Judentum. Eine kleine Einführung

Текст
Автор:
Из серии: Reclam Sachbuch premium
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Wo leben die Juden heute?

Vor dem Ausbruch des Krieges 1939 lebten etwa zehn Millionen Juden in Europa, fünf Millionen in Amerika (vorwiegend in Nordamerika), 830 000 in Asien (einschließlich Palästina), 600 000 in Afrika und eine Handvoll in Ozeanien – ihre Zahl betrug insgesamt vielleicht 18 Millionen.

Sechs Millionen – die genaue Zahl ist kontrovers – wurden ermordet. Global gesehen hat sich die demographische Situation des Judentums radikal verändert durch die Emigration der Juden aus den Kernländern der jüdischen Kultur Mitteleuropas, die physische Vernichtung der Mehrzahl der Zurückgebliebenen, die zunehmende jüdische Besiedlung Palästinas/Israels und die Vertreibung oder Flucht der Juden aus vielen nahöstlichen und nordafrikanischen Ländern. Nordamerika und Israel sind heute die Heimat der meisten Juden, Frankreich ist nach Russland, aber noch vor Großbritannien, das europäische Land mit der größten jüdischen Minorität; fast verschwunden sind die einst florierenden jüdischen Gemeinden in muslimischen Ländern wie Ägypten, dem Iran und Irak.

Länder mit Populationen von zumindest 10 000 Juden (in Tausend)


Argentinien 300 Mexiko 35
Australien 90 Marokko 13
Belgien 30 Österreich 10
Brasilien 150 Südafrika 120
Chile 17 Spanien 12
Dänemark 10 Schweden 16
Deutschland 40 Schweiz 19
Frankreich 600 Tschechien 12
Großbritannien 300 Türkei 23
Holland 25 Ungarn 85
Iran 25 Uruguay 35
Israel 3755 USA 5950
Italien 35 (frühere) UdSSR 1450
Kanada 325 Venezuela 20

Heutige Identität der Juden

1992 fand in Oxford ein Symposion über »Jüdische Identitäten« im Neuen Europa statt. Der Sozialanthropologe Dr. Jonathan Webber, der dazu eingeladen hatte, warnte vor vereinfachenden Versuchen, die jüdische Identität auf oberflächliche Merkmale zu reduzieren, weil diese irreführend sein können. So mögen streng orthodoxe chassidische Juden wegen der Art, wie sie sich kleiden, als besonders rückwärtsgewandt erscheinen. Doch bis heute haben sie in den modernsten Metropolen wie New York Erfolg, weil sie sich auf die Bedingungen der Teilnahme an den Strukturen des modernen Kapitalismus hervorragend einzustellen wussten.

Webber hat recht mit seiner Warnung, doch ist die Situation noch komplizierter, als er meint. Die Identität des Individuums umfasst viele Elemente, und die spezifisch jüdischen sind nie mehr als der Teil eines Ganzen. Heutige europäische Juden entwickeln die jüdischen Aspekte ihrer Identität aus einer Fülle von Optionen, die sich ihnen durch das Studium der Quellen wie durch Kontakte mit anderen Juden erschließen. Bis zu einem gewissen Grad sind ihre Entscheidungen, die sie dann tatsächlich treffen, von Familie, Gemeinde, persönlichen Erfahrungen und der kulturellen Umwelt beeinflusst. Vor allem aber wird nach dem Erwerb des Grundwissens alles, was mit ihrer Identität zu tun hat, durch die Auswirkungen der Schoah (des Holocaust) und die Bedeutung des Staates Israel bestimmt.

Die meisten Länder, in denen Juden heute leben, sind weitgehend säkulare Staaten mit einer pluralistischen Gesellschaft. Eine solche Umwelt bietet der Entfaltung der Identität ungeahnte Möglichkeiten und versetzt den einzelnen Juden in die Lage, sich autoritären Definitionen von Judentum, auch solchen von jüdischen Führern, zu widersetzen.

Natürlich müssen sich erst Gemeinschaften und größere Strukturen bilden, welche wiederum begrenzt sind, doch zumindest eine Minimaldefinition dessen erfordern, wer und wer nicht dazugehört. Derlei Gemeinschaften und Organisationen sollten den Spielraum gegenseitiger Toleranz und Anerkennung maximal ausschöpfen. Mögen manche Menschen sich auch unsicher fühlen, wenn die Normen unscharf definiert sind, so wäre es doch ein größeres Übel, wenn die individuelle Freiheit unterdrückt und die Evolution des Judentums blockiert würde.

