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3.2. Das Konzept einer praktischen Vernunft
Besondere Bedeutung für das Konzept der Praxis hat somit bei Aristoteles die Annahme einer spezifisch praktischen Form von Rationalität, die er selbst bereits an drei Stellen als „praktische Vernunft“ bezeichnet. Diese Stellen lassen deutlich erkennen, wie sich das aristotelische Konzept praktischer Vernunft von der gleichnamigen Konzeption Immanuel Kants unterscheidet, die vom strikt universalen kategorischen Imperativ geprägt ist. Den Ausdruck „Praktische Vernunft“ gebraucht Aristoteles explizit an folgenden Stellen:
Diese beiden sind also Vermögen der örtlichen Bewegung, Geist und Streben, und zwar der Geist, der um etwas willen nachdenkt und der praktische (nūs de ho heneka tū logizomenos kai ho praktikos). Er unterscheidet sich nämlich durch sein Ziel vom theoretischen. Auch jedes Streben erfolgt um etwas willen. Worauf sich nämlich das Streben richtet, dies ist das Prinzip der praktischen Vernunft (hū gar hē orexis, hautē archē tū praktikū nū). Das Ende ist aber das Prinzip der Praxis. Folglich werden diese beiden zu Recht für die Anfänge der Bewegung gehalten, Streben und praktische Vernunft (orexis kai dianoia praktikē). (De anima [DA] III 10, 433a13–18)
Dasselbe muss die Vernunfterkenntnis sagen und das Streben verfolgen. Dies ist nun die praktische Vernunft und die entsprechende Wahrheit (hē dianoia kai hē alētheia praktikē). Bei der theoretischen und weder praktischen noch poiētischen Vernunft ist das gute und schlechte Funktionieren das Wahre und das Falsche (dies ist nämlich die Funktion jedes Vernunftvermögens). Beim praktischen Vernunftvermögen aber besteht die Wahrheit in Übereinstimmung mit dem richtigen Streben (NE VI 2, 1139a22–31).
Es gibt Leute, die […] häufig, ohne aufzufallen, der Sache nicht zugehörige und überflüssige Argumente (logous) vorbringen. Dies aber tun sie manchmal durch Unwissenheit, manchmal durch Frechheit, und durch sie lassen sich manchmal auch die Erfahrenen und zum Handeln Fähigen täuschen, durch Leute, die architektonische oder praktische Vernunft (dianoian architektonikēn ē praktikēn) weder besitzen noch dazu in der Lage sind. (EE I 6, 1216b40–17a10).
Die ersten beiden dieser drei Stellen stimmen in mehreren wichtigen Punkten überein:
1 Es gibt eine praktische Vernunft, die sich von der theoretischen unterscheidet.
2 Der Unterschied zum theoretischen Denken besteht darin, dass die praktische Vernunft sich auf ein Ziel bezieht. Im richtigen Bezug darauf liegt die ihr eigene Wahrheit.
3 |15|Dies hängt damit zusammen, dass die praktische Vernunft stets mit einem Streben verbunden ist.
Weiterhin sind einige Aspekte erwähnenswert, die zumindest an einer der drei Stellen genannt werden: Die De anima-Stelle weist darauf hin, dass auf einen Akt der praktischen Vernunft unmittelbar Praxis, also ein Handeln, folgt. Die Passage aus der Eudemischen Ethik mit ihrem Hinweis auf ein „architektonisches“, d.h. leitendes, Vermögen, zu dem auch die Klugheit in Verbindung stehen soll, bestätigt, dass es hier um nichts anderes geht als um die eben diskutierte Klugheit, der ebenfalls ein solches architektonisches Vermögen, gemäß ihrer politischen Kompetenz, zugeschrieben wird (vgl. NE VI 8, 1141b21–27; zu Übersetzungsvorschlägen Wolf 2002, 266). Vor diesem Hintergrund weist die Stelle aus Nikomachische Ethik VI auf einen Punkt hin, der für unser Verständnis der Aussage, die Klugheit sei eine Tugend, zentral ist: Nach dieser Stelle ist die Richtigkeit des Strebens ausschlaggebend für die Wahrheit der praktischen Vernunft und wird selbst durch die sogenannte ethische Tugend garantiert.
