Gesang der Fledermäuse

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Из серии: Kampa Pocket
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Ich weiß nicht, was er damals meinte.

3 Das Ewige Licht

»Was sterblicher Geburt entspross,

Muss wieder in der Erde Schoß.«

Als ich nach Hause kam, war es schon hell, und ich war nicht ganz bei mir. Wieder schien mir, als hörte ich das Getrappel meiner Mädchen auf dem Boden im Flur, als sähe ich ihre fragenden Blicke, ihre in Falten gelegten Stirnen, ihr Lächeln. Und schon war mein Körper bereit für das zärtliche Begrüßungsritual.

Doch das Haus war ganz leer. Kaltes Weiß fiel durch die Fenster in weichen Wellen nach innen, und das ganze große Hochplateau drängte herein. Ich verwahrte den Rehkopf in der Garage, wo es kalt war, und ich legte Holz nach. So wie ich war, ging ich ins Bett und schlief wie eine Tote.

»Frau Janina.«

Und kurz darauf, lauter: »Frau Janina.«

Eine Stimme im Flur weckte mich. Tief, männlich, schüchtern. Jemand stand im Flur und rief meinen mir verhassten Namen. Das erboste mich doppelt, erstens, weil ich schon wieder am Schlafen gehindert wurde, und zweitens, weil ich meinen Namen weder mochte noch akzeptierte. Er war mir zufällig und gedankenlos verliehen worden. So ist das, wenn der Mensch nicht an die Bedeutung der Worte und noch weniger der Namen denkt, und sie einfach drauflos verwendet. Mich mit »Frau Janina« anzusprechen, konnte ich niemandem gestatten.

Ich stand auf, strich meine Kleidung glatt, die nicht besonders schön aussah, nachdem ich zwei Nächte darin geschlafen hatte, und verließ das Zimmer. Im Flur standen in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee zwei Männer aus dem Dorf. Beide waren groß, breitschultrig und schnurrbärtig. Sie waren einfach eingetreten, weil die Tür nicht abgesperrt gewesen war, und sie sahen mich schuldbewusst an.

»Wir möchten Sie bitten, dorthinzukommen«, sagte der eine mit rauer Stimme. Sie grinsten entschuldigend, und ich sah, dass sie fast identische Zähne hatten. Irgendwoher kannte ich sie, sie arbeiteten als Holzfäller. Ich hatte sie schon einige Male im Dorfladen gesehen.

»Dort komme ich gerade her«, brummte ich.

Sie sagten, die Polizei sei noch nicht da gewesen, und sie warteten auf den Pfarrer. Der Weg sei über Nacht zugeschneit. Sogar der Weg nach Tschechien und nach Wrocław sei nicht befahrbar, und die Lkw steckten in langen Staus. Nur die Nachrichten verbreiteten sich schnell in der Gegend, und einige Bekannte von Bigfoot seien zu Fuß gekommen. Schön zu hören, dass er Bekannte hatte. Die Widrigkeiten des Wetters wirkten sich offenbar positiv auf ihre Laune aus. Sie nahmen es lieber mit dem Schneegestöber auf als mit dem Tod.

Sie pflügten sich durch den flaumigen, frischen weißen Schnee, dem die kalte Wintersonne rote Wangen verlieh, und ich folgte ihnen. Die Männer bahnten mir den Weg. Beide trugen hohe Stiefel aus starkem Gummi mit hohen Filzschäften, was hier die einzige Wintermode für Männer war. Mit ihren breiten Sohlen traten sie für mich eine kleine Rinne frei.

Vor dem Haus standen einige weitere Männer und rauchten. Sie verbeugten sich unsicher und wichen meinem Blick aus. Der Tod eines gemeinsamen Bekannten raubt jedem die Selbstsicherheit. Sie hatten alle den gleichen Gesichtsausdruck aus feierlichem Ernst und förmlicher Trauer. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen. Wer fertig geraucht hatte, ging ins Haus.

Alle, ohne Ausnahme, hatten Schnurrbärte. Sie standen düster um die Couch mit der Leiche herum. In einem fort ging die Tür auf und neue Männer kamen herein, sie brachten Schnee und den metallischen Geruch des Frostes mit. Es waren hauptsächlich ehemalige Arbeiter der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe, die jetzt arbeitslos waren und ab und zu beim Abholzen des Waldes halfen. Einige von ihnen fuhren nach England zum Arbeiten, doch irgendwie kamen sie alle schnell wieder zurück, weil das Fremdsein ihnen Angst machte. Oder sie führten hartnäckig ihre kleine unrentable Landwirtschaft weiter, die sie dank EU-Finanzierungen knapp am Leben erhalten konnten. Nur Männer.