Niemand kann wissen, welche Formen die jüdische Identität annehmen wird, wenn sich die Wogen über dem Neuen Europa geglättet haben und ein dauerhafter Friede im Nahen Osten und in Israel eingekehrt ist. Zweifellos werden neue und andere Formen des Judentums und der jüdischen Identität entstehen. Narren mögen voraussagen, wie diese »Judaismen« aussehen werden; womöglich wird die Zukunft sie widerlegen, aber daraus entsteht kein großer Schaden. Schurken, die nach Macht streben, versuchen, der Zukunft ihre eigenen Strukturen zu oktroyieren; wahrscheinlich werden sie scheitern, jedoch bei dem Versuch sicher großen Schaden anrichten.

2 Wie kam es zur Spaltung von Judentum und Christentum?
Unsere Geschichte beginnt

Wann entstand die jüdische Religion? Ist sie wirklich »die älteste Religion der Welt«?

Gewiss nicht, wenn wir glauben, was die Experten uns über die menschliche Frühgeschichte berichten. Nach den Bildern zu schließen, die sie in ihren Höhlen malten, und der Art, wie sie ihre Toten begruben, besaßen die frühen Steinzeitmenschen – vor Zehntausenden von Jahren – ziemlich sicher religiöse Überzeugungen und Rituale. Ägypten samt seinen Tempeln und seiner Religion war schon alt, als der junge Moses im Pharaonenpalast lebte.

Aber vielleicht will man gerade dem schlichten Text der Bibel folgen. In diesem Fall hängt die Antwort davon ab, was man unter »Judentum« versteht. Meint man die Religion des Abraham (etwa 800 vor der Zeitwende [v. d. Z.]), der angeblich der Urahn des jüdischen Volkes (und übrigens auch der Araber) war?

Oder entstand das Judentum, als Moses die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai empfing, ungefähr fünf oder vier Jahrhunderte nach Abraham? Oder später, als die Hebräische Schrift (das »Alte Testament«) abgeschlossen wurde?

Alle diese Antworten werfen ein großes Problem auf. Was wir heute als jüdischen Glauben betrachten, unterscheidet sich von der biblischen Religion in mancherlei Hinsicht. So glauben die Juden nicht wörtlich an das Prinzip »Auge um Auge«. Und obgleich die Hebräische Schrift zu diesem Thema nichts Eindeutiges sagt, ist die jüdische Tradition in hohem Maße der Vorstellung verpflichtet, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Daher kann keine Rede davon sein, dass die jüdische Religion, wie wir sie heute kennen, drei- oder viertausend Jahre alt sei. Was wir allenfalls sagen können, ist, dass die »Wurzeln« der jüdischen Religion – die frühesten Teile der Bibel – so alt sind.

Wie das »jüdische Jahr« berechnet wird

Für die traditionalistischen Juden beginnt die Geschichte gemäß der Bibel mit Adam und Eva. Danach ergibt sich als Datum für die Erschaffung Adams 3760 v. d. Z., weshalb die jüdische Zeitrechnung, die für religiöse Zwecke noch immer in Gebrauch ist, viele Jahre vor AD (anno domini) beginnt. 1998 entspricht somit AM 5758, 2000 AM 5760 (AM steht für anno mundi oder Jahre seit der Schöpfung der Welt)

Wenn wir in diesem Buch über das Judentum sprechen, meinen wir indessen mehr als diese Wurzeln. Wir meinen die in der Bibel wurzelnde Lebensform, wie sie etwa seit dem 2. Jahrhundert n. d. Z. von den Rabbinen geprägt wurde. Dieses »rabbinische Judentum« ist das Fundament aller heute existierenden Formen des Judentums. Zweifellos messen die reformierten Juden den Lehren der Rabbinen weit weniger Gewicht bei als die orthodoxen Juden (Differenzen zwischen Orthodoxen und Reformern kommen in Kapitel 7 zur Sprache). Doch sowohl für Reformer als auch für Orthodoxe ist das rabbinische Judentum der Bezugspunkt ihres Glaubens und ihrer religiösen Praxis.

 

Manchmal wird der rabbinische Glaube auch als Religion der »doppelten Thora« bezeichnet, denn neben der schriftlichen Thora (der Hebräischen Schrift) erkennt er auch eine »mündliche Thora«, eine Überlieferung, die das geschriebene Wort interpretiert und ergänzt, an. (Gelegentlich begegnet man den Ausdrücken »geschriebenes Gesetz« und »mündliches Gesetz«. »Gesetz« ist freilich keine adäquate Übersetzung von »Thora«; genauer sind »Weg«, »Lehre« oder »Weisung«, wie Martin Buber sagt.)

Nun führen Christen wie Juden ihre geistige Herkunft gern auf Moses, Abraham und Adam und Eva zurück – mit dem kleinen Unterschied, dass der englische Bischof Ussher für die Erschaffung von Adam und Eva das Jahr 4004 v. d. Z. berechnete, und nicht wie die Juden das Jahr 3760 v. d. Z. Auch die Christen beanspruchen die Thora – die Hebräische Schrift – für sich. Sie interpretieren sie genau wie die Juden nicht in ihrem Wortsinn. Aber sie legen sie nicht gemäß der »mündlichen Thora« der Rabbinen aus, sondern im Licht des Neuen Testaments.

Die unterschiedlichen Interpretationen wurden allerdings erst mit den Paulus-Briefen evident. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt – vielleicht in der Mitte des 1. Jahrhunderts, der Generation nach Jesus – gab es zwischen Judentum und Christentum noch keine Scheidelinie. Jesus hat nie von sich selbst geglaubt, er predige eine andere Religion als die jüdische oder die Thora:

»Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Matth. 5,15).

Wenn man Jesus oder irgendeinen seiner Jünger gefragt hätte, was ihre Religion sei, hätten sie geantwortet: die jüdische.

Warum also kam es zur Spaltung? Warum entstanden zwei getrennte, wenn auch eng verbundene Religionen? Darüber gibt es eine traditionelle jüdische und eine traditionelle christliche Ansicht.

Die traditionelle jüdische Auffassung besagt, dass das Judentum eine uralte, von Moses am Berg Sinai empfangene Religion sei, die das jüdische Volk seitdem unverändert bewahrt habe. Irgendwann im 1. Jahrhundert lehrte Jesus, gefolgt von Paulus, eine neue Religion. Wichtige Teile entlehnte Jesus aus dem jüdischen Glauben, vermischte sie aber mit etlichen abstrusen und unrichtigen Ideen. Unter anderem verkündete er, er sei der Messias oder gar der »Fleisch gewordene« Gott.

Die traditionelle christliche Version besagt, dass der jüdische Glaube eine uralte, von Moses am Berg Sinai empfangene Religion sei, welche die Juden seitdem sorgfältig bewahrt hätten. Irgendwann im 1. Jahrhundert erschien Jesus und »vervollkommnete« diese Religion, indem er sie zu ihrem Abschluss brachte. Leider haben die Juden das Geschehene nicht dankbar anerkannt, sondern sich starrsinnig an die obsolete Form ihrer Religion geklammert.

Beiden Auffassungen ist gemeinsam, dass es zwei verschiedene Religionen gibt, die beide zu einem bestimmten Zeitpunkt ›fertig‹ vom Himmel gesandt oder erfunden wurden – die eine in den Tagen des Moses, die andere in den Tagen des Jesus von Nazareth. Sie unterscheiden sich in ihrer Bewertung des zweiten zentralen Ereignisses und dessen Verhältnisses zum ersten. Beide aber stimmen darin überein, dass die ›Mutter‹-Religion der jüdische Glaube und das Christentum die ›Tochter‹ sei, wenn auch (aus jüdischer Sicht) eine auf Abwege geratene.

Nach den Ergebnissen der historischen Forschung zu urteilen, gehen jedoch beide Versionen gewaltig fehl. Weder trat der jüdische Glaube irgendwann um 1400 v. d. Z. vollentwickelt ins Leben, noch verkündete Jesus um das Jahr 30 n. d. Z. – und nicht einmal Paulus eine Generation später – ein christliches Glaubensbekenntnis oder den Katechismus einer ›fertigen‹ Kirche. Beide Religionen durchliefen eine jahrhundertelange Entwicklung, ehe ihre Texte, Riten und Überzeugungen ihre ›traditionelle‹ Form gewannen. Sie haben zusammen existiert und sich als Reaktion auf veränderte Situationen und Erkenntnisse bis auf den heutigen Tag weiterentwickelt. Ja, sowohl das Judentum als auch das Christentum bestimmen sich heute so kraftvoll wie eh und je neu im Licht der modernen Wissenschaft, entwickeln zeitgemäße moralische Positionen und ein neues Verständnis der Weltprobleme.

So seltsam es klingen mag: der Talmud und andere grundlegende Schriften des rabbinischen Judentums entstanden tatsächlich später als die Evangelien, die grundlegenden Texte des Christentums. Als der Papst kürzlich von den Juden als den »älteren Brüdern« der Christen sprach, irrte er sich. Natürlich sind wir beide ›Kinder‹ der Hebräischen Schrift, doch von ihren konstitutiven Texten her gesehen (Neues Testament, Talmud) sind die Christen die »älteren Brüder«.

Woher stammen Judentum und Christentum?

Wenn man heute nach Israel reist, kann man Synagogen und Kirchen ebenso besichtigen wie heilige Stätten der Muslime, der Drusen, der Bahai, und man genießt die Verschiedenartigkeit der religiösen Kulte, an denen dieses Land so reich ist. Verlangt es einen mehr nach detaillierterem Wissen und religiöser Erbauung, so kann man eine Zeitlang eine oder mehrere der zahlreichen Jeschiwot – religiöse Seminare der verschiedenen Religionen und Konfessionen – studieren oder zu Füßen eines großen, inspirierenden Lehrers sitzen.

In den Tagen Jesu wäre dies ebenso möglich gewesen. Und viele nutzten dies. Josephus, Sohn des Mattathias, der Nachwelt besser bekannt als der Soldat und Historiker Flavius Josephus, unternahm als Jugendlicher in den fünfziger Jahren des 1. Jahrhunderts eben solch eine Rundreise, auf seiner persönlichen Suche nach spiritueller Erkenntnis. Später, unter der Schirmherrschaft des Kaisers Vespasian in Rom lebend, zeichnete er diese Erfahrungen in seiner Autobiographie und seinen Jüdischen Altertümern auf.

Nach Josephus waren die Juden im 1. Jahrhundert in vier Sekten oder »Philosophien« gespalten. Die Pharisäer – die Gruppe, zu der er sich persönlich am stärksten hingezogen fühlte – leben nach seinem Urteil bescheiden, wie es die Vernunft gebietet. Sie achten die Älteren und glauben an die göttliche Vorsehung, an Willensfreiheit und persönliche Unsterblichkeit. Beim Volk, das sie im Gebet und Opfer anleiten, sind sie angesehen. Die Sadduzäer hingegen leugnen das Leben nach dem Tode und befolgen ausschließlich die expliziten Gebote der Schrift. Die Essener – viele Forscher identifizieren sie mit der Sekte, die uns heute durch die Schriftrollen vom Toten Meer bekannt ist – schreiben alle Dinge Gott zu und lehren die Unsterblichkeit der Seele. Ausgezeichnet durch ihren tugendhaften Lebenswandel, meiden sie aufgrund strenger ritueller Reinheitsvorschriften das Tempelopfer und besitzen alles gemeinsam; sie heiraten nicht und halten keine Dienstboten. Josephus behauptet, er habe drei Jahre bei Banus, einem ihrer Lehrer, verbracht, welcher »in der Wüste lebte, nur Kleidung trug, die auf Bäumen wuchs, und ausschließlich Nahrung aß, die von selbst gedieh«. Die vierte Gruppe, die Josephus nicht aufsucht, nennt er die Zeloten. In den meisten Dingen stimmen sie mit den Pharisäern überein, übertreffen sie aber noch in ihrer Bereitschaft, für die Freiheit von aller Herrschaft außer der göttlichen zu sterben.

Das religiöse Leben im Palästina des 1. Jahrhunderts war sogar noch vielfältiger, als Josephus meint. Es gab zwar noch keine Muslime, Drusen oder Bahai, wie man sie im heutigen Israel antrifft. Doch da waren die Samariter, eine jüdische Sekte mit einer anderen ethnischen Identität und einem eigenen Tempel auf dem Berg Garizim. Da waren die Mystiker, die esoterisches Wissen von den »himmlischen Palästen« und dem Aufstieg zu Gott für sich beanspruchten. Es gab die apokalyptischen Visionäre, die das göttliche Gericht und das Ende der Welt verkündeten. Zu der Zeit, als Josephus seine spirituelle Reise unternahm, muss es auch etliche Gruppen von Anhängern Jesu gegeben haben. Allerdings scheinen sie seine Aufmerksamkeit nicht auf sich gezogen zu haben. Außer den Spielarten der jüdischen Religiosität gab es noch die heidnischen und »Mysterien«-Kulte, die im Römischen Reich weit verbreitet waren, schließlich die Religion des Zoroaster (Zarathustra), die im Osten dominierte. An jenen Ausprägungen zeigt Josephus jedoch wenig Interesse; indessen war er offensichtlich in der griechischen Kultur, vor allem in Geschichte und Philosophie, sehr bewandert.

Das Christentum war also im Jahr 50 eine kleinere jüdische Sekte und das Judentum selbst der Kult einer Minderheit innerhalb des Römischen Reiches. Aus der Geschichte wissen wir, dass die kleinen Jesus-Gruppen sich von ihrer »Mutter« trennten und innerhalb von ein paar Jahrhunderten die alten heidnischen Kulte als führende Religion Europas verdrängten, dass die »Philosophie« der Pharisäer sich zum rabbinischen Judentum entwickelte und dass der Islam seit dem 7. Jahrhundert ähnliche Vorstellungen von Gott und der Gesellschaft in weite Teile Afrikas und Asiens trug.

Doch warum trennten sich die Anhänger Jesu schließlich von ihren jüdischen Brüdern? Und warum entstand dieser gegenseitige Hass zwischen den zwei Religionen, die beide die Nächstenliebe predigten?

Warum kam es zur Spaltung?

Von einer erbitterten Konfrontation zwischen den Führern der jüngst gegründeten christlichen Sekte – vermutlich irgendwann zwischen 50 und 60 n. d. Z. – berichtet das 15. Kapitel der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Um diese Zeit hatte Paulus, der bis dahin die Anhänger Jesu unerbittlich bekämpft hatte, seine berühmte Vision auf der Straße nach Damaskus erlebt, worauf er sich der von ihm zuvor verachteten Sekte anschloss. Mit seinem Freund Barnabas kehrte er von Antiochia in Syrien nach Jerusalem zurück, um bei den »Ältesten« um Unterstützung für seine Auffassung zu werben, dass zum Christentum konvertierte Heiden sich weder beschneiden lassen noch dem »Gesetz des Moses« gehorchen mussten.

Es gab eine hitzige Debatte. Während Paulus und Petrus (beide selbst Juden) für eine Lockerung der strengen Anforderungen des Gesetzes plädierten, um den Heiden die Konversion zu erleichtern, hielten andere die uneingeschränkte Verpflichtung gegenüber der Thora und ihren Gesetzen für sakrosankt. Jakobus, der Bruder Jesu, machte schließlich den Vorschlag, man solle den Heiden keine zu große Bürde auferlegen und sie nur anweisen, »Verunreinigung durch Götzenopfer[fleisch] und Unzucht zu meiden und weder Ersticktes noch Blut zu essen« (Apg. 15,29). Dieser Kompromiss, heißt es in der Apostelgeschichte weiter, wurde von der Versammlung angenommen und ein entsprechender Brief nach Antiochia, Syrien und Kilikien abgesandt.

Aus anderer Quelle ist jedoch bekannt, dass dieser Kompromiss keine einhellige Unterstützung fand. Paulus selbst erklärte immer wieder das »Gesetz des Moses« (wozu etwa das Verbot, Fleisch von erstickten Tieren zu essen, gehörte) für obsolet. Andererseits blühte eine Zeitlang die »judenchristliche« Gemeinde, welche die »Thora des Moses« vollständig befolgte und ihre besondere Identität trotz der Marginalisierung durch paulinische Christen jahrhundertelang bewahrte; vermutlich gehörte ihr auch Jakobus an. Über ihre Version des Jerusalemer Apostelkonzils können wir nur spekulieren, denn es waren Paulus’ Nachfolger, die das Neue Testament verfassten und so das spätere Christentum prägten. Geschichte wird von den Siegern geschrieben – in einer Perspektive, die ihre Interpretation der Ereignisse rechtfertigt.

Was immer sich bei dem Konzil in Jerusalem abgespielt haben mag, der Bericht in der Apostelgeschichte wirft ein Schlaglicht auf die Ursachen, die Juden und Christen entzweiten. Offensichtlich war man sich uneinig darüber, ob gewisse Gesetze der Thora noch immer galten. Nicht nur ein Streit über die Glaubenslehre war entbrannt, es drohte vielmehr auch eine gesellschaftliche Spaltung. Eine Nation oder Religionsgemeinschaft definiert ihre Identität über Gesetze, Bräuche und Rituale. Mögen kleinere Meinungsverschiedenheiten oder individuelle Irrtümer sich manchmal eindämmen lassen, den kollektiven Bruch mit den tradierten Gesetzen wird man als Identitätsverlust wahrnehmen. Der Plan des Paulus, die Heiden in die Gemeinschaft der Gläubigen zu integrieren – den »Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum« einzupfropfen und ihn an der »Kraft seiner Wurzel« teilhaben zu lassen, wie er sich (Röm. 11,17) ausdrückt – erwies sich als unvereinbar mit dem jüdischen Selbstverständnis als Volk oder Gemeinschaft. Statt »Juden und Heiden« zu vereinen, schuf dieser Plan zwei feindliche Gruppen, von denen jede behauptete, das »wahre Israel« zu repräsentieren.

 

Aus der Apostelgeschichte geht auch hervor, dass sich die Anhänger Jesu um das Jahr 50 als eine besondere Gruppe konstituiert hatten, die mit der jüdischen religiösen Führung in Jerusalem im Streit lag. Andere ›oppositionelle‹ Gruppen – etwa die Sekten vom Toten Meer – stritten sich ebenfalls mit der Jerusalemer Führung, ohne sich als neue Religionen von ihr abzuspalten. Warum war es in diesem Fall anders?

Der Anspruch der christlichen Sekte, dass es sich bei Jesus um den verheißenen Messias handele, reicht für sich genommen nicht aus, die Spaltung zu erklären; gleiches reklamierten auch andere Sekten für sich ohne solch weitreichende Folgen. Ungewöhnlich war indessen, dass eine Gruppe jemanden zum Messias erkor, der bekanntermaßen tot war. Und paradox musste die Behauptung klingen, dass der Messias just zu der Zeit gekommen war, als das Joch der römischen Fremdherrschaft schwerer denn je auf dem jüdischen Volk lastete und die verheißene Ära des Friedens nicht in Sicht war.

Es war nicht eine einzelne Ursache, sondern eine außergewöhnliche Kombination von dogmatischen Differenzen, gesellschaftlichen Faktoren und äußeren Ereignissen, die den weiteren Weg des Christentums als eine vom jüdischen Glauben verschiedene, wenn auch eng mit ihm verwandte Religion bestimmte. Als die Römer im Jahr 70 den Tempel in Jerusalem zerstörten, vertiefte sich die Spaltung. Die Christen nahmen dieses Ereignis als Beleg dafür, dass Gott die Juden verworfen habe, und sahen ihre eigenen Auffassungen bestätigt. Anders die Juden: sie interpretierten es als gerechte Bestrafung für ihre Sünden, nicht als Verwerfung durch Gott. Es war für sie, als hätte ein Vater seine Kinder gezüchtigt. Auch auf einer mehr profanen Ebene gab es ein starkes materielles Motiv, Distanz zum Judentum und Loyalität zu Rom zu demonstrieren, als nach der Plünderung Jerusalems Kaiser Vespasian eine spezielle Steuer von allen Juden – den fiscus Judaicus – erhob.

Nach dem Jahr 70 gab es sicher kein Zurück mehr. Als Christen und Juden sich in Feindschaft voneinander abgrenzten, verhärteten sich auf beiden Seiten die Lehrmeinungen. Hinzu kam, dass die Christen die »Lehre der Verachtung« in Hinblick auf Juden entwickelten, welche soviel Elend und Blutvergießen über das jüdische Volk bringen sollte, bis sie schließlich, losgelöst von ihrem christlichen Kontext, im Holocaust ihren Höhepunkt erreichte.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»