3.3. Praxis als Zusammenwirken von praktischer Vernunft und Tugend
Damit ist ein weiterer Zentralbegriff der aristotelischen Ethik angesprochen, nämlich der der Tugend, die auch in der aristotelischen Konzeption eine wesentliche Voraussetzung für die Eudaimonie ist (NE I 6, 1098a 12–18). Denn diese besteht in einer Aktivität gemäß der Tugend, wofür das Besitzen von Tugenden notwendig ist. Bis heute bekannt ist auch Aristoteles’ Lehre der Beschreibung der sogenannten ethischen Tugenden als Haltungen, durch die jemand darauf abzielt, die rechte Mitte in einem Gegenstandsbereich zu treffen, z.B. in der Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit (NE II 5f.). In diesen Kontext gehören auch seine Lehren von den Tugenden des sozialen Lebens, vor allem der Gerechtigkeit in Nikomachische Ethik V, aber auch der Freundschaft in Nikomachische Ethik VIII–IX. Da zudem richtige Freude bzw. Lust aus tugendhafter Aktivität entstehen und ein willensschwaches (akratisches) Handeln durch Tugend verhindert werden soll, kann man die Nikomachische Ethik in ihrer Gänze durchaus als eine ausführliche Tugendlehre charakterisieren.
Ein philosophisch exaktes Verständnis von Aristoteles’ Tugendlehre und ihrem Bezug zum Handeln ist jedoch nicht einfach, und das hat nicht zuletzt mit der praktischen Vernunft bzw. Klugheit zu tun: Zwar ist es klar, dass Aristoteles diese im Rahmen seiner Unterscheidung zweier Arten von Tugenden – nämlich „dianoetischer“ Tugenden des Verstandes und „ethischer“ Tugenden des Charakters, die insbesondere ein kontrolliertes Verhältnis zur eigenen Emotionalität bewirken (NE II 1) – den Verstandestugenden zurechnet. Doch das Verhältnis der Klugheit zu den ethischen Tugenden, das Aristoteles vor allem gegen Ende von Buch VI der Nikomachischen Ethik behandelt, stellt ein zentrales Problem für |16|die Interpretation der aristotelischen Ethik dar. Denn die Aussagen, die Aristoteles hierzu trifft, klingen zunächst einmal kontraintuitiv:
Das Werk wird gemäß der Klugheit und der ethischen Tugend ausgeführt; denn die Tugend macht das Ziel richtig, die Klugheit das auf dieses Hinführende. (NE VI 12, 1144a6–8)
Die Tugend bzw. Schlechtigkeit verdirbt das Prinzip bzw. rettet es; in den Handlungen ist das Worumwillen Prinzip, so wie in der Mathematik die Hypothesen. Weder dort lehrt also die Vernunft die Prinzipien, noch hier, sondern die entweder natürliche oder angewöhnte Tugend lehrt die richtige Meinung über das Prinzip. (NE VI 9, 1151b15–19)
Für den tugendhaften Menschen scheint dies zu bedeuten, dass die Richtigkeit seiner Ziele nicht durch die Klugheit oder durch eine andere Form von Vernunft sichergestellt ist, sondern allein durch die ethische Tugend, d.h. durch sein gutes Ethos bzw. seinen guten Charakter. Diese Ansicht stimmt auch mit den aus De anima III 9–10 und Nikomachische Ethik VI 2 zitierten Aussagen sowie der für Aristoteles wichtigen Verbindung von Klugheit und Überlegung (būleusis) überein, die stets mit dem Hinweis verbunden ist, dass man nicht über Ziele, sondern über Mittel überlegt (v.a. NE III 5–6). Ferner steht sie in enger Korrespondenz zu Aristoteles’ Lehre von der Vorzugswahl (prohairesis), die üblicherweise als Wahl der richtigen Mittel für ein vorliegendes Ziel verstanden wird (NE III 4). Aristoteles war demnach offensichtlich der Meinung, die Ziele richtigen Handelns seien dem Handelnden durch seine ethische Tugend vorgegeben und nicht durch die praktische Vernunft. Die Praxis erweist sich somit als ein guter Lebensvollzug, in dem die Klugheit im Rahmen eines durch Tugend grundsätzlich geprägten Agierens die Richtung des Tuns im Einzelnen ermittelt. Damit ist der Verstehenshorizont bestimmt, von dem aus die aristotelische Praxisphilosophie seit der Antike gelesen wurde, zum Beispiel von Thomas von Aquin im 13. und auch noch von Julius Walter im 19. Jahrhundert: Sie interpretierten die aristotelische Beschreibung von Praxis und praktischer Vernunft nicht primär als eine Deduktion aus Prinzipien, die die Vernunft selbst aufstellt, sondern als einen Vollzug des bereits tugendhaften Menschen. (Thomas von Aquin, SLE VI, 10, l. 151–162 Gauthier; STh Prima Secundae I-II 57, 5; s. Walter 1873, 74f.)