Der Raum dampfte von ihrem Atem, es roch leicht nach Alkohol, Tabak und feuchter Kleidung. Sie warfen einen Blick auf die Leiche, verstohlen und schnell. Sie zogen vernehmlich die Nase hoch, doch es war schwer zu sagen, ob das vom Frost kam. Vielleicht waren diesen riesigen Männern doch die Tränen in die Augen gestiegen? Und nachdem diese dort nicht gesehen werden durften, hatten sie sich in der Nase einen unauffälligen Ausgang gesucht? Weder Matoga noch sonst ein bekanntes Gesicht war unter ihnen.

Einer zog aus der Tasche eine Handvoll Teelichter und reichte sie mir mit einer derart selbstverständlichen Geste, dass ich reflexartig danach griff, ohne zu wissen, was ich damit tun sollte. Erst nach einiger Zeit begriff ich. Aha, ich sollte um Bigfoot herum die Lichter aufstellen und sie anzünden, dann würde es ernst und feierlich werden. Vielleicht könnten die Flammen den Tränen helfen zu fließen und in die langen Schnurrbärte zu sickern. Das würde allen gut tun. Ich hantierte also mit den Kerzen herum, und dabei fürchtete ich, sie könnten mein Engagement falsch verstehen. Sie hielten mich offenbar für die Zeremonienmeisterin, für die Anführerin einer Bestattungsveranstaltung, denn als die Kerzen brannten, wurde es plötzlich still, und alle hefteten ihre traurigen Blicke auf mich.

»Fangen Sie an«, flüsterte der eine, den ich zu kennen glaubte. Ich wusste nicht, was er meinte.

»Fangen Sie an zu singen.«

»Was soll ich denn singen?« Ich wurde ernstlich nervös. »Ich kann nicht singen.«

»Egal was«, sagte er, »am besten die Ewige Ruhe.«

»Warum ich?«, flüsterte ich gereizt.

Und der neben mir stehende Mann sagte entschlossen: »Weil Sie eine Frau sind.«

Ach so. So sind heute also die Akzente verteilt. Ich wusste zwar nicht, was mein Geschlecht mit dem Singen zu tun haben könnte, aber ich wollte mich ausgerechnet in diesem Moment auch nicht gegen die Tradition auflehnen. »Der Herr gebe ihm die Ewige Ruhe.« Ich erinnerte mich an dieses Lied von anderen Begräbnissen in meiner Kindheit. Als Erwachsene war ich kaum noch auf Begräbnisse gegangen. Ich konnte mich nicht mehr an den Text erinnern. Es stellte sich jedoch heraus, dass es genügte, nur den Beginn zu summen, und der Chor der rauen Stimmen fiel unverzüglich ein und kam meinem kläglichen Stimmchen zu Hilfe. Daraus entstand eine wacklige, falsche Mehrstimmigkeit, die allerdings bei jeder Wiederholung an Kraft gewann. Auch mir selber wurde plötzlich leichter zumute, meine Stimme wurde fester, und schnell fielen mir die schlichten Worte vom Ewigen Licht wieder ein, in dem, wie wir alle glaubten, Bigfoot nun ruhte.

So sangen wir etwa eine Stunde lang, immer dasselbe, bis die Worte ihre Bedeutung verloren hatten, als seien sie Steinchen in einem Meer, die, endlos von den Wogen glattgeschliffen, einander glichen wie zwei Sandkörner. Tatsächlich verschaffte uns das Erleichterung, der vor uns liegende Leichnam wurde immer unwirklicher, bis er nichts anderes mehr war, als der Vorwand für diese Begegnung schwer arbeitender Menschen auf unserem windigen Hochplateau. Wir sangen vom Licht, das es irgendwo in der Ferne gibt und das vorerst nicht sichtbar ist. Um es zu erblicken, braucht man nichts anderes zu tun, als zu sterben. Jetzt sehen wir es durch eine Scheibe im Zerrspiegel, doch einmal werden wir ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Und dieses Licht wird uns umarmen, denn es ist unsere Mutter, und aus ihm sind wir entstanden. Jeder von uns trägt ein Teilchen davon in sich, auch Bigfoot. Drum sollte der Tod für uns etwas Tröstliches sein.

Das alles kam mir beim Singen in den Sinn, doch eigentlich habe ich niemals an eine wie auch immer geartete persönliche Zuteilung des Lichts geglaubt. Kein Herrgott wird sich damit befassen, kein himmlischer Buchhalter. Keine Einzelperson könnte so viel Leid aushalten, am wenigsten eine Allwissende. Sie müsste unter dem Druck dieses Schmerzes zerbrechen, es sei denn, sie hätte sich beizeiten mit einem wirksamen Verteidigungsmechanismus ausgerüstet, wie der Mensch. Nur eine Maschine wäre imstande, den ganzen Schmerz der Welt auszuhalten. Nur eine Maschinerie, simpel, effektiv und zweckmäßig. Und da nun sowieso alles mechanisch ablaufen sollte, waren unsere Gebete unnötig.

Als ich hinausging, sah ich, dass die Schnurrbärtigen, die den Pfarrer gerufen hatten, ihn gerade vor dem Haus begrüßten. Er hatte nicht gleich herkommen können, war in den Schneeverwehungen stecken geblieben, und erst jetzt war es gelungen, ihn mit einem Traktor zu holen. Pfarrer Raschel (so nannte ich ihn in Gedanken) schüttelte seine Soutane und sprang mit einer Dankesgeste vom Traktor. Ohne jemanden anzusehen ging er rasch ins Haus. Er ging so nahe an mir vorbei, dass mich sein Geruch anwehte: Kölnisch Wasser und Rauch aus dem Kamin.

Matoga hatte alles ausgezeichnet organisiert. In seinem Arbeitspelz, als Zeremonienmeister, schenkte er aus einer großen chinesischen Thermoskanne Kaffee in Plastikbecher, die er an die Trauernden verteilte. Wir standen vor dem Haus und tranken heißen, süßen Kaffee.

Kurz darauf kam die Polizei, zu Fuß, denn sie hatten ihren Wagen, der keine Winterreifen hatte, auf dem Asphaltweg zurücklassen müssen.

Es waren zwei uniformierte Polizisten und einer in Zivil, in einem langen schwarzen Mantel. Bevor sie in ihren schneeverklebten Stiefeln schwer atmend das Haus betraten, waren wir alle hinausgegangen. Meiner Meinung nach war das eine Bezeugung der Höflichkeit und der Wertschätzung gegenüber der Obrigkeit. Die beiden Uniformierten waren kühl und förmlich, und man sah ihnen an, dass sie ihren Ärger über den Schnee, den langen Weg und die allgemeinen Umstände dieses Falls mühsam unterdrückten. Wortlos klopften sie ihre Stiefel ab und verschwanden im Haus. Der im schwarzen Mantel trat unvermittelt zu mir und Matoga.

 

»Guten Tag, hallo Papa.« Wirklich, er hatte »hallo Papa« gesagt, und zwar zu Matoga. Ich hätte nie gedacht, dass Matoga einen Sohn bei der Polizei haben könnte, einen Sohn, der einen so komischen schwarzen Mantel trug. Matoga stellte uns einander ziemlich ungeschickt vor, er war verlegen. Sie traten rasch beiseite, ich hatte den Namen des Schwarzmantels kaum verstanden.

Dann hörte ich, wie der Sohn den Vater mit Vorwürfen überhäufte.

»Warum, um Himmels willen, hast du ihn angefasst? Hast du nie Filme gesehen? Jeder weiß doch, dass man, ganz egal was passiert, eine Leiche nicht anfasst, bevor die Polizei da war.«

Matoga wehrte sich schwach, als hätte die Tatsache, dass er mit seinem Sohn sprach, ihm alle Kraft geraubt. Ich hätte eher gedacht, dass es umgekehrt sein müsste, dass man aus einem Gespräch mit dem eigenen Kind viel Kraft schöpft.

»Er hat schrecklich ausgesehen, du hättest dasselbe getan wie ich. Er ist an irgendwas erstickt, und er war ganz verkrümmt, dreckig … er war schließlich unser Nachbar, und wir konnten ihn doch nicht einfach so am Boden liegen lassen wie ein, wie …« Er rang nach Worten.

»Ein Tier.« Ich war zu ihnen getreten und vervollständigte den Satz. Es war unerträglich, wie der Schwarzmantel seinen Vater zurechtwies. »Er ist an einem Knochen von einem gewilderten Reh erstickt. Die Rache aus dem Jenseits.«

Der Schwarzmantel streifte mich mit einem Blick und fuhr fort: »Ich könnte dich anzeigen, weil du die Ermittlungen erschwert hast. Sie übrigens auch.« Er wandte sich an mich.

»Du machst wohl Witze. Das wäre lächerlich. Der Sohn als Staatsanwalt.«

Der Sohn beschloss, das unangenehme Gespräch zu beenden.

»Okay, Papa. Ihr werdet dann später beide eine Aussage machen müssen. Es wird wahrscheinlich eine Obduktion geben.«

Er klopfte Matoga auf die Schulter mit dieser zärtlichen Dominanzgeste, als hätte er gesagt: »Okay, Alterchen, jetzt lass mich mal die Sache in die Hand nehmen.«

Dann verschwand er im Haus des Toten, und ich, die ich keine Lösung abwarten wollte, ging heim, mit rauer Kehle. Ich hatte genug.

Aus meinen Fenstern sah ich den Schneepflug vom Dorf heraufkommen. Wir nannten ihn immer »die Weißrussin«. Die Weißrussin ermöglichte es dem Leichenwagen, einem langen, flachen schwarzen Fahrzeug mit dunklen Gardinen, gegen Abend fast bis zum Haus vorzufahren. Allerdings nicht ganz. Denn als ich gegen vier Uhr, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, auf die Veranda trat, sah ich in der Ferne einen bewegten schwarzen Fleck auf dem Weg – es waren die schnurrbärtigen Männer, die den Wagen mit dem Leichnam des Kollegen tapfer den Weg hinaufschoben, zur ewigen Ruhe im Ewigen Licht.

*

Normalerweise läuft mein Fernsehapparat den ganzen Tag, schon zum Frühstück. Das beruhigt mich. Wenn draußen der Winternebel herrscht oder das Morgengrauen schon nach ein paar Stunden unmerklich in Abenddämmerung übergeht, dann scheint mir, als gäbe es dort draußen nichts. Wenn ich nach draußen sehen will, spiegeln die Scheiben nur das Kücheninnere, mein kleines, vollgeräumtes Zentrum des Universums.

Deshalb der Fernsehapparat.

Ich habe eine große Programmauswahl. Die Antenne, die wie eine Emailleschüssel aussieht, hat mir Dyzio einmal mitgebracht. Es gibt einige Dutzend Kanäle, doch das ist mir zu viel. Selbst zehn wären zu viel. Selbst zwei. Eigentlich schaue ich nur den Wetterbericht an. Ich hatte diesen Wetter-Kanal gefunden und gleich darauf, glücklich darüber, dass ich alles hatte, was ich brauchte, die Fernbedienung verschusselt. Vom frühen Morgen an begleitet mich also der Anblick von atmosphärischen Wetterfronten, von wunderschönen abstrakten Linien auf Landkarten, blauen und roten, die unaufhaltsam vom Westen näher rücken, über Tschechien und Deutschland. Die Fronten brachten die Luft, die vor Kurzem in Prag geatmet worden war, oder auch in Berlin. Die Luft strömte vom Atlantik herüber, strich über ganz Europa hinweg, man könnte sagen, dass die Meeresluft immer hier in den Bergen war. Besonders mag ich es, wenn die Luftdruckkarten gezeigt werden, die den unerwarteten Widerstand gegen das morgendliche Aufstehen, die Knieschmerzen oder sonst etwas erklären, etwa auch eine unerklärliche Traurigkeit, deren Natur ganz bestimmt in einer Wetterfront liegt, in einer launenhaften Linie, die sich durch die Erdatmosphäre schlängelt.

Mich bewegen die Satellitenbilder und die Krümmung der Erde. Stimmt es, dass wir auf der Oberfläche einer Kugel leben, dem Blick der Planeten ausgesetzt, in eine große Leere geworfen, in die das Licht nach dem Untergang in kleine Stückchen zersplittert und verspritzt wurde? Es stimmt. Wir sollten uns das täglich vor Augen halten, denn sonst vergessen wir es. Wir glauben, wir seien frei und dass Gott uns verzeiht. Ich persönlich denke anders darüber. Jede unserer Taten, in winzige Vibrationen der Photonen verwandelt, fliegt letztlich in den Kosmos, wie ein Film, und die Planeten werden sie bis ans Ende der Tage ansehen.

Wenn ich mir Kaffee mache, kommt meistens der Wetterbericht für Skifahrer. Die raue Welt der Berge, Abhänge und Täler werden gezeigt, und die inkonsequente Schneedecke bedeckt mit ihrem Weiß nur an wenigen Stellen die schorfige Erdkruste. Im Frühling sind die Skiorte von Allergikern bevölkert, und das Bild kriegt Farbe. Weiche Linien bezeichnen die Gebiete mit ihren Bedrohungen. Wo es rot ist, sind die Attacken der Natur am heftigsten. Diese hat den ganzen Winter über im Winterschlaf gelegen, um jetzt zum Schlag auf das filigrane Immunsystem des Menschen auszuholen. Irgendwann wird sie uns auf diese Art völlig von der Erde verjagen. Vor den Wochenenden kommen die Wetterberichte für Autofahrer, doch deren Realität beschränkt sich auf einige wenige Striche im Reich der Autobahnen. Die Aufteilung der Menschen in drei Gruppen – Skifahrer, Allergiker und Autofahrer – überzeugt mich ganz und gar. Eine simple und gute Typologie. Skifahrer sind Hedonisten. Sie verbreiten sich über die Abhänge. Die Autofahrer hingegen wollen das Schicksal in ihre Hände nehmen, auch wenn dabei oft die Wirbelsäule leidet. Das Leben ist eben einfach schwer. Dann die Allergiker – immer im großen Krieg. Ich gehöre ganz sicher zu den Allergikern.

Ich würde mir noch einen Kanal zum Thema Sterne und Planeten wünschen. »Kosmische Einflüsse TV« oder etwas Ähnliches. So ein Fernsehen bestünde eigentlich nur aus Karten, es würde Einflusslinien zeigen, die Felder der Planetenvernichtung. »Sehr geehrte Damen und Herren, über der Ekliptik wird nun allmählich der Aufgang des Mars sichtbar, dessen Bahn gegen Abend von der Einflussbahn des Pluto durchkreuzt wird. Wir möchten Sie bitten, Ihre Autos in der Garage oder auf überdachten Parkplätzen abzustellen, bitte räumen Sie auch die Messer weg, seien Sie vorsichtig, wenn Sie in den Keller hinuntergehen, und solange dieser Planet auf seinem Weg durch das Zeichen des Krebses ist, empfehlen wir Ihnen, auf heiße Bäder zu verzichten und bei Familienstreitigkeiten eher einen Rückzieher zu machen.« So oder so ähnlich würde uns eine schlanke, ätherische Moderatorin informieren. Und wir wüssten, warum die Züge heute Verspätung hatten, warum der Briefträger mit seinem Cinquecento im Schnee stecken blieb, warum die Mayonnaise nichts geworden ist und die Kopfschmerzen ohne Tabletten plötzlich von selbst verschwanden, wie sie gekommen waren. Wir wüssten, wann man mit dem Haarfärben beginnen soll und zu welchem Zeitpunkt man am besten Hochzeiten plant.

Am Abend betrachte ich die Venus, ich verfolge die Wandlungen dieses schönen Himmelskörpers besonders akribisch. Sie ist mir lieber als der Abendstern, wenn sie aus dem Nichts auftaucht, wie hervorgezaubert, und hinter der Sonne nach unten sinkt. Ein Funken des Ewigen Lichts. In der Dämmerung passieren die interessantesten Dinge, denn dann verschwimmen die einfachen Unterschiede. Ich könnte in ewiger Dämmerung leben.

4 999 Tode

»Wer bezweifelt, was er sieht,

Glaubt euch nie, trotz aller Müh’.

Wär’n Mond und Sonne frei von Zweifeln nicht,

Erlöschte augenblicks ihr Licht.«

Den Rehkopf begrub ich am nächsten Tag auf meinem Friedhof beim Haus. In dieses Erdloch hatte ich fast alles gelegt, was ich aus dem Haus von Bigfoot mitgenommen hatte. Die Plastiktüte, an der noch Blutspuren waren, hängte ich an einen Ast des Pflaumenbaums, als Andenken. Sofort fiel Schnee hinein, der in der Nacht zu Eis gefror. Ich plagte mich lange, um in der gefrorenen, steinigen Erde eine Grube zu graben. Die Tränen gefroren mir auf den Wangen.

Auf das Grab legte ich einen Stein, wie immer. Es gab schon viele solcher Steine auf meinem Friedhof. Hier lag der alte Kater, dessen Leiche ich beim Hauskauf im Keller vorgefunden hatte, die halbwilde Katze, die gleich starb, nachdem sie geworfen hatte, samt ihren Jungen, der Fuchs, den die Waldarbeiter getötet hatten und von dem sie behaupteten, er sei tollwütig gewesen, einige Maulwürfe und ein im letzten Winter von einem Hund totgebissenes Reh. Das waren nur einige der Tiere. Alle, die ich im Wald, in den Schlingen von Bigfoot, tot auffand, brachte ich an einen anderen Ort, damit sie wenigstens irgendwem als Futter dienten. Von diesem hübsch gelegenen Miniaturfriedhof, zwischen einem Teich und einem sanften Hügel, konnte man das ganze Hochplateau überblicken. Hier wollte auch ich einmal liegen und alles in meiner Obhut haben, für immer.

Ich bemühte mich, zweimal täglich einen Rundgang über meine Ländereien zu machen. Ich muss Lufcug immer im Auge haben, daher habe ich mich dazu verpflichten lassen. Der Reihe nach ging ich die von mir betreuten Häuser ab, und zum Schluss stieg ich auf den Hügel, um unser ganzes Hochplateau zu überblicken.

Aus dieser Perspektive konnte ich das sehen, was aus der Nähe unsichtbar war: Die Spuren im Schnee dokumentierten hier im Winter jede Bewegung, und dieser Evidenz konnte nichts entgehen. Der Schnee als sorgfältiger Chronist zeichnete alle Schritte von Tier und Mensch auf, er verewigte auch die wenigen Autospuren. Ich betrachtete aufmerksam unsere Dächer, ob sich nicht irgendwo ein Überhang aus Schnee gebildet hatte, der die Rinne abreißen konnte oder, was noch schlimmer war, beim Kamin hängen blieb. Dort würde er dann langsam schmelzen und Wasser durch die Schindeln nach innen sickern lassen. Ich sah nach den Fenstern, ob sie heil waren, ob ich bei der letzten Visite nichts übersehen und kein Licht brennen gelassen hatte. Und ich inspizierte auch das umliegende Anwesen, die Zäune, die Gartenpforten, die Schuppen und die Holzstapel.

Ich war die Hüterin des Eigentums meiner Nachbarn, während sie ihren Winterarbeiten und ihren Vergnügungen in der Stadt nachgingen. An ihrer statt verbrachte ich hier den Winter für sie, bewahrte ihre Häuser vor Kälte und Feuchtigkeit und kümmerte mich um ihren flüchtigen Besitz. So half ich ihnen an der Finsternis teilzunehmen.

Dummerweise machte mir wieder mein Leiden zu schaffen. Damit musste ich rechnen, Stress und andere ungewöhnliche Ereignisse verstärkten es. Manchmal genügte eine Nacht, in der ich schlecht geschlafen hatte, und alles plagte mich. Dann zitterten meine Hände, und ich hatte ein Gefühl, als flösse Strom durch alle Gliedmaßen, als sei mein Körper von einem unsichtbaren elektrischen Netz umhüllt, und als ob mir jemand wahllos kleine Züchtigungen zufügte. Meine Schultern oder Beine wurden oft von einem unangenehmen, plötzlichen Krampf erfasst. Jetzt zum Beispiel merkte ich, wie ein Bein irgendwie steif wurde, es war ganz taub, und ich fühlte ein Stechen. Beim Gehen zog ich es nach und humpelte. Dazu kam, dass meine Augen seit einem Monat immer wieder plötzlich und grundlos tränten.

Ich entschloss mich, heute trotz Schmerzen den Abhang hinaufzugehen und alles von oben zu betrachten. Sicher wäre die Welt noch an ihrem Ort. Vielleicht würde mich das beruhigen und bewirken, dass sich meine Kehle lockerte und es mir besser ginge. Bigfoot tat mir überhaupt nicht leid. Doch immer, wenn ich sein Haus von Weitem sah, fiel mir sein toter Körper ein, der Körper eines Kobolds in einem kaffeebraunen Anzug, und dann fielen mir die Körper aller lebenden Bekannten ein, die glücklich in ihren Häusern wohnten. Auch ich selbst, mein Bein und der magere, sehnige Körper Matogas, alles schien mir durchsetzt mit ungeheurer Traurigkeit, unerträglich. Ich blickte auf die schwarzweiße Landschaft des Hochplateaus, und mir war klar, dass Traurigkeit ein wichtiges Wort bei der Definition der Welt war. Sie liegt allem zugrunde, sie ist das fünfte Element, die Quintessenz.

Die Landschaft, die vor mir ausgebreitet lag, bestand aus schwarzweißen Schattierungen, aus miteinander verflochtenen Baumreihen entlang der Feldraine. Dort, wo das Gras nicht gemäht wurde, bildete der Schnee keine einheitliche weiße Ebene. Die einzelnen Halme stachen durch seine Oberfläche, was von Weitem so aussah, als hätte eine riesige Hand eben begonnen, ein abstraktes Muster zu skizzieren, als übte sie mit kurzen Strichen, zart und subtil. Ich erkannte feine Figuren, geometrische Felder, Streifen und Rechtecke, jedes anders strukturiert, auf eigene Weise schattiert, verschieden geneigt in der eiligen Winterdämmerung. Und unsere Häuser, alle sieben, standen hier hingeworfen wie ein Teil der Natur, als seien sie zusammen mit den Feldrainen gewachsen, ebenso wie der Bach und die Brücke über den Bach. All das schien sorgfältig projektiert und komponiert zu sein, vielleicht von derselben Hand, die hier Skizzen verfertigt hatte.

 

Auch ich hätte eine Karte dieser Gegend aus dem Gedächtnis zeichnen können. Unser Hochplateau hätte darauf die Form eines dicken Halbmondes bekommen, von einer Seite umgeben von den Silberbergen, einer eher kleinen, niedrigen Bergkette, die halb zu uns, halb zu Tschechien gehört. Auf der anderen, der polnischen Seite standen die Weißen Berge. Dort gibt es nur eine Siedlung – unsere. Das Dorf und die Stadt und alles andere liegen im Tal, im Nordosten. Der Niveauunterschied zwischen dem Hochplateau und dem restlichen Glatzer Kessel ist nicht groß, aber es genügt, um sich hier etwas erhöht zu fühlen und auf alles von oben herabzusehen. Der Weg klettert vom Tal gemächlich, von Norden her eher sanft nach oben, aber die östliche Seite des Hochplateaus ist weiter unten ziemlich steil, sodass die Abfahrt im Winter gefährlich ist. In strengen Wintern leitet die Straßenaufsicht den Verkehr hier um. Wir benutzen den Weg dann unerlaubt, auf eigenes Risiko. Natürlich nur mit einem guten Auto. Eigentlich spreche ich nur von mir. Matoga hat nur ein Moped, und Bigfoot ging zu Fuß. Das steile Stück nennen wir den Steilpass. Unweit davon befindet sich noch ein steiniger Abhang. Wer den für ein Werk der Natur hält, der irrt sich. Es ist nämlich das Überbleibsel eines ehemaligen Steinbruchs, der sich früher einmal in das Hochplateau hineingefressen hatte und es wahrscheinlich irgendwann ganz und gar mit seinen Baggerzähnen verschlungen hätte. Angeblich gibt es Pläne, den Steinbruch wiederzubeleben. Dann werden wir völlig von der Erdoberfläche verschwinden, in den Bäuchen der Maschinen.

Über den Steilpass führt ein Feldweg ins Dorf, der nur sommers befahren wird. Im Westen mündet der Weg in einen anderen, breiteren Weg, doch das ist noch nicht die Hauptstraße. Hier liegt ein Landstrich, den ich für mich Transsylvanien nenne, wegen der hier allgemein vorherrschenden Stimmung. Dort gibt es einen Laden, kaputte Skilifte und einen Hort für Kinder. Der Horizont verläuft hier sehr weit oben, sodass dort ewige Dämmerung herrscht. Am hintersten Ende dieses Landstrichs gibt es noch einen Seitenweg, der zu einer Fuchsfarm führt, aber ich vermeide es, in diese Richtung zu gehen.

Jenseits von Transsylvanien, gleich bei der Auffahrt auf die internationale Route, gibt es eine scharfe Kurve, an der es oft zu Unfällen kommt. Dyzio hat sie die Rinderherzkurve genannt, weil er einmal gesehen hatte, wie aus einem Lkw vom Schlachthof eines städtischen Bonzen eine Kiste mit Innereien fiel und die Herzen der Rinder über die Straße kollerten, jedenfalls behauptet er das. Es scheint mir ziemlich makaber, und ich bin keineswegs sicher, ob er sich das alles nur eingebildet hat. Dyzio ist manchmal hypersensibel, besonders bei gewissen Themen. Der Asphaltweg verbindet die Städte im Kessel. Bei gutem Wetter kann man auch von unserem Hochplateau diesen Weg sehen, und die darauf aufgefädelten Städte Kudowa und Lewin, und im Norden sogar, in weiter Ferne, die Orte Nowa Ruda, Kłodzko, zu deutsch Glatz, und Ząbkowice, das vor dem Krieg Frankenstein hieß.

Das ist schon die große weite Welt. Ich fuhr immer mit meinem Samurai über den Steilpass in die Stadt. Nach dem steilen Stück ging es links ab zur launisch gewundenen Grenze, die man bei jedem längeren Spaziergang ganz leicht und unbemerkt überschreiten konnte. Das passierte mir oft aus Unachtsamkeit, wenn ich bei meinem Rundgang so weit kam. Aber manchmal wollte ich sie auch absichtlich überschreiten, hin und her. Zwanzig-, dreißigmal. So amüsierte ich mich eine halbe Stunde mit Grenzüberschreitungen. Es macht mir Spaß, weil es mich an die Zeit erinnert, als es nicht möglich war. Grenzen zu überschreiten gefällt mir.

Meistens kontrollierte ich zuerst das Professorenhaus, mein Lieblingshaus. Es war klein und schlicht. Ein schweigsames, einsames Häuschen mit weißen Mauern. Das Professorenehepaar wohnte selten dort, öfter als sie tauchten ihre Kinder hier mit Freunden auf, und dann trug der Wind ihre lauten Stimmen zu mir herüber. Das Haus mit offenen Fensterläden, hell erleuchtet und voll lauter Musik, schien mir überrumpelt und wie betäubt zu sein. Man könnte sagen, dass es mit den sperrangelweit klaffenden Fensteröffnungen idiotisch aussah. Es kam aber sofort wieder zu sich, wenn sie abreisten. Sein Schwachpunkt war das steile Dach. Der Schnee rutschte von ihm herunter und lag bis in den Mai hinein an der nordseitigen Mauer, und durch diese drang Feuchtigkeit nach innen. Dann musste ich den Schnee wegräumen, eine schwere und undankbare Arbeit. Im Frühling bestand meine Aufgabe darin, den Garten in Ordnung zu halten. Ich pflanzte Blumen und pflegte alles, was auf dem Stückchen Erde vor dem Haus wuchs. Das tat ich gern. Es kam vor, dass kleinere Reparaturen notwendig waren, dann rief ich die Eigentümer in Wrocław an, und sie überwiesen mir Geld auf ein Konto. Damit konnte ich Arbeiter beauftragen und die Arbeiten lediglich beaufsichtigen.

Ich bemerkte in diesem Winter auch, dass in ihrem Keller Fledermäuse wohnten, eine ziemlich große Familie. In den Keller war ich nur deshalb hinabgestiegen, weil ich glaubte, von dort käme das Geräusch tropfenden Wassers. Ein Rohrbruch wäre ein ziemliches Malheur gewesen. Doch dann sah ich die im steinernen Deckengewölbe zusammengedrängte Schar der schlafenden Fledermäuse. Sie hingen bewegungslos dort, und es sah aus, als beobachteten sie mich im Schlaf, als spiegele sich das Licht der Glühbirnen in ihren offenen Augen. Flüsternd verabschiedete ich mich von ihnen, bis zum Frühling. Einen Wasserschaden hatte ich nicht entdecken können, und so stieg ich auf Zehenspitzen wieder nach oben.

Im Haus der Schriftstellerin gab es Marder. Ich gab ihnen keine einzelnen Namen, denn ich konnte sie weder zählen noch unterscheiden. Man sieht sie nur selten, und das ist ihre besondere Eigenschaft, sie sind wie Geister. Sie erscheinen und verschwinden so schnell, dass man nicht glaubt, was man gesehen hat. Schöne Tiere, die Marder. Ich würde sie im Wappen tragen, bei Bedarf. Sie scheinen leicht und unschuldig zu sein, aber der Schein trügt. In Wirklichkeit sind es gefährliche und durchtriebene Wesen. Zwischen ihnen und den Katzen, Mäusen und Vögeln herrscht ewiger Kleinkrieg, und auch untereinander wird ständig gekämpft. Im Haus der Schriftstellerin hatten sie sich zwischen den Dachziegeln und der Wärmedämmung des Speichers eingenistet, und ich habe sie in Verdacht, dass sie dort Verwüstungen anrichten, die Mineralwolle wegreißen und Löcher in die Holzplatten beißen.

Die Schriftstellerin kam meistens im Mai angereist, ihr Auto voll gestopft mit Büchern und exotischen Nahrungsmitteln. Ich half ihr immer beim Auspacken, denn sie hatte eine kranke Wirbelsäule. Nach einem Unfall trug sie eine orthopädische Halskrause. Aber vielleicht war ihre Wirbelsäule auch vom Schreiben kaputt. Sie sah aus wie jemand, der Pompeji überlebt hatte, als sei sie unter Asche begraben gewesen. Ihr Gesicht war fahl, sowohl die Farbe der Lippen als auch die der Augen war grau. Die langen grauen Haare trug sie nach oben gekämmt, auf dem Kopf straff mit einem Gummi gebunden und zu einem kleinen Dutt zusammengedreht. Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, läse ich sicher ihre Bücher. Da ich sie aber besser kannte, fürchtete ich mich davor. Vielleicht hatte sie meine geliebten Orte auf eine Art und Weise beschrieben, die ich nicht begriff. Vielleicht waren meine geliebten Orte für sie etwas ganz anderes als für mich. In irgendeinem Sinn sind Personen wie sie, die schreiben können, gefährlich. Sofort drängt sich einem der Verdacht auf, dass sie nicht echt sind, dass so eine Person nicht sie selbst ist, sondern nur das Auge, das in einem fort schaut und das Gesehene in Sätze verwandelt. Auf diese Art raubt sie der Realität das Allerwichtigste, nämlich das Unaussprechliche.

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