Lord Arthur Saviles Verbrechen

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Dann kam sein Kammerdiener und brachte ihm eine Tasse Schokolade auf einem Tablett. Nachdem er sie ausgetrunken hatte, schob er eine schwere Portiere von pfirsichfarbenem Plüsch beiseite und ging ins Badezimmer. Das Licht fiel sanft von oben durch dünne Scheiben von durchsichtigem Onyx, und das Wasser im Marmorbecken schimmerte wie ein Mondstein. Er stieg rasch hinein, bis die kühlen Wellen ihm Brust und Haare benetzten, und dann tauchte er auch den Kopf unter, als wolle er die Flecken irgendeiner schmachvollen Erinnerung von sich abspülen. Als er herausstieg, fühlte er sich fast beruhigt. Das ausgezeichnete physische Wohlbefinden des Augenblicks beherrschte ihn, wie dies oft bei sehr feingearteten Naturen der Fall ist, denn die Sinne können, wie das Feuer, ebensogut reinigen wie zerstören.

Nach dem Frühstück legte er sich auf den Diwan und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Kaminsims, gerahmt in köstlichen alten Brokat, stand eine große Photographie von Sybil Merton, wie er sie zum ersten Male auf dem Ball von Lady Noel gesehen hatte. Der schmale, entzückend geschnittene Kopf war leicht zur Seite geneigt, als könne der zarte Hals, schlank wie ein Rohr, die Last so vieler Schönheit nicht tragen. Die Lippen waren leicht geöffnet und schienen zu süßer Musik geschaffen. Und all die zarte Reinheit der Jungfräulichkeit blickte wie verwundert aus den träumerischen Augen. Mit ihrem leichten, sich an den Körper schmiegenden Kleide aus Crêpe de Chine und ihrem breiten, blattförmigen Fächer glich sie einer jener kleinen, zarten Figuren, die man in den Olivenwäldern bei Tanagra findet. Ein Hauch griechischer Grazie lag auch in der Stellung und Haltung. Und doch war sie nicht petite. Sie war einfach von vollendetem Ebenmaß, eine Seltenheit in einer Zeit, wo so viele Frauen entweder übergroß oder zu klein sind.

Als Lord Arthur jetzt das Bild ansah, erfüllte ihn das furchtbare Mitleid, das der Liebe entspringt. Er fühlte, daß sie zu heiraten mit dem Verhängnis des Mordes, das über seinem Haupte schwebte, ein Verrat wäre, gleich dem des Judas, ein Verbrechen, schlimmer als je ein Borgia es erträumt. Welches Schicksal würde ihrer harren, wenn jeder Augenblick ihn rufen konnte, das zu erfüllen, was in seiner Hand geschrieben stand? Welches Leben würden sie führen, indes seine unheilvolle Bestimmung in der Waagschale des Fatums lag! Die Heirat mußte um jeden Preis verschoben werden. Dazu war er unbedingt entschlossen. Fest entschlossen, obwohl er das Mädchen liebte und die bloße Berührung ihrer Fingerspitzen, wenn sie beisammensaßen, ihm jeden Nerv in wunderbarer Wonne erbeben ließ; er erkannte klar, was seine Pflicht war, und war sich bewußt, daß er nicht das Recht hatte zu heiraten, ehe er den Mord begangen hatte. War es einmal geschehen, dann konnte er mit Sybil Merton vor den Altar treten und sein Leben in ihre Hände legen, ohne fürchten zu müssen, unrecht zu handeln. War es einmal geschehen, so konnte er sie in seine Arme schließen, und sie würde niemals für ihn erröten, niemals den Kopf in Schande beugen müssen. Aber geschehen mußte es erst, und je früher, desto besser für beide.

Viele Männer in seiner Lage hätten gewiß den Blumenpfad der Liebeständelei den steilen Höhen der Pflicht vorgezogen. Aber Lord Arthur war zu gewissenhaft, um den Genuß dem Prinzip vorzuziehen. Seine Liebe war mehr als bloße Leidenschaft. Und Sybil war ihm ein Symbol für alles Gute und Edle. Einen Augenblick hatte er einen natürlichen Widerwillen gegen die Tat, die ihm aufgezwungen war, aber das ging rasch vorüber. Sein Herz sagte ihm, daß es keine Sünde, sondern ein Opfer wäre; seine Vernunft erinnerte ihn daran, daß ihm kein anderer Weg offenstünde. Er hatte zu wählen zwischen einem Leben für sich selbst und einem Leben für andere, und so schrecklich zweifellos die Aufgabe war, die er erfüllen mußte, er wußte doch, daß er den Eigennutz nicht über die Liebe triumphieren lassen dürfe. Früher oder später werden wir alle vor dieselbe Entscheidung gestellt, wird uns dieselbe Frage vorgelegt. An Lord Arthur trat sie früh im Leben heran – ehe sein Charakter von dem berechnenden Zynismus der mittleren Jahre verdorben war, bevor sein Herz zerfressen war von dem oberflächlichen Mode-Egoismus unserer Tage, und er zögerte nicht, seine Pflicht zu tun. Zu seinem Glücke war er kein bloßer Träumer, kein müßiger Dilettant. Wäre er das gewesen, würde er gezögert haben wie Hamlet, und die Unentschlossenheit hätte seinen Willen gelähmt. Aber er war eine durch und durch praktische Natur. Das Leben bestand für ihn mehr im Handeln als im Denken. Er besaß das Seltenste auf Erden: gesunden Menschenverstand.

Die wilden, verworrenen Empfindungen der vergangenen Nacht waren mittlerweile verschwunden, und er blickte beinahe mit einem Gefühl von Scham auf seine kopflose Wanderung von Straße zu Straße, auf den wütenden Aufruhr in seiner Seele zurück. Gerade die Wahrheit seiner Qualen ließ sie ihm jetzt unwirklich erscheinen. Er fragte sich verwundert, warum er so töricht gewesen sei, gegen das Unvermeidliche zu toben und zu rasen. Die einzige Frage, die ihn jetzt zu quälen schien, war, wen er umbringen sollte; denn er war nicht blind gegen die Tatsache, daß der Mord, wie die Religionsübungen der heidnischen Welt, ebenso ein Opfer verlangt wie einen Priester. Da er kein Genie war, hatte er keine Feinde, und er fühlte auch, daß es jetzt nicht an der Zeit wäre, irgendeine persönliche Antipathie oder Ranküne zu befriedigen, daß vielmehr die Aufgabe, die ihm auferlegt war, eine große und tiefe Feierlichkeit erforderte. Er setzte also auf einem Blatt Papier eine Liste seiner Freunde und Verwandten auf und entschied sich nach langer Überlegung für Lady Clementina Beauchamp, eine gute alte Dame, die in der Curzon Street wohnte und die seine Cousine zweiten Grades von Mutterseite her war. Er hatte Lady Clem, wie alle in der Familie sie nannten, immer sehr gern gehabt, und da er selbst sehr wohlhabend war – er hatte bei seiner Volljährigkeit den ganzen Besitz Lord Rugbys geerbt –, so bestand nicht die Möglichkeit, daß man ihm gemeine Geldinteressen an ihrem Tod unterschieben könnte. Je mehr er über die Sache nachdachte, desto mehr schien sie ihm die richtige zu sein, und da er fühlte, daß jeder Aufschub unrecht gegen Sybil sein würde, entschloß er sich, sofort seine Vorbereitungen zu treffen.

Zuallererst mußte natürlich die Angelegenheit mit dem Chiromanten geordnet werden; er setzte sich also an einen kleinen Sheratonschreibtisch, der am Fenster stand, und schrieb einen Scheck über hundertfünf Pfund aus, zahlbar an Mr. Septimus Podgers, steckte die Anweisung in einen Umschlag und gab seinem Diener den Auftrag, ihn nach der West Moon Street zu bringen. Dann liess er seinen Wagen kommen und zog sich zum Ausgehen an. Bevor er das Zimmer verließ, warf er noch einen Blick auf Sybil Mertons Bild zurück und schwor sich zu, daß, was auch kommen möge, er sie nie wissen lassen würde, was er jetzt um ihretwillen tue; er würde vielmehr das Geheimnis seiner Selbstaufopferung immer in seinem Herzen bewahren.

Auf dem Wege zu seinem Klub ließ er vor einem Blumenladen halten und schickte Sybil einen wundervollen Korb mit Narzissen mit entzückenden weißen Blütenblättern und starren Fasanenaugen. Als er in seinem Klub ankam, ging er sofort in das Bibliothekszimmer, klingelte dem Diener und ließ sich ein Glas Selterswasser mit Zitrone und ein Buch über Toxicologie bringen. Er war sich vollkommen darüber klar, daß Gift das beste Mittel für sein schwieriges Unternehmen sei. Jede persönliche Gewaltanwendung widerstrebte ihm durchaus, und überdies wollte er Lady Clementina entschieden nicht auf eine Weise umbringen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregen konnte. Der Gedanke, bei Lady Windermeres Empfängen zum Löwen des Tages gemacht zu werden oder seinen Namen in den Spalten gemeiner Klatschblätter zu finden, war ihm ein Greuel. Außerdem mußte er an Sybils Eltern denken, die ziemlich altmodische Leute waren und sich vielleicht der Heirat widersetzen könnten, wenn es jetzt irgendeinen Skandal gab; trotzdem war er vollkommen davon überzeugt, daß sie, wenn er ihnen den wahren Sachverhalt mitteilte, die ersten wären, die Motive, die ihn zur Tat getrieben hatten, zu würdigen. Alles war also dazu angetan, ihn zur Wahl von Gift zu bestimmen. Das war sicher, ruhig und unfehlbar, und man vermied dabei alle peinlichen Szenen, gegen die er, wie die meisten Engländer, eine eingewurzelte Abneigung hatte.

In der Giftkunde aber waren seine Kenntnisse gleich Null, und da der Diener in der Bibliothek nichts darüber finden konnte als Ruff's Guide und Bailey's Magazine, sah er selbst in den Büchergestellen nach und stieß schließlich auf eine hübsch gebundene Ausgabe der Pharmacopœia und ein Exemplar von Erskines Toxicologie, herausgegeben von Sir Mathew Reid, dem Präsidenten der Königlichen Physikalischen Gesellschaft und einem der ältesten Mitglieder des Klubs, in den er irrtümlich an Stelle eines andern aufgenommen worden war – ein Versehen, das das Komitee so geärgert hatte, daß es, als der richtige Mann erschien, ihn einstimmig durchfallen ließ. Lord Arthur kannte sich in den Fachausdrücken der beiden Bücher gar nicht aus und begann schon bitter zu bereuen, daß er in Oxford nicht fleißiger die klassischen Sprachen studiert hatte, als er im zweiten Bande von Erskine einen sehr interessanten und vollständigen Bericht über die Eigenschaften des Akonits fand, der ziemlich klar geschrieben war. Das schien ihm gerade das Gift zu sein, das er brauchte. Es wirkte schnell – seine Wirkung wurde sogar augenblicklich genannt –, vollkommen schmerzlos, und, wenn man es in einer Gelatinekapsel nahm, wie dies Sir Mathew empfahl, schmeckte es keineswegs unangenehm. Er notierte sich also auf seiner Manschette die für einen letalen Ausgang notwendige Dosis, stellte die Bücher auf ihren Platz zurück und schlenderte in die St. James Street zu Pestle & Humbey's, dem großen Chemikaliengeschäft. Mr. Pestle, der die Aristokratie immer selbst bediente, war einigermaßen überrascht über den Auftrag und murmelte in sehr untertäniger Weise etwas über die Notwendigkeit einer ärztlichen Verordnung. Als ihm aber Lord Arthur erklärte, daß er das Gift für eine große dänische Dogge brauche, die er töten müsse, weil sie Zeichen beginnender Tollwut zeige und den Kutscher bereits zweimal in die Wade gebissen habe, war er vollkommen zufriedengestellt, beglückwünschte Lord Arthur zu seinen ausgezeichneten Kenntnissen in der Toxicologie und ließ das Gewünschte sofort herstellen.

 

Lord Arthur legte die Kapsel in eine hübsche, kleine Silberbonbonniere, die er in der Bond Street in einer Auslage sah, warf die häßliche Pillenschachtel von Pestle & Humbey's weg und fuhr sofort zu Lady Clementina.

»Ei, Monsieur le mauvais sujet!« rief die alte Dame, als er ins Zimmer trat. »Warum hast du dich denn so lange nicht bei mir blicken lassen?«

»Meine teure Lady Clem, ich hatte wirklich keinen Augenblick Zeit«, sagte Lord Arthur und lächelte.

»Willst du damit vielleicht sagen, daß du den ganzen Tag herumläufst, um mit Sybil Merton Einkäufe zu machen und Unsinn zu schwatzen? Ich verstehe gar nicht, warum die Menschen soviel Wesens davon machen, wenn sie heiraten. Zu meiner Zeit dachte kein Mensch daran, aus diesem Anlaß öffentlich oder heimlich zu girren und zu schnäbeln.«

»Ich versichere dich, ich habe Sybil seit vierundzwanzig Stunden nicht gesehen, Lady Clem. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, ist sie ganz und gar in den Händen ihrer Modistinnen.«

»Natürlich – das ist auch der einzige Grund, warum du einer alten, häßlichen Frau wie mir einen Besuch machst! Daß ihr Männer euch doch nicht warnen laßt! On a fait des folies pour moi – und heute sitze ich da, ein armes rheumatisches Wesen mit einem falschen Scheitel und schlechter Laune! ... Wahrhaftig, wenn mir nicht die liebe Lady Jansen die schlechtesten französischen Romane schickte, die sie auftreiben kann, ich wüßte nicht, was ich mit meinem Tag anfangen sollte. Ärzte taugen gar nichts, höchstens Honorare können sie einem abpressen. Nicht einmal mein Sodbrennen können sie heilen.«

»Ich habe dir ein Mittel dagegen mitgebracht, Lady Clem«, sagte Lord Arthur ernst. »Ein ganz ausgezeichnetes Mittel. Ein Amerikaner hat es erfunden.«

»Weißt du, ich liebe amerikanische Erfindungen nicht sehr, Arthur. Eigentlich ganz und gar nicht. Neulich habe ich ein paar amerikanische Romane gelesen, die waren der reine Unsinn.«

»Dies Mittel ist aber durchaus nicht unsinnig, Lady Clem. Ich versichere dich, es wirkt außerordentlich. Du mußt mir versprechen, es zu versuchen.« Und Lord Arthur zog die kleine Büchse aus der Tasche und übergab sie ihr.

»Die Büchse ist wirklich reizend, Arthur. Ist das ein Geschenk? Das ist aber wirklich lieb von dir. Und das ist das Wundermittel? Es sieht aus wie ein Bonbon. Ich werd' es gleich mal nehmen.«

»Um Gottes willen, Lady Clem«, rief Lord Arthur und hielt ihre Hand fest. »Tu das nicht. Es ist ein homöopathisches Mittel. Wenn du es nimmst, ohne Sodbrennen zu haben, kann es dir nur schaden. Du mußt warten, bis du einen Anfall hast, und es dann nehmen. Der Erfolg wird dich überraschen.«

»Ich möchte es aber gleich nehmen«, sagte Lady Clementina und hielt die kleine, durchsichtige Kapsel mit dem darin schwimmenden Tropfen Akonit gegen das Licht. »Es schmeckt gewiß ausgezeichnet. Doktoren hasse ich, aber einnehmen tue ich ganz gern. Also meinetwegen, ich werde mir's aufheben bis zum nächsten Anfall.«

»Und wann wird der sein?« fragte Lord Arthur eifrig. »Bald?«

»Ich hoffe, diese Woche nicht mehr. Gestern früh ging es mir sehr schlecht. Aber man weiß ja nie.«

»Aber du wirst doch sicher noch einen Anfall vor Ende des Monats haben, Lady Clem?«

»Das befürchte ich leider. Aber wie mitfühlend du heute bist, Arthur! Sybil hat wirklich einen sehr guten Einfluß auf dich! Jetzt mußt du aber gehen, denn ich habe ein paar sehr langweilige Menschen zum Essen eingeladen, die nicht die geringste Skandalgeschichte kennen, und wenn ich jetzt nicht mein Schläfchen mache, bin ich bestimmt nicht imstande, während des Essens wachzubleiben. Leb wohl, Arthur, grüß Sybil von mir und vielen Dank für das amerikanische Mittel.«

»Du wirst nicht vergessen, es zu nehmen, Lady Clem, nicht wahr?« sagte Lord Arthur und stand von seinem Stuhl auf.

»Gewiß nicht, mein Junge. Es war sehr nett von dir, daß du an mich gedacht hast, und ich werde dir schreiben, wenn ich noch mehr davon nötig habe!«

Lord Arthur verließ das Haus in froher Laune und mit dem Gefühl ungeheurer Erleichterung.

Am Abend hatte er eine Unterredung mit Sybil Merton. Er sagte ihr, daß er plötzlich in eine furchtbar schwierige Situation geraten sei, von der weder Ehre noch Pflicht ihm zurückzutreten gestatte. Er sagte ihr, daß die Hochzeit verschoben werden müsse, denn ehe er sich nicht aus seinen furchtbaren Verpflichtungen gelöst habe, sei er kein freier Mann. Er bat sie, ihm zu vertrauen und wegen der Zukunft keine Zweifel zu hegen. Alles würde wieder in Ordnung kommen, nur Geduld sei notwendig.

Das Gespräch fand im Wintergarten bei Mertons in Park Lane statt, wo Lord Arthur, wie gewöhnlich, zum Diner geblieben war. Sybil war ihm nie glückstrahlender erschienen, und einen Augenblick war Lord Arthur versucht gewesen, feige zu sein, an Lady Clementina wegen der Pille zu schreiben und es bei dem festgesetzten Hochzeitstermine zu lassen, als ob es überhaupt keinen Menschen namens Podgers auf der Welt gäbe. Aber sein besseres Ich gewann doch die Oberhand, und selbst als Sybil sich ihm weinend in die Arme warf, wurde er nicht schwach. Ihre Schönheit, die seine Sinne erregte, rührte auch an sein Gewissen. Er fühlte, daß es unrecht wäre, ein so herrliches Leben um einiger Monate willen zu zerstören.

Er blieb fast bis Mitternacht mit Sybil beisammen, tröstete sie und ließ sich von ihr trösten. Am nächsten Morgen reiste er nach Venedig, nachdem er in einem männlich entschlossenen Briefe Mr. Merton die notwendige Verschiebung der Hochzeit mitgeteilt hatte.

4

In Venedig traf er seinen Bruder, Lord Surbiton, der eben in seiner Yacht von Korfu angekommen war. Die beiden jungen Leute verbrachten zwei wundervolle Wochen zusammen. Des Morgens ritten sie auf dem Lido oder glitten in ihrer schwarzen Gondel die grünen Kanäle auf und ab. Am Nachmittag empfingen sie Besuche auf ihrer Yacht. Und am Abend dinierten sie bei Florian und rauchten ungezählte Zigaretten auf der Piazza. Aber Lord Arthur war nicht glücklich. Jeden Tag studierte er die Totenliste in der Times, immer in der Erwartung, auf Lady Clementinens Todesnachricht zu stoßen, aber jeden Tag wurde er enttäuscht. Er begann zu fürchten, daß ihr irgendein Unfall zugestoßen sei, und bedauerte oft, daß er sie daran gehindert hatte, das Akonit zu nehmen, als sie so begierig darauf war, die Wirkung des Mittels zu erproben. Auch Sybils Briefe, so voll von Liebe, Vertrauen und Zärtlichkeit sie auch waren, klangen oft sehr traurig, und manchmal war ihm zumute, als sei er von ihr für ewig geschieden.

Nach vierzehn Tagen hatte Lord Surbiton von Venedig genug und beschloß, längs der Küste nach Ravenna zu fahren, da er gehört hatte, es gäbe dort wundervolle Gelegenheit, Wasserhühner zu schießen. Lord Arthur weigerte sich anfangs entschieden mitzukommen, aber Surbiton, den er sehr gern hatte, überzeugte ihn schließlich, daß er, wenn er allein bei Danieli bliebe, sich unfehlbar zu Tode langweilen würde, und so fuhren sie denn am Morgen des 15. bei einer kräftigen Nordostbrise und ziemlich rauher See ab. Die Jagd war ausgezeichnet, und das Leben in freier Luft färbte Lord Arthurs Wangen wieder; aber um den 22. herum wurde er wieder ängstlich wegen Lady Clementina, und Surbitons Gegenvorstellungen zum Trotz reiste er mit der Bahn nach Venedig zurück.

Als er vor den Stufen des Hotels aus der Gondel stieg, kam ihm der Hotelwirt mit einem Haufen Telegramme entgegen. Lord Arthur riß sie ihm aus der Hand und öffnete sie. Alles war nach Wunsch gegangen. Lady Clementina war ganz plötzlich in der Nacht des 17. gestorben.

Sein erster Gedanke galt Sybil, und er telegraphierte ihr, daß er sofort nach London zurückkehre. Dann befahl er seinem Kammerdiener, alles für den Nachtzug einzupacken, schickte dem Gondoliere etwa das Fünffache der Taxe und eilte leichtfüßig und frohen Herzens auf sein Zimmer. Dort erwarteten ihn drei Briefe. Der eine war von Sybil, voller Sympathie und Teilnahme, die anderen waren von seiner Mutter und von Lady Clementinens Anwalt. Es schien, daß die alte Dame noch am Abend mit der Herzogin gespeist hatte; sie hatte alle Welt durch ihren Witz und Geist entzückt, war aber frühzeitig nach Hause gegangen, da sie über Sodbrennen klagte. Des Morgens fand man sie tot in ihrem Bette. Sie hatte offenbar keinerlei Schmerz erduldet. Man hatte sofort nach Sir Mathew Reid geschickt, aber es war natürlich nichts mehr zu machen gewesen, und so sollte sie am 22. in Beauchamp Chalcote begraben werden. Einige Tage vor ihrem Tode hatte sie ihr Testament gemacht. Sie hinterließ Lord Arthur ihr kleines Haus in der Curzon Street mit seiner ganzen Einrichtung, mit ihrem ganzen persönlichen Besitz und allen Gemälden mit Ausnahme ihrer Miniaturensammlung, die sie ihrer Schwester, Lady Margarete Ruffort, vermachte, und ihres Amethystenkolliers, das Sybil Merton erhalten sollte. Der Besitz hatte keinen großen Wert. Aber Mr. Mansfield, der Anwalt, drängte, daß Lord Arthur so rasch als möglich heimkehre, da eine ganze Menge Rechnungen zu bezahlen wären, weil Lady Clementina nie rechte Ordnung in ihren Geldangelegenheiten gehalten hätte.

Lord Arthur war sehr gerührt, daß Lady Clementina so gütig seiner gedacht hatte, und er fühlte, daß eigentlich nur Mr. Podgers daran schuld sei. Aber seine Liebe zu Sybil brachte jedes andere Gefühl zum Schweigen, und das Bewußtsein, seine Pflicht getan zu haben, gab ihm Ruhe und Frieden. Als er in Charing Cross ankam, fühlte er sich vollkommen glücklich. Die Mertons empfingen ihn sehr liebenswürdig. Sybil ließ sich von ihm hoch und heilig versprechen, daß er nun nichts mehr zwischen sie beide treten lassen würde, und die Hochzeit wurde auf den 7. Juni festgesetzt. Das Leben schien ihm noch einmal so hell und schön, und sein alter Frohsinn kehrte zurück.

Eines Tages aber ging er mit Lady Clementinens Anwalt und Sybil in das Haus in der Curzon Street. Er verbrannte Pakete vergilbter Briefe, und sie kramte aus Schubladen allerhand merkwürdiges Zeug. Plötzlich schrie das junge Mädchen ganz entzückt auf.

»Was hast du gefunden, Sybil?« sagte Lord Arthur und sah lächelnd auf.

»Diese entzückende kleine Silberbonbonniere, Arthur. Ist sie nicht reizend? Holländische Arbeit, nicht wahr? Sei so gut und gib sie mir. Ich weiß ja doch, daß mir Amethyste nicht stehen werden, ehe ich nicht über achtzig bin.«

Es war das Büchschen, in dem das Akonit gewesen war.

Lord Arthur schrak zusammen, und ein schwaches Rot stieg in seine Wangen. Er hatte seine Tat schon fast völlig vergessen, und es schien ihm ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Sybil, um derentwillen er all die furchtbare Angst durchgemacht, nun die erste war, die ihn an sie erinnerte.

»Natürlich kannst du es haben, Sybil. Ich selbst habe es Lady Clem geschenkt.«

»Oh, ich danke dir, Arthur. Und nicht wahr, ich darf das Bonbon auch haben? Ich wußte gar nicht, daß Lady Clementina Süßigkeiten gern hatte. Ich glaubte immer, sie sei dazu viel zu intellektuell.«

Lord Arthur wurde totenbleich, und ein furchtbarer Gedanke schoß ihm durchs Gehirn.

»Ein Bonbon, Sybil – was meinst du damit?« sagte er mit leiser, heiserer Stimme.

»Es ist nur eins darin, ein einziges. Aber es sieht schon ganz alt und staubig aus, und ich habe durchaus nicht die Absicht, es zu essen. Aber – was ist dir denn, Arthur, du bist ja ganz blaß geworden?!«

Lord Arthur sprang auf und ergriff das Büchschen. Darin lag die bernsteinfarbene Kapsel mit dem Gifttropfen. Lady Clementina war also eines ganz natürlichen Todes gestorben!

Die Entdeckung warf ihn fast um. Er schleuderte die Kapsel ins Feuer und sank mit einem Schrei der Verzweiflung aufs Sofa.

5

Mr. Merton war einigermaßen unwillig, als er von einer zweiten Verschiebung der Hochzeit hörte, und Lady Julia, die bereits ihre Toilette für die Hochzeit bestellt hatte, tat alles, was in ihrer Macht lag, um Sybil zur Lösung des Verlöbnisses zu bewegen. Sosehr aber auch Sybil ihre Mutter liebte, sie hatte nun einmal ihr Leben in Arthurs Hände gelegt, und nichts, was Lady Julia auch sagen mochte, konnte ihren Glauben an ihn erschüttern. Lord Arthur brauchte Tage, bis er über die furchtbare Enttäuschung hinwegkam, und eine Zeitlang waren seine Nerven total erschöpft. Aber sein ausgezeichneter Menschenverstand machte sich bald wieder geltend, und sein gesunder, praktischer Sinn ließ ihn nicht lange darüber im Zweifel, was nun zu tun sei. Da er mit dem Gift einen so vollkommenen Mißerfolg gehabt hatte, mußte er jetzt die Sache offenbar mit Dynamit oder einem anderen Explosivstoff versuchen.

 

Er sah also nochmals die Liste seiner Freunde und Verwandten durch, und nach sorgfältiger Überlegung entschloß er sich, seinen Onkel, den Dechanten von Chichester, in die Luft zu sprengen. Der Dechant, ein hochgebildeter und sehr gelehrter Mann, war ein großer Liebhaber von Uhren und besaß eine wundervolle Uhrensammlung (vom fünfzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart), und Lord Arthur glaubte nun, daß dieses Steckenpferd des guten Dechanten ihm eine ausgezeichnete Gelegenheit biete, seinen Plan auszuführen. Wie und woher sich aber eine Höllenmaschine verschaffen – das war freilich eine andere Sache. Im Londoner Adreßbuch fand er keine Bezugsquelle dafür angegeben, und er fühlte, daß es ihm wenig nützen würde, sich an die Polizeidirektion zu wenden, da man dort über die Bewegungen der politischen Partei, die mit Dynamit argumentierte, immer erst nach einer Explosion etwas erfuhr und auch dann noch herzlich wenig.

Plötzlich dachte er an seinen Freund Rouvaloff, einen jungen Russen von höchst revolutionärer Gesinnung, den er bei Lady Windermere im Laufe des Winters kennengelernt hatte. Es hieß, daß Graf Rouvaloff eine Geschichte Peters des Großen schreibe und daß er nach England gekommen sei, um die Dokumente zu studieren, die sich auf den Aufenthalt des Zaren als Schiffszimmermann in diesem Lande beziehen. Aber man glaubte allgemein, daß er ein nihilistischer Agent sei, und zweifellos war seine Gegenwart in London der russischen Botschaft nicht sehr angenehm. Lord Arthur fühlte, daß das gerade der Mann sei, den er brauche, und so fuhr er denn eines Morgens zu ihm nach Bloomsbury, um von ihm Rat und Hilfe zu erbitten.

»Sie wollen sich also ernstlich mit Politik beschäftigen?« sagte Graf Rouvaloff, als Lord Arthur ihm den Zweck seines Besuchs genannt hatte. Aber Lord Arthur, der jede Prahlerei haßte, fühlte sich verpflichtet, ihm mitzuteilen, daß er nicht das geringste Interesse an sozialen Fragen habe und die Höllenmaschine bloß für eine Familienangelegenheit brauche, die nur ihn allein angehe.

Graf Rouvaloff sah ihn einige Augenblicke verblüfft an; als er aber dann merkte, daß Lord Arthur ganz ernsthaft blieb, schrieb er eine Adresse auf ein Stück Papier, zeichnete es mit seinen Anfangsbuchstaben und reichte es ihm dann über den Tisch hinüber.

»Die Polizei würde ein hübsches Stück Geld dafür bezahlen, diese Adresse zu erfahren, mein lieber Freund.«

»Aber sie soll sie nicht kriegen«, lachte Lord Arthur. Er schüttelte dem Russen die Hand, lief die Treppe hinunter und befahl, nachdem er einen Blick auf das Papier geworfen hatte, dem Kutscher, nach dem Soho Square zu fahren.

Dort schickte er den Wagen weg und ging die Greek Street hinunter, bis er zu einem Platze kam, der Bayle's Court genannt wird. Er ging durch den Torweg und befand sich in einer merkwürdigen Sackgasse, in der sich offenbar eine Wäscherei befand, denn ein Netzwerk von Wäscheleinen war von Haus zu Haus gespannt, und weiße Wäsche flatterte in der Morgenluft. Er ging bis zum Ende der Sackgasse und klopfte an ein kleines, grünes Haus. Nach einiger Zeit, während der an jedem Fenster des Hofes ein dichter Schwarm neugieriger Gesichter erschien, wurde die Tür von einem Ausländer mit groben Zügen geöffnet, der ihn in einem sehr schlechten Englisch fragte, was er wünsche. Lord Arthur reichte ihm das Papier, das Graf Rouvaloff ihm gegeben hatte. Als der Mann es sah, verbeugte er sich tief und bat Lord Arthur, in ein sehr schäbiges Zimmer zu ebener Erde einzutreten; einige Minuten später trat geschäftig Herr Winckelkopf, wie er in England genannt wurde, ins Zimmer, mit einer fleckigen Serviette um den Hals und einer Gabel in der Hand.

»Graf Rouvaloff hat mir eine Empfehlung an Sie gegeben«, sagte Lord Arthur mit einer leichten Verbeugung. »Und ich möchte gern in einer geschäftlichen Angelegenheit eine kurze Unterredung mit Ihnen haben. Mein Name ist Smith, Robert Smith, und ich möchte mir bei Ihnen eine Explosionsuhr verschaffen.«

»Es freut mich sehr, Sie zu sehen, Lord Arthur«, sagte der muntere, kleine Deutsche lachend. »Blicken Sie nicht so bestürzt drein. Es ist meine Pflicht, jedermann zu kennen, und ich erinnere mich, Sie eines Abends bei Lady Windermere gesehen zu haben. Die Gnädige befindet sich doch hoffentlich wohl?... Wollen Sie mir nicht das Vergnügen machen, mir Gesellschaft zu leisten, indes ich mein Frühstück beende? Es gibt eine wundervolle Pastete, und meine Freunde behaupten, daß mein Rheinwein besser ist als irgendein Tropfen auf der deutschen Botschaft.«

Und ehe Lord Arthur seine Überraschung, erkannt worden zu sein, überwunden hatte, saß er schon im Hinterzimmer, schlürfte den köstlichsten Markobrunner aus einem blaßgelben Römer mit dem kaiserlichen Monogramm und plauderte in der freundschaftlichsten Weise mit dem berühmten Verschwörer.

»Explosionsuhren«, sagte Herr Winkelkopf, »eignen sich nicht sehr für den Export ins Ausland. Selbst wenn es ihnen gelingt, den Zoll zu passieren, ist der Bahndienst so unregelmäßig, daß sie gewöhnlich losgehen, bevor sie ihren Bestimmungsort erreicht haben. Wenn Sie aber so etwas für den eigenen Bedarf nötig haben, kann ich mit einer ausgezeichneten Ware dienen und garantiere Ihnen, daß Sie mit der Wirkung zufrieden sein werden. Darf ich fragen, für wen das Ding bestimmt ist? Sollte es für die Polizei bestimmt sein oder für irgend jemand, der mit der Polizeidirektion in Verbindung steht, so kann ich zu meinem großen Leidwesen nichts für Sie tun. Die englischen Detektive sind in der Tat unsere besten Freunde, und ich habe immer gefunden, daß wir tun können, was wir wollen, wenn wir uns nur auf ihre Dummheit verlassen. Ich möchte keinen von ihnen missen.«

»Ich versichere Sie«, sagte Lord Arthur, »daß die Sache mit der Polizei nicht das geringste zu schaffen hat. Die Uhr ist für den Dechanten von Chichester bestimmt.«

»O du meine Güte! Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie in religiösen Fragen so radikale Ansichten haben, Lord Arthur! Nur wenige junge Leute denken heute so.«

»Ich fürchte, Sie überschätzen mich, Herr Winckelkopf«, sagte Lord Arthur und errötete. »Ich kümmere mich gar nicht um theologische Dinge.«

»So handelt es sich also um eine reine Privatsache?«

»Um eine reine Privatsache!«

Herr Winckelkopf zuckte die Achseln, verließ das Zimmer und kam nach einigen Minuten zurück mit einer runden Dynamitpatrone in der Größe eines Pennystückes und einer hübschen, kleinen, französischen Uhr, auf der eine vergoldete Figur der Freiheit stand, die mit dem Fuß die Hydra des Despotismus zertrat.

Lord Arthurs Gesicht leuchtete auf, als er die Uhr sah. »Das ist gerade, was ich brauche. Nun sagen Sie mir nur, wie die Geschichte losgeht.«

»Ach – das ist mein Geheimnis«, sagte Herr Winckelkopf, indem er seine Erfindung mit einem Blick berechtigten Stolzes betrachtete. »Sagen Sie mir nur, wann die Uhr explodieren soll, dann werde ich die Maschine auf die Sekunde einstellen.«

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