Es ist bemerkenswert und von Aristoteles’ Text her verwunderlich, dass dies für die Forschung des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen nicht mehr gilt. Stattdessen nimmt man seit Richard Loening 1903 verbreitet an, dass nach Aristoteles die Vernunft in der Lage sei „Prinzipien des Handelns“ zu erkennen (vgl. Loening 1903, 26–39), und akzeptiert Leonard Greenwood 1909 geäußerte Umdrehung der aristotelischen Formulierung („the actual stating of the telos […] must be the work not of moral aretē, but of phronēsis“, (Aristoteles [Greenwood] 1909, 51) als Interpretation des von Aristoteles Gemeinten. Das, was für diese das „auf das Ziel hinführende“ (ta pros to telos) ist, wird nun zu „component means“ or „constitutive ends“ umgedeutet, d.h. zu Bestandteilen dessen, was das Ziel ausmacht. (Aristoteles [Greenwood] 1909, 52–54) Vergleichbar unaristotelische Formulierungen sind auch in aktuellen Publikationen zu finden: „The first task |17|of deliberation concerns a decision not about means but about ends“ (Sherman 1989, 71; vgl. Kraut 1989, 343: „The political life is devoted to the fullest possible expression of practical wisdom, and the ethical virtues are desirable because they facilitate this intellectual activity“). Wohl selten hat eine Interpretationstradition, die so offen dem zu interpretierenden Text widerspricht, vergleichbare Erfolge gefeiert.
Die hier angesprochene Frage ist in jedem Fall für die Erklärung dessen, wie sich Praxis vollzieht, von großer Bedeutung: Bietet uns Aristoteles tatsächlich eine Erklärung für die Zielausrichtung unseres Handelns, die nicht unmittelbar eine rationale Bestimmung beinhaltet? In der Tat scheint es ja schwer vorstellbar, dass uns in der Praxis ein nicht rationales Streben Handlungsziele vorgibt: Wie soll man sich dies vorstellen? Ist damit tatsächlich ein nicht rationales Streben gemeint, oder lässt diese Lehre Raum für eine Mitwirkung der Vernunft? Um derartige Fragen zu beantworten, möchte ich nun in drei Schritten Aristoteles’ Standpunkt klarer machen: I. werde ich Aristoteles’ bereits kurz erwähnte Verhältnisbestimmung von Streben und Denken anhand einiger nicht-ethischer Schriften näher erläutern, sodann II. anhand des zweiten Buches der Eudemischen Ethik zeigen, wie sich die Rolle der ethischen Tugend vor diesem Hintergrund erklären lässt, und schließlich III. den Zusammenhang dieser habituellen Zielauffassung mit der Vernunft diskutieren, bevor ich zu einer kurzen vorläufigen Würdigung der aristotelischen Position komme.
3.3.1. Die Ausrichtung der Praxis auf Ziele
Im IX. Buch seiner Metaphysik weist Aristoteles darauf hin, dass rationale Wesen innerhalb seiner Konzeption von Möglichkeiten auf besondere Weise zu behandeln sind: Da nicht-rationale Vermögen grundsätzlich auf ein Objekt ausgerichtet sind, werden sie aktiv, wenn ein solches Objekt in hinreichender Nähe auftaucht (IX 5, 1014b35–18a9). Für die Vernunft (logos), die sich auf zwei einander ausschließende Objekte zugleich beziehen kann, gilt dies aber nicht, sondern sie kann immer nur eine der verschiedenen in ihr liegenden Möglichkeiten realisieren. „Also“, schließt Aristoteles, „muss etwas anderes das Entscheidende sein; ich meine hiermit das Streben oder die Vorzugswahl. Denn was das vernünftige Vermögen entscheidend erstrebt, das tut es“ (1014a10–12). Diese Stelle fasst auf prägnante Weise die Gründe zusammen, die die Sonderstellung des Strebens in Aristoteles’ Handlungstheorie motivieren: Anders als die Vernunft impliziert ein Streben eine Festlegung auf ein Handlungsziel; nur ein Wesen, das bereits strebt, dessen Ziel also festliegt, ist überhaupt in der Lage zu handeln.
Wie sich Streben und Vernunft hierbei verhalten, das wird näher erklärt in Aristoteles’ Schriften „Über die Seele“ (De anima) und „Die Bewegung der Tiere“ (De motu animalium). Beide beschreiben den Bewegungsvorgang anhand dreier Momente, nämlich 1. des unbewegten erstrebten Objekts, 2. des Strebevermögens, das zugleich bewegt und bewegt wird, und 3. der dadurch eintretenden |18|Bewegung des Lebewesens (DA III 10, 433b 13–19; De motu animalium [MA] 6, 700b35–01a1). In enger Verbindung mit dieser Dreiteilung wird die Frage diskutiert, welche Seelenvermögen am zweiten Punkt wirksam sind, d.h. wodurch ein erkanntes Objekt das Lebewesen bewegt. Dies kann aber Aristoteles zufolge weder irgendein Erkenntnisvermögen aus sich heraus, noch auch das Strebevermögen selbst. Eine direkte Wirkung der praktischen Vernunft werde nämlich durch ein willensschwaches Handeln ausgeschlossen, bei dem jemand seiner Vernunft zuwiderhandelt; eine ausschließliche Wirkung eines Strebevermögens sei hingegen deswegen unmöglich, weil ein willensstarker Handelnder zwar ein Streben in Form einer Begierde habe, ihr aber nicht folge (DA III 9, 432b26–33a8). Auf dieser Grundlage zieht Aristoteles den Schluss, dass praktische Vernunft und Strebevermögen bei der Bewegung des Lebewesens eine Einheit bilden müssen, indem sich beide auf das erstrebte Objekt beziehen und so das Lebewesen auf dieses hin in Bewegung setzen (DA III 10, 433a13–21; MA 6, 700b,17–25).
Die für die Bewegung notwendige Beschränkung der rational gegebenen Möglichkeiten auf genau ein Objekt muss demnach dadurch erfolgen, dass dieses zum Objekt des Strebens wird. Eine solche Festlegung erfolgt wiederum, wenn ein Gegenstand als „angenehm“ (hēdy) empfunden wird; er wird dann nicht nur theoretisch erkannt, sondern auch unmittelbar erstrebt, ebenso wie das als „unangenehm“ (lypēron) empfundene automatisch gemieden wird. Beide Prädikate implizieren nämlich, anders als „wahr“ und „falsch“, dass das von ihnen prädizierte Objekt des Strebens wird (DA III 7, 431b8–10; vgl. De sensu et sensato 1, 436b15–17). In der Schrift „Die Bewegung der Tiere“ (De motu animalium) wird dies dadurch näher erklärt, dass die Erkenntnis als angenehm oder unangenehm automatisch eine körperliche Wärme oder Kälte verursacht, mit der z.B. Emotionen wie Mut, Furcht und sexuelles Begehren verbunden seien (8, 701b33–702a5). Von daher entwickelt Aristoteles die Idee einer ununterbrochenen Kette von Wirkungen, die mit der Erkenntnis anhebt und mit einer körperlichen Bewegung endet: „Denn die organischen Teile bereiten die Emotionen vor, das Streben aber die Emotionen, und das Streben wiederum die Vorstellungskraft. Diese entsteht aber entweder durch Denken oder durch sinnliches Wahrnehmen.“ (MA 702a17–19)
Diese hier nur sehr knapp skizzierten Grundlagen von Aristoteles’ Bewegungstheorie zeigen, dass für ihn eine handlungsleitende Funktion von Vernunft überhaupt nur in einem Zusammenspiel mit einer Form des Strebens deutlich wird. Ich möchte dabei zwei Punkte besonders festhalten: 1. Eine rationale Erkenntnis muss auf jedem Fall einem rationalen Streben vorhergehen. 2. Diese Erkenntnis selbst kann den Gegenstand des Strebens aber nicht hinreichend spezifizieren, um selbst handlungsleitend zu wirken. Dafür ist vielmehr nötig, einen rational erkannten Gesichtspunkt in ein Streben zu übersetzen.
|19|3.3.2. Die Tugend und die Auffassung der Ziele
Vor diesem Hintergrund kann insbesondere anhand des zweiten Buchs von Aristoteles’ relativ wenig gelesener Eudemischen Ethik näher erklärt werden, wie die ethische Tugend die Ziele des Handelns vorgibt. Dieses Buch enthält nicht nur eine ausführliche Erklärung dieses Punktes, sondern es weist auch enge Parallelen zu den bis jetzt zitierten naturwissenschaftlichen Schriften auf, die daher zur Verdeutlichung herangezogen werden können.
Aristoteles schildert hier die ethische Tugend vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, die Herrschaft des rationalen Seelenteils in der Seele zu ermöglichen (I 8, 1218b9–16; II 1, 1219b39–1220a4). Dazu hält er fest, die ethische Tugend sei eine Qualität in Bezug auf solche Haltungen, nach denen man Emotionen wie Zorn, Furcht und Scham empfinde oder nicht empfinde (II 2, 1220b7–20). Diese seien nämlich mit Empfindungen wie „angenehm“ (hēdy) und „unangenehm“ (lypēron) untrennbar verbunden (II 1/2, 1220a34–39; 2, 1220b14f.): Wenn ich Zorn empfinde, dann wird für mich eine Aggression angenehm und Zurückhaltung unangenehm; empfinde ich Furcht, erscheint mir die Flucht angenehm, das Standhalten unangenehm. Die Aufgabe der Tugend besteht nun darin, eine rechte Ordnung unter diesen handlungsleitenden Emotionen herzustellen:
Weil […] die ethischen Tugenden dem nicht rationalen Seelenteil angehören, der aber über Streben (orexis) verfügt […], muss der Charakter notwendigerweise durch das Verfolgen oder Meiden bestimmter Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten (hēdonai kai lypai) schlecht oder hