Читать книгу: «Halt mir nur still», страница 2
Berlinger blickt zu Boden. Neben ihm steht ein Junge, den sie noch nie gesehen hat. Die Uniform, die er trägt, ist ihm viel zu groß.
Ruth, sagt Berlinger.
Tränen steigen in ihre Augen. Ja?
Dein Mann und der Ruedi. Er räuspert sich. Sie haben auf Lussi geschossen. Und auf seine Begleiter.
Das ist nicht wahr! Du lügst!
Sie mussten sich wehren. Sie konnten nicht anders. Berlinger nimmt die Mütze vom Kopf.
Unter der Haut – Die Ärztin
Ein Fenster schlägt zu. Vor Schreck verschüttet Karin das halbe Glas Wein. Sie blickt nach draußen. Schwarze Wolken ziehen über den Himmel, in der Ferne zucken Blitze. Sie eilt in den Flur, kann ihre Hausschuhe nicht finden, schlüpft in Adrians Schlappen, die ihr viel zu groß sind, und rennt in den Keller. Dort nimmt sie den leeren Korb von der Waschmaschine und öffnet die Tür zum Garten. An der Wäschespinne flattern Hemden und Blusen, die Laken blähen sich im Wind. Eine kurze Treppe führt ins Freie, Karin nimmt zwei Stufen auf einmal, den Korb umarmt sie wie ein dickes Kind. Auf dem obersten Tritt rutscht der linke Fuß aus der Schlappe. Sie fällt rückwärts. Den Korb lässt sie nicht los.
Das Wohnzimmer ist in helles Licht getaucht. Karin sitzt am Esstisch und blickt auf die Umzugskartons, die noch immer in der Ecke stehen. Für einen Moment schließt sie die Augen und hält das Gesicht in die wärmende Sonne. Dann rückt sie den Stuhl zurecht und löst den Deckel vom Leuchtstift. Neben dem aufgeklappten Laptop liegt ein Stapel Kopien.
Wie lange musst du arbeiten?, fragt Adrian. Er steht im Flur, den Wäschekorb in den Händen.
Sicher den ganzen Morgen.
Es ist dein freier Tag, sagt er und nach einer Pause: Darfst du die Unterlagen überhaupt heimnehmen?
Das sind Fachartikel. Wäre es dir lieber, wenn ich in die Klinik fahre?
So habe ich das nicht gemeint.
Karin steckt die Kappe auf den Leuchtstift. Ich auch nicht.
Adrian nickt. Hast du noch etwas, das in die Wäsche kommt?
Nein.
Das Shirt, das du gerade trägst, vielleicht? Er stellt den Korb hin und bewegt den Zeigefinger auf und ab. Die Hose?
Sie lacht, dann merkt sie, dass er es ernst meint. Ich habe wirklich viel zu tun, sagt sie.
Klar. Er öffnet die Tür und schiebt den Korb mit dem Fuß ins Treppenhaus. Sehr geehrte Damen und Herren, sagt er, die frivole Einweihung unserer Wohnung ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Wir bitten um Geduld und wünschen einen schönen Tag.
Karin beobachtet, wie sich die Tür langsam schließt. Dass er immer alles ins Lächerliche ziehen muss!
Benommen kriecht Karin die Treppe hoch. Sie hebt den Kopf. Vor ihr im Gras steht ein Einkaufstrolley und daneben eine Frau. Sie trägt einen roten Rock, einen abgewetzten Kittel und hat silbern schimmernde Kopfhörer aufgesetzt.
Ich bin hingefallen, ruft Karin. Können Sie mir helfen?
Die Frau nimmt die Kopfhörer ab. Die sind toll, sagt sie. Da hörst du nur die Musik und sonst nichts. Wird alles herausgefiltert.
Ich bin gefallen, wiederholt Karin. Die Treppe runter.
Ja. Die Frau zieht zwei Bierbüchsen aus der Tasche. Sie ist füllig, ihre grauen Haare stehen in alle Richtungen ab. Trinkst du was mit mir?, fragt sie.
Karin schüttelt den Kopf. Mit den Fingern gleitet sie über ihren Schädel, tastet nach einer Wunde, findet aber keine. Das Schwindelgefühl wird schwächer.
Ich muss die Wäsche abhängen.
Wozu die Eile?, fragt die Frau und blickt zum Himmel. Das Gewitter ist vorübergezogen, die Bettlaken hängen schlaff im milden Licht der Abendsonne. Die Frau hat recht, die Wäsche kann warten. Karin richtet sich auf, streckt die Hand aus und nimmt die Büchse entgegen. Sie ist kalt, winzige Wassertropfen haften am Aluminium. Wohnen Sie hier?, fragt sie.
Die Frau zeigt mit dem Kopf zum Nachbarhaus. Du bist Ärztin?
Hat sich das bereits herumgesprochen?
Und wie ist es so?
Was?
Eine Ärztin zu sein.
Adrian hat sich umgezogen. Er stellt eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser neben den Laptop und setzt sich zu ihr.
Sie bedankt sich, streicht über seinen Arm und greift nach der Tasse.
Er legt sein Smartphone auf den Tisch, klopft mit den Fingern darauf herum und hüstelt. Er sieht Karin nicht an. Ich habe Simon angerufen, sagt er. Wir gehen was essen und danach – wir wissen es noch nicht. Ist das in Ordnung für dich?
Muss es wohl. Sie zieht die Beine an, blickt auf ihre nackten Füße, nippt am Kaffee. Ich dachte, wir verbringen den Nachmittag zusammen.
Das dachte ich auch. Er legt die Hand auf den Stapel Papier. Die erste Ladung Wäsche sei fertig, sagt er und fragt, ob Karin den Rest übernehmen könne.
Echt jetzt?
Wenn du eh zu Hause bist, sagt er in einem Ton, den sie kaum ertragen kann. Er beugt sich zu ihr und gibt ihr mit gespitzten Lippen einen Kuss. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Ich respektiere das. Aber mir fällt die Decke auf den Kopf. Er steht auf und steckt das Smartphone ein. Am Abend bin ich wieder zurück.
Die Frau scheint nett zu sein, ihre Neugier aufrichtig.
Wie es ist, Ärztin zu sein? Auf alle Fälle verändert es den Blick, sagt Karin, so wie immer, wenn sie auf ihren Beruf angesprochen wird. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und fragt: Was ist das wichtigste Organ des Menschen?
Die Frau schüttelt den Kopf.
Die Haut. Stellen Sie sich vor, wir hätten keine. Was für ein Anblick! Blut und Schleim und Fleisch. Mit so etwas will man sich nicht paaren, oder? Ohne Hülle gäbe es keine Schönheit des Menschen, keine Anmut und Pracht.
Die Frau nickt ohne Anflug eines Lächelns. Dann zeigt sie auf die Gartenstühle vor der Hauswand und legt die Hand auf Karins Arm. Setzen wir uns, sagt sie.
Karin steht vor der Waschmaschine, die Bedienungsanleitung in der Hand. Im Keller ist es kühl, ihr fröstelt. Sie stellt die Temperatur auf vierzig Grad, stopft Kleider und Laken in die Trommel. Wie Adrian das Smartphone auf den Tisch gelegt hat! Die kunstvollen Pausen zwischen den Sätzen. Die ruhige Stimme, kein Riss in der Fassade.
Später hängt sie die Wäsche auf. Die Julisonne brennt auf ihren Nacken. Elstern hüpfen übers Gras, machen sich davon, als eine Katze durch den Zaun schlüpft. Karin lockt sie zu sich, krault ihr den Kopf. Für einen kurzen Augenblick lässt es die Katze geschehen. Danach zieht sie weiter, bestimmt spürt sie, was in Karin gärt.
Oben in der Wohnung liest sie den letzten Artikel zu Ende. Sie holt eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank, trinkt das Glas in einem Zug leer, schenkt nach und setzt sich auf die Couch. Jetzt habe ich Zeit, sagt sie zur kahlen Wand.
Vor drei Wochen seien sie hergezogen, sagt Karin. Sie habe eine neue Stelle angetreten. Alles ein wenig drunter und drüber, sagt sie. Ich habe unendlich viel zu tun.
Wieder legt die Frau die Hand auf ihren Arm. Und heute? Wie geht es dir heute?
Mein Freund hat mich die Wäsche machen lassen. Karin trinkt vom Bier. Wäre sein Job gewesen. Stattdessen haut er einfach ab.
Ach je.
Am schlimmsten ist, dass er so tut, als wäre alles in Ordnung. Wenn er seine Wut wenigstens einmal zeigen würde, damit wir uns richtig streiten können.
Ja, sagt die Frau. Manchmal klären sich im Streit die Dinge.
Er fühlt sich vernachlässigt, wissen Sie? Weil ich so viel arbeite.
Die Frau nickt und stößt ein tiefes Brummen aus. Sie sagt: Womöglich liegt unter der Anmut der Haut nichts anderes als die Schönheit des Herzens.
Wie bitte?
