungen, zum Sprechen. Die alten schwarzen, ernsthaften Fichten, welche ihr Stöhnen und andere traurige Töne von dem Winde forttragen ließen, bedurften nur einer geringen Umwandlung, um als puritanische Kirchenälteste zu figurieren, die häßlichsten Unkräuter im Garten waren deren Kinder, die Perle auf das unbarmherzigste niederschlug und ausriß. Es war wunderbar, in welche Vielzahl von Formen sie ihren Verstand fügte, allerdings ohne Zusammenhang, aber sie schossen auf und tanzten in einem Zustande übernatürlicher Beweglichkeit, sanken bald wieder zusammen, wie von einer schnell strömenden, fieberigen Lebensglut erschöpft, und hatten andere Gestalten von gleicher, wilder Energie zu Nachfolgern. Es glich nichts so sehr wie dem phantasmagorischen Spiele des Nordlichtes. In der bloßen Übung der Phantasie und der spielenden Beweglichkeit ihres wachsenden Geistes mochte jedoch wohl wenig mehr sein, als bei anderen Kindern von glänzenden Fähigkeiten zu bemerken ist, außer insofern Perle bei dem Mangel an menschlichen Spielgenossen mehr auf die visionären Wesen, welche sie erschuf, angewiesen war. Die Sonderbarkeit lag in den feindlichen Gefühlen, mit welchem das Kind alle diese Sprösslinge ihres eigenen Herzens und Geistes betrachtete. Sie erschuf nie einen Freund, sondern schien stets die Drachenzähne auszusäen, aus denen eine Ernte von bewaffneten Feinden hervorkeimte, gegen die sie in den Kampf stürmte. Es war unaussprechlich traurig! Welche Tiefe von Kummer mußte es für eine Mutter sein, die in ihrem eigenen Herzen den Grund davon fühlte, an einem so jungen Wesen dieses beständige Erkennen einer feindlichen Welt und eine so gewaltsame Einübung der Kräfte zu erkennen, welche in dem Kampfe, der erfolgen mußte, ihre Sache vertreten sollten!

 

Wenn Esther Prynne auf Perle blickte, so ließ sie oft ihre Arbeit sinken und rief mit einer Pein, die sie gern verborgen hätte, die sich aber in Tönen, die zwischen der Rede und einem Stöhnen lagen, Luft machte: »Vater im Himmel! Wenn du noch mein Vater bist – was ist dieses Wesen, das ich auf die Welt gebracht habe?« Und Perle, die den Ausruf hörte oder durch irgendeinen feinen Kanal diese Kundgebungen der Pein bemerkte, wendete dann ihr lebhaftes schönes Gesichtchen ihrer Mutter zu, lächelte mit koboldartigem Verständnis und fuhr in ihren Spielen fort.

Eine Eigentümlichkeit in dem Benehmen des Kindes muß noch mitgeteilt werden. Das erste, was sie in ihrem Leben bemerkt hatte, war – was wohl? – nicht das Lächeln der Mutter, dem sie, wie andere Kinder mit jenem schwachen Lächeln des kleinen Mundes geantwortet hätte, dessen man sich später so zweifelhaft und mit so zärtlicher Überlegung, ob es wirklich ein Lächeln gewesen sei, erinnert – nein, keineswegs. Der erste Gegenstand, welchen Perle zu bemerken schien, war – müssen wir es sagen? – der Scharlachbuchstabe auf Esthers Brust! Eines Tages, als sich die Mutter über die Wiege beugte, waren die Augen des Kindes von dem Schimmer der Goldstickerei um den Buchstaben angezogen worden, und es hatte seine kleine Hand erhoben, und lächelnd, nicht zweifelhaft, sondern mit einem entschiedenen Freudenstrahle, welcher seinem Gesicht das Aussehen eines weit älteren Kindes verlieh, darnach gegriffen. Da hatte Esther Prynne, nach Atem ringend, das schicksalhafte Zeichen erfaßt und instinktgemäß versucht, es hinwegzureißen, so unermeßlich war die Qual, welche die verständige Berührung der Säuglingshand Perlens ihr zugefügt hatte. Und wieder blickte Perle in ihre Augen, als ob die schmerzvolle Gebärde ihrer Mutter nur in der Absicht hervorgebracht worden sei, ihr ein Spiel zu bereiten – und lächelte.

Von dieser Zeit an hatte Esther, außer wenn das Kind schlief, keinen Augenblick der Sicherheit, keinen Augenblick des ruhigen Genusses gefunden. Allerdings vergingen zuweilen Wochen, während welcher Perlens Blick sich nie auf den Scharlachbuchstaben zu heften schien, dann aber kam er unerwartet wie der Streich plötzlichen Todes und stets mit dem eigentümlichen Lächeln und dem sonderbaren Ausdrucke der Augen.

Einmal trat dieser neckische Koboldausdruck in die Augen des Kindes, während Esther in ihm ihr eigenes Bild anblickte, wie es die Mütter gern tun, und plötzlich – denn einsam lebende Frauen mit geplagtem Herzen werden von unerklärlichen Täuschungen verfolgt – kam es ihr vor, als ob sie nicht ihr eigenes Miniatur-Porträt, sondern ein anderes Gesicht in dem kleinen schwarzen Spiegel in Perlens Auge erblickte. Es war ein dämonisches Gesicht voll lächelnder Bosheit und doch ähnelte es Zügen, welche sie gut gekannt hatte, wenn auch selten mit einem Lächeln und nie mit einem boshaften Ausdruck. Es war, als ob das Kind von einem bösen Geiste besessen sei, der soeben spöttisch herausgeschaut habe. Noch oftmals später war Esther, wenn auch weniger lebhaft, von dem gleichen Gaukelspiel gequält worden.

Am Nachmittage eines Sommertages, als Perle schon groß genug geworden war, um umherzulaufen, unterhielt sie sich damit, daß sie Hände voll wilder Blumen pflückte, sie einzeln nach der Brust ihrer Mutter warf und auf und ab tanzte, wie ein kleiner Kobold, wenn sie den Scharlachbuchstaben traf. Esthers erster Antrieb war es gewesen, ihre Brust mit ihren gefalteten Händen zu bedecken; aber, sei es nun aus Stolz oder aus Resignation, oder dem Gefühle, daß ihre Buße am besten durch diese unaussprechliche Pein befördert werden könne, – sie widerstand der Regung und blieb aufrecht und totenbleich sitzen und blickte traurig in die milden Augen der kleinen Perle. Die Beschießung mit Blumen dauerte fort, traf fast ohne Ausnahme ihr Ziel und bedeckte die Brust der Mutter mit Wunden, für welche sie auf dieser Welt keinen Balsam finden konnte und nicht wußte, wie sie ihn in einer andern suchen sollte. Endlich waren alle Geschosse verbraucht, und das Kind blieb stehen und blickte Esther an, während das kleine, lachende Dämonenbild aus dem unerforschlichen Abgrund ihrer schwarzen Augen hervorschaute, oder, wenn dies auch nicht der Fall war, es doch ihrer Mutter so vorkam.

»Kind, wer bist du?« rief die Mutter.

»Oh, ich bin deine kleine Perle!« antwortete das Kind.

Während sie es aber sagte, lachte Perle und begann mit den munteren Gestikulationen eines kleinen Teufelchens, dessen nächster Streich es vielleicht sein könnte, den Schornstein hinaufzufliegen, auf und ab zu tanzen.

»Und bist du denn wirklich mein Kind?« fragte Esther.

Sie stellte die Frage nicht vollkommen müßigerweise, sondern für den Augenblick mit einem Anteil echten Ernstes, denn Perlens wunderbarer Verstand war so groß, daß ihre Mutter halb und halb im Zweifel war, ob sie nicht vielleicht den geheimen Zauberspruch ihrer Existenz kenne und sich jetzt offenbaren werde.

»Ja, ich bin die kleine Perle!« wiederholte das Kind, indem es seine Sprünge fortsetzte.

»Du bist nicht mein Kind! Du bist nicht meine Perle«, sagte die Mutter halb scherzhaft, denn es traf sich oft, daß mitten in ihrem tiefsten Leiden sich bei ihr ein neckischer Antrieb einstellte. »So sage mir, wer du bist und wer dich geschickt hat.«

»Sage du es mir, Mutter«, sprach das Kind ernsthaft, indem es zu Esther herankam und sich dicht an ihre Knie schmiegte. »Sage du es mir.«

»Dein himmlischer Vater hat dich geschickt«, antwortete Esther Prynne.

Sie sagte dies aber mit einem Zaudern, welches dem Scharfsinn des Mädchens nicht entging. Mochte sie nun bloß von ihrer gewöhnlichen Schelmerei angetrieben werden oder ein böser Geist ihr es eingeflüstert haben, sie erhob ihren kleinen Zeigefinger und rührte den Scharlachbuchstaben an.

»Er hat mich nicht geschickt!« rief sie bestimmt, »ich habe keinen himmlischen Vater!«

»Still, Perle, still, du darfst nicht so sprechen«, antwortete die Mutter, indem sie ein Stöhnen unterdrückte, »er hat uns alle auf die Welt geschickt; er hat selbst mich, deine Mutter, gesendet; um wieviel mehr also dich! Oder wenn es nicht so ist, du seltsames Elfenkind, woher bist du denn gekommen?«

»Sag es mir! Sag es mir!« wiederholte Perle, nicht mehr ernsthaft, sondern lachend und im Zimmer umherspringend. »Du bist es, die es mir sagen muß.«

Esther konnte aber die Frage nicht beantworten, da sie sich selbst in einem zwielichtigen Labyrinth des Zweifels befand. Sie erinnerte sich – halb mit Lächeln, halb mit einem Schauder der Reden der benachbarten Städter, die, da sie vergebens anderwärts nach dem Vater des Kindes suchten, nachdem sie einige von seinen sonderbaren Eigenschaften wahrgenommen, behauptet hatten, daß die arme kleine Perle ein Dämonensprößling wäre, wie sie seit den alten katholischen Zeiten durch Vermittlung der Sünde ihrer Mutter und zur Beförderung irgendeines bösen, gottlosen Zweckes zuweilen auf Erden gesehen worden seien. Luther gehörte, den Schmähungen seiner Mönchsfeinde zufolge, zu dieser Höllenbrut, und auch Perle war nicht das einzige Kind, welchem unter den Puritanern von Neu-England dieser häßliche Ursprung zugeschrieben wurde.

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