Womöglich ist dein Freund gar nicht wütend. Vielleicht musste er einfach mal raus, für sich sein, spüren, dass er unabhängig ist.
Sind Sie Psychologin?, fragt Karin und lacht.
Die Frau verzieht keine Miene. Sie sagt: Unter anderem. Sie fragt: Liebt ihr euch?
Natürlich.
Die Frau lehnt sich zurück, nimmt einen großen Schluck und blinzelt in die Sonne.
Verstehe, sagt Karin. Für eine Weile sitzen sie schweigend nebeneinander und lauschen den Grillen. Dann hört Karin auf der anderen Seite des Hauses einen Wagen parken.
Da ist er, sagt sie und will aufstehen.
Die Frau hält sie zurück. Warte!
Karin trinkt das Bier leer, die Frau nimmt ihr die Büchse aus der Hand und verstaut sie in der Tasche. Oben öffnet sich das Küchenfenster, Adrians Kopf erscheint.
Karin?, ruft er.
Sie winkt. Wir sind hier!
Karin?
Hier!
Er schließt das Fenster.
Sie dreht sich zur Frau. Was ist denn mit dem los? Blind und taub zur selben Zeit?
Die Frau steht auf. Ein drittes Mal legt sie die Hand auf Karins Arm. Ach, Mädchen, sagt sie. Hast du noch immer nicht verstanden? Sie zieht den Reißverschluss der Tasche zu, hebt den Einkaufstrolley aus dem Gras und stellt ihn auf den Gehweg. Dein Freund kommt gleich runter. Das willst du nicht mit ansehen. Sie zieht den Trolley hinter sich her. Sie blickt über die Schulter.
Karin begreift nicht, was geschieht, und doch ist da dieser brennende Wunsch. Ich möchte ihm sagen, dass ich ihn liebe!, ruft sie.
Die Frau nickt. Sie sagt: Komm! Es ist Zeit.
Sonnenbarsch – Der Handwerker
Im Schuppen riecht es nach Öl und feuchten Zeitungen. Martin drückt den Schalter, mattes Licht fällt auf die Werkbank. Im Schraubstock klemmt ein Stück Holz. Er dreht die Kurbel, löst es heraus, schiebt die Brille hoch und hält es vor die Augen. Kastanie. Martin versucht sich zu erinnern, was er damit vorhatte, aber es ist zu lange her. Er legt das Holz neben den Schraubstock, wischt mit der Hand über die Arbeitsplatte. Staub wirbelt durch die Luft. Martin zieht die Schuhe aus, steigt in die Gummistiefel und greift nach Spaten und Schaufel.
Zwölf Quadratmeter soll er werden. Martin geht im Kreis und spult rote Nylonschnur von der Spindel. Mit dem Zollstock misst er den Radius. Er beult die Form aus, bis sie ihm gefällt. In der Mitte stößt er den Spaten in die Erde und sticht eine erste Grasnarbe aus. Knirschen, als er auf Steine trifft. Er hält inne, das Spatenblatt unter der Gummisohle. Eine Amsel singt. Drüben vom Acker der Gesang einer Goldammer. Es ist kühl, der Himmel dunkelblau und klar.
Was machst du da? Doris steht am Küchenfenster. Sie ist bereits angezogen. Sie trägt die Bluse mit den aufgedruckten Schmetterlingen.
Einen Teich, sagt er.
Einen Teich?
Einen Fischteich. Mit Seerosen und Schilfrohr und Blutweiderich. Und mit Fischen natürlich.
Bist du übergeschnappt?, fragt sie und blickt auf die Uhr. Einen Teich? Morgens um sechs?
Bis in vierzig Zentimeter Tiefe geht es leicht, danach wird der Boden lehmig. Die Steine häufen sich, einen muss Martin aus der Erde stemmen. Das Hemd klebt am Rücken. Die Handschuhe sind steif und scheuern die Knöchel wund. Früher war er so daran gewöhnt, Handschuhe zu tragen, dass er ab und zu vergaß, sie auszuziehen. Da stand er also zur Mittagspause im Migros-Restaurant und griff nach einem Tablett. Edi stupste Stefan an, die beiden lachten und Martin danach auch. Einmal machten sie sich den Spaß, die Handschuhe beim Essen anzubehalten. Edi fiel die Gabel unter den Tisch.
Wolken ziehen auf, bald wird es regnen. Noch ein letztes Mal füllt Martin die Schubkarre, dann bringt er das Werkzeug in den Schuppen. Für heute ist genug.
Ich wusste gar nicht, dass wir so etwas haben, sagt Doris, als er sich zu ihr an den Tisch setzt. Sie hält das Buch in der Hand, das er gestern Abend auf dem Dachboden gefunden und im Licht der Küchenlampe studiert hat. Fische im Gartenteich. Sie blättert durch die vergilbten Seiten. Hast du Rolf gefragt?
Was gefragt?
Ob du einen Teich anlegen darfst.
Nein, sagt er, pustet in die Tasse und trinkt einen Schluck vom Kaffee. Er schmeckt weich und nach Karamell. Ist das eine neue Sorte? Der ist gut.
Doris schüttelt den Kopf. Und wenn Rolf etwas dagegen hat? Du weißt, wie er ist.
Was will er denn tun? Uns aus dem Haus werfen?
Zum Beispiel.
Martin lacht. Er trinkt noch einen Schluck. Mach dir keine Sorgen, sagt er. Der wird staunen, was man mit eigenen Händen erschaffen kann. Der Teich wird prächtig. Ein kleines Paradies. Da kann man nicht dagegen sein.
Doris schließt das Buch und schiebt es zu ihm hin. Mich hättest du auch fragen können.
Du hast noch geschlafen, sagt er und nach einer Pause: Den Rasen brauchen wir nicht. Sind wir jemals auf dem Rasen? Den brauchen wir nicht. Die Blumen und die Sträucher, das bleibt ja alles. Das wird noch viel schöner, wenn es in der Mitte einen Teich gibt.
Sie greift nach einer Illustrierten. Du ziehst mich da nicht mit rein, sagt sie. Der Garten gibt weiß Gott genug zu tun.
Martin steht auf und küsst sie auf die Stirn. Seine Hüfte schmerzt, als er sich zu ihr hinunterbeugt.
Sie hält ihn am Arm. Übernimm dich nicht, sagt sie, feuchtet die Fingerspitzen an und schlägt die Illustrierte auf.
Versprochen.
Nieselregen, den dritten Tag in Folge. Martin trägt einen Pullover mit Norwegermuster, den er zuhinterst im Schrank gefunden hat. Er wischt sich die Nase am Ärmel ab, die feuchte Wolle riecht nach Patschuli. Wasser tropft vom Filzhut. Inzwischen hat sich sein Körper an die Arbeit gewöhnt. Martin spürt die Kraft in den Händen, beinahe wie früher. Der Körper hat ein Gedächtnis, hat der Arzt gesagt. Der erinnert sich an alles, hat er gesagt, an das Gute und an das Schlechte.
Die Grube ist fast fertig. Das Ufer fällt in Stufen ab, in der Mitte ist der Teich am tiefsten. Dort werden die Fische überwintern. Reglos werden sie vom Fett zehren, das sie sich übers Jahr angefressen haben. Wie es wohl ist, in der Dunkelheit, unter einer Decke aus Eis? Ahnen sie, dass es wieder besser wird? Martin wirft einen Stein in die Schubkarre, spürt ein Stechen in der Brust. Ihm wird schwarz vor Augen, er hält sich am Griff der Schaufel fest. Nach drei tiefen Atemzügen lassen die Schmerzen nach.
Als er weitermachen will, steht eine Stockente am Teichrand. Es ist ein großes Tier, der Kopf schimmert grün. Mit dem Schnabel putzt sie das Brustgefieder.
Verschwinde, sagt Martin.
Sie schüttelt den Kopf.
Du willst den Teich vollscheißen, nicht wahr? Guckst dir die Sache schon mal an?
Die Ente schließt die Augen und kratzt sich mit dem Fuß am Kopf. Erst als Martin den Spaten hebt, macht sie sich davon.
Der Regen ist stärker geworden. Er fällt in schweren Tropfen. Martin hievt eine Filterwanne aus dem Kofferraum und trägt sie in den Schuppen. Danach den Filter, in einer gelbgrünen Schachtel. Die zusammengefaltete Teichfolie, zwanzig Quadratmeter, einen Millimeter dick, legt er neben den Teich auf den Rasen. Er holt er den Zollstock, steigt in die Grube und misst den Abstand vom tiefsten Punkt bis zur Schnur, die er gespannt hat. Ein Meter zehn.
Was machst du?, ruft Doris. Sie steht beim Wagen und duckt den Kopf unter die offene Heckklappe.
Martin hebt den Zollstock in die Höhe und zeigt auf die Folie. Dann stapft er zurück. Der Boden ist weich. An der Stoßstange streift er die klumpige Erde von den Schuhen.
Ich nehme an, er ist noch genauso tief wie gestern, sagt Doris und lächelt.
Martin zuckt mit den Schultern. Ich will sichergehen. Ein Meter mindestens. Sonst sterben die Fische im Winter.
Was ist das?, fragt Doris. Sie hält eine Schachtel in den Händen.
Um das Wasser aufzubereiten. Martin sieht genauer hin. Nein, sagt er. Das ist der Bewegungssensor. Gegen die Enten.
Doris dreht die Schachtel und liest. Lichtblitz. Raubtierlaute. Meine Güte! Was kostet so was?
Zweihundert.
Zweihundert, sagt sie leise und gibt ihm die Schachtel.
Bist du mir böse?
Nein. Sie streicht ihm über die Wange. Natürlich nicht.
Was sein muss, muss sein, sagt er.
Fünfzehn Grad. Bei fünfzehn Grad wird die Folie geschmeidig und wirft keine Falten. Martin macht eine Pause. Er hört Sonja am anderen Ende der Leitung atmen. Er sagt: Es ist nicht gut, wenn sie Falten wirft.
Es muss morgen sein?, fragt sie. Ich meine, genau morgen?
Morgen kommt die Sonne raus. Bin ich mir sicher.
Du bist dir sicher?
Morgen kommt die Sonne raus, ja. Übermorgen fallen die Temperaturen. Kältewelle bis Ende April, haben sie gesagt.
Und bis Ende April kannst du nicht warten?
Martin schweigt.
Papa?
Es dauert nicht lange. Nur die Folie auslegen, mehr nicht.
Was ist mit Mama? Oder Rolf?
Martin blickt zu Doris, die am Tisch sitzt und Kreuzworträtsel löst. Der ist auf Fuerteventura. Jeden Frühling lässt er sich die Sonne auf den Bauch scheinen und wir dürfen seine Katze füttern. Er deckt den Hörer mit der Hand ab. Zu Doris sagt er: Gegen die Katzen natürlich auch. Die fischen sonst alles raus.
Was?
Der Bewegungsmelder. Gegen die Katzen.
Doris nickt und wendet sich wieder dem Rätsel zu. Für einen Moment weiß Martin nicht, ob Sonja schon zugesagt hat.
Also?, fragt er. Kommst du? Es dauert nicht lange.
Sie seufzt. Martin hört das Klicken einer Maus. Den Termin um drei kann ich vielleicht schieben, sagt sie. Ich werde schauen, ob sich was machen lässt.
Die Sonne steht tief. Martin holt zwei Gartenstühle aus dem Schuppen und sie setzen sich hin. Das Wesentliche ist erledigt. Über die ausgelegte Folie haben sie Kies geschaufelt, die Grube ist zu einem Drittel mit Wasser gefüllt.
Ist gut geworden, sagt er und reicht Sonja eine Büchse Bier. Sie schlägt die Beine übereinander. Die Säume ihrer Latzhose sind dunkel vor Nässe, an den Wanderschuhen klebt lehmige Erde. Er hat sie nicht mehr so gesehen, seit sie erwachsen ist. Nur immer in Kleid und Pumps.
Hast du die extra für heute gekauft? Er zupft an ihrer Hose.
Quatsch, sagt sie und danach, während sie zum Teich blickt: Du hättest das auch ohne mich geschafft.
Martin hebt den Kopf. Die Felsenbirne hinten am Zaun steht in weißer Blüte. Hyazinthen leuchten lila und gelb. Doris macht es gut mit dem Garten. Sie hatte schon immer einen Sinn dafür, was wo hingehört. Er schließt die Augen. Noch wärmt die Sonne sein Gesicht, bald wird sie hinter den Hügeln sein.
Schön, dass du gekommen bist, sagt er. Deine Mutter freut sich ebenfalls. Er blinzelt, setzt die Büchse an, trinkt in großen Zügen. Rolfs Kater schleicht an der Hausmauer entlang, schnuppert an einem Strauch, legt sich ins Gras, das noch feucht ist vom Regen der letzten Tage. Martin hebt einen Kieselstein vom Boden und wirft ihn in seine Richtung. Das Tier schreckt hoch und rennt davon.
Du bleibst doch zum Essen?, fragt er.
Sonja kratzt mit dem Fingernagel übers Aluminium, biegt den Verschluss vor und zurück, bis er bricht. Sie sagt, sie müsse bald los.
Ein Rendezvous?
Sie lacht. Rendezvous. Wie das klingt! Nein, kein Rendezvous. Sie haben mich auf einen großen Fisch angesetzt. Der gibt viel zu tun. Sie streckt sich und gähnt. Nachtschicht. Unterlagen studieren.
Ich habe nie so recht verstanden, was du eigentlich machst.
Manchmal verstehe ich es selbst nicht. Sonja streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Sie sind dünner geworden, am Ansatz grau.
Aber es gibt jemanden?, fragt Martin.
Was meinst du?
Einen Mann?
Das ist süß, Papa. Wie du dir Sorgen machst. Sie legt die Hand auf seinen Arm. Ich komme zurecht, ja?
Er nickt. Ich wollte dich nicht ausfragen.
Schon gut. Sie schwenkt die Büchse sachte hin und her. Apropos Fische, sagt sie. Was soll im Teich eigentlich schwimmen? Koikarpfen?
Aber sicher. Hundert Stück.
Hast dein Leben lang darauf gespart? Wieder lacht sie, wieder legt sie die Hand auf seinen Arm.
Gibt auch günstige, sagt er. Jungtiere kosten nicht viel.
Du denkst tatsächlich darüber nach? Sie pfeift durch die Zähne.
Der Teich ist zu klein für so was. Müsste viel tiefer sein. Martin trinkt das Bier aus. Moderlieschen müssen reichen. Ein paar Gründlinge. Und einen Sonnenbarsch, habe ich mir gedacht.
Sonnenbarsch. Das klingt schön. Nur einen?
Sind Einzelgänger, sagt er, steht auf und holt das Buch. Er schlägt es auf, wo er einen Zettel hineingesteckt hat. Flossen und Bauch des Sonnenbarschs leuchten golden, der Kopf schimmert blau und grün. Vom Auge führen weiße Streifen zu den Kiemen. Mit dem Finger fährt Martin die Konturen nach. Das Papier ist klebrig und wellt sich, wenn er zu fest darauf drückt. Er liest weiter. Der Sonnenbarsch stammt aus Nordamerika und wird zehn Jahre alt. Er ist ein prächtiger Fisch, auch wenn seine Färbung mit der Zeit an Intensität verliert. Er braucht ungetrübtes Wasser.
Das klingt gut, oder? Es muss kein Koi sein, sagt er.
Ja, das klingt gut, Papa. So schön sind Kois nun auch wieder nicht.
Eine Weile schweigen sie. Die Sonne ist weg, schwaches Leuchten hinter den Gipfeln. Druck liegt auf Martins Brust, die Schultern schmerzen.
Einer hat mal eine halbe Million für einen Koi bezahlt, sagt er schließlich und schüttelt den Kopf. Kannst du dir das vorstellen?
Wenn du wüsstest, was sich unsere Kunden so alles leisten. Einen Koi für eine halbe Kiste, das klingt im Vergleich ziemlich vernünftig.
Verrückt, sagt er.
Ja, es ist verrückt.
Komplett verrückt. Martin verschränkt die Arme. Der Geruch von Zwiebeln steigt in seine Nase. Er dreht den Kopf. In der Küche brennt Licht, Doris steht an der Spüle und hält eine Pfanne unters fließende Wasser. Sie hat das Fenster aufgemacht.
Du bleibst wirklich nicht zum Essen?, fragt er.
Wirklich nicht. Sonja steht auf und schlingt die Arme um ihn. Danach gehen sie zum Haus, streifen die Schuhe von den Füßen und schlüpfen in die Küche. Sonja hebt den Deckel von einem Topf. Schweinehals?, fragt sie.
Doris nickt. Deckst du den Tisch?
Bleib doch, sagt Martin, bevor Sonja antworten kann. Ist ja schon alles bereit.
Sie isst hastig. Mit vollem Mund erzählt sie vom Auftrag, den sie zu erledigen hat, von Terminen und vom Stress. Nach wenigen Minuten legt sie das Besteck auf den Teller.
Keine Ahnung, wann ich so was zum letzten Mal gegessen habe, sagt sie. Hat gut geschmeckt, Mama.
Das war dein Lieblingsessen als Kind.
Ich mag’s immer noch. Sonja wischt sich den Mund ab und steht auf. Jetzt muss ich aber.
Hat alles geklappt?, fragt Doris. Mit der Folie?
Martin blickt aus dem Fenster in die Dämmerung. Seine Augen sind müde und tränen. Ja, sagt er und zu Sonja: Du kommst ihn dir anschauen, wenn er fertig ist?
Sicher.
Wir stoßen an und beobachten die Fische.
Ja.
Gründlinge sind gut?
Gründlinge sind perfekt, sagt sie, bevor sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange gibt. Und ein Sonnenbarsch!, ruft sie aus dem Flur.
Doris legt die übrig gebliebenen Stücke in eine Frischhaltebox. Martin spült das Geschirr. Schweiß tritt auf seine Stirn. Er lässt kaltes Wasser über die Hände laufen. Es tut gut.
Ich geh dann mal rüber, sagt er und dreht den Hahn zu.
In Ordnung. Doris wischt den Tisch sauber.
Wir sollten Geld verlangen, sagt er. Zehn fürs Füttern, zehn fürs Kraulen.
Doris blickt auf. Aber sicher doch. Und Rolf geht dafür mit der Miete rauf. Für ein Butterbrot. Das sagt er doch immer. Wir wohnen für ein Butterbrot.
Trotzdem, sagt Martin. Wir sind einfach zu nett.
Ja. Wir sind weiß Gott nette Leute. Sie wirft ihm den Lappen zu und lacht.
Als er den Hügel hochgeht, fällt Martin das Atmen schwer. Anstrengend waren sie, die letzten Tage. Er bleibt stehen und dreht sich um. Lichter in den Häusern. Die eine Laterne an der Hauptstraße ist noch immer defekt. Jemand parkt neben der Kirche und steigt aus. Martin kann die Autotür zuschlagen hören, so still ist es.
Der silberne Löwenkopf, der am Schlüsselring hängt, wiegt schwer in der Hand. Im Briefkasten liegen zwei Werbeprospekte. Martin öffnet das Tor zur Auffahrt. Die Schweizerfahne vor Rolfs Haus hängt schlaff, nur ab und zu, von einem Windstoß erfasst, hebt sich das Tuch. Der Mast sollte weiter nach Westen, hat er ihm gesagt, da ist der Wind besser. Aber Rolf hat nicht zugehört.
Bevor er eintritt, zieht er die Schuhe aus. In Socken geht er durchs Wohnzimmer, über die weichen Teppiche, über das Eichenparkett, das Rolf letzten Herbst hat abschleifen und neu versiegeln lassen. Auf der Kommode im Esszimmer stehen Fotos. Rolf zwischen den beiden Söhnen, die Enkeltochter auf dem Arm. Rolf auf Fuerteventura. Er küsst eine Frau, die seine Tochter sein könnte. Martin hat ihren Namen vergessen. Wie es auf der Insel sei, hat er einmal gefragt. Toll, hat Rolf geantwortet. Ein Paradies, hat er gesagt. Sie haben am Tor gestanden und Martin ist die Kälte die Beine hochgekrochen. Eine Stunde lang hat Rolf geredet, vom Essen erzählt und vom Klima, das auf der Insel herrscht. Als er endlich fertig war, hat Martin gesagt, Doris und er hätten ihre Flitterwochen in Rom verbracht. Dort sei es auch sehr schön gewesen.
Rom!, hat Rolf gerufen. Die Ewige Stadt!, hat er gerufen und ist zurück ins Haus gegangen.
Die Katzentür klappert. Martin holt ein Messer aus der Küche und nimmt eine Schale aus der Kommode. Er zieht den Deckel ab und schabt das Fleisch in den Napf aus Edelstahl. Ihm wird übel, er hat den Geruch von Katzenfutter noch nie gemocht. Das Tier frisst gierig.
Draußen ist es kühler geworden. Die Schweizerfahne flattert nun doch im Wind, bald kommt die Kaltfront. Martin schließt das Tor. Die Schmerzen in Brust und Schulter sind wieder da. Muskelkater in den Armen. Vielleicht hätte er sich schonen sollen. Aber dann hätte er mit der Folie warten müssen und das wäre nicht gut gewesen.
Bevor er ins Haus geht, schreitet er noch einmal die Grenzen des Teichs ab. Er aktiviert die Taschenlampe seines Smartphones und lässt den Lichtstrahl über das Wasser gleiten. Schwarz sieht es aus, kaum zu glauben, dass hier einmal Leben gedeihen soll. Martin steckt das Telefon in die Hosentasche und schließt die Augen. Hechtkraut im Flachwasser, blaue Blüten. Fieberklee am Ufer. Ein wenig Arbeit noch, dann wird es ein prächtiger Teich.
Martin fühlt, dass da jemand ist, hinter ihm. Er dreht sich um und tatsächlich: Zwei Meter entfernt steht die Ente.
Soso, sagt er, während sie an ihm vorbei auf die andere Seite des Teichs watschelt und sich an den Rand setzt. Abendspaziergang?, fragt er. Ist dein Weibchen in der Nähe? Ist es am Brüten?
Das Tier reckt den Kopf.
Was soll das werden, mein Freund? Eine Wohnungsbesichtigung? Martin stampft auf. Er hebt die Arme und geht um den Teich herum. Die Ente wechselt die Seite. Als Martin stehen bleibt, setzt sie sich wieder hin.
Na schön, sagt er. Der Sensor wird die Sache schon richten.
Doris liegt bereits im Bett. Sie liest ein Buch übers Älterwerden. Früher hat sie Krimis gelesen, die halbe Nacht. Jetzt schläft sie meist nach ein paar Seiten ein, worum Martin sie beneidet. Die letzten Wochen waren besonders schlimm: Als hätte er zehn Tassen Kaffee getrunken. Zucken in den Beinen. Seit er mit dem Teich begonnen hat, ist es ein wenig besser geworden.
Er setzt sich auf die Bettkante. Doris legt das Buch auf die Brust und schaut ihn an. Alles gut?, fragt sie.
Ja.
Kommst du ins Bett?
Ich will noch was über Fische nachlesen. Bin mir noch nicht sicher, welche in den Teich sollen.
Müssen nicht zuerst die Pflanzen wachsen? Damit das Wasser gut ist?
Man muss vom Ziel her denken. Saubere Planung ist alles.
Doris legt Buch und Brille auf den Nachttisch. Machst du das Licht aus?, fragt sie.
Sie küssen sich. Ihre Lippen fühlen sich weich an. Doris hat Nachtkerzenöl aufgetragen. Er mag den nussigen Duft.
Ich finde es schön, dass du einen Teich anlegst, sagt sie, dreht sich zur Seite und schiebt eine Hand unter den Kopf. Und dass Sonja geholfen hat, war auch schön.
Haben wir sie wieder einmal zu Gesicht gekriegt.
Hast du gut gemacht.
Er nimmt den Schalter der Lampe zwischen die Finger. Er sagt: Wir haben es gut gemacht mit ihr, oder? Insgesamt.
Wie kommst du darauf?
Einfach so. Findest du nicht?
Doch.
Auch wenn es wohl keine Enkel mehr gibt.
Doris lächelt. Der Zug ist weiß Gott abgefahren.
Hast du dir immer gewünscht.
Du doch auch.
Ist aber nicht schlimm, oder?
Nein, ist es nicht, sagt sie.
Martin knipst das Licht aus. Er streicht Doris übers Haar. Ich habe heute an Rom gedacht, sagt er in die Dunkelheit. Die warmen Nächte. Jeden Abend haben wir draußen gegessen. Wir haben es uns gut gehen lassen, nicht?
Ja, das haben wir.
Wie der Moses geschaut hat in der einen Kirche! Richtig Angst hast du vor ihm gehabt.
Ich habe doch nur Spaß gemacht.
Ob er immer noch dort sitzt, mit der Hand im Bart?
Aber sicher, sagt sie. Die lassen doch alles, wo es ist.
Ich hätte Lust, noch einmal dorthinzufahren.
Ja, das wäre schön, sagt Doris. Sie spricht undeutlich, bald schläft sie ein. Martin steht auf. Leise zieht er die Tür zu.
Die Küchenlampe spendet das hellste Licht im Haus. Der Wind lässt den Fensterladen klappern. Martin öffnet das Fenster, drückt den Laden gegen die Hauswand und fixiert den Halter. Auf dem Holz ist die Farbe abgeblättert. Wenn der Teich fertig ist, wird er alles neu streichen. Er holt ein Bier aus dem Kühlschrank, setzt sich an den Tisch und schlägt das Buch auf. Sein Körper ist müde und schmerzt, aber der Geist ist wach. Er blättert die Seiten mit den Fischen durch. Es ist nicht einfach, jedes Tier hat andere Ansprüche. Dieser darf nicht mit jenem und jener nicht mit einem Dritten. Das Bier schmeckt anders als am Nachmittag, säuerlich und nach ranziger Butter. Er schüttet es in den Ausguss, lässt das Wasser laufen, beobachtet, wie sich der weiße Schaum auflöst, als das Smartphone in der Hosentasche vibriert.
Hallo?, fragt er mit leiser Stimme. Ich dachte, du musst arbeiten.
Tu ich auch. Ich sitze am Computer.
Weshalb rufst du an?
Ich habe nach dem Sonnenbarsch gesucht, sagt Sonja. Der ist in der Schweiz verboten.
Verboten?
Wollte ich dich wissen lassen. Weil der ist nicht von hier und der vermehrt sich und bedroht die einheimischen Arten.
Im Buch steht, er eignet sich gut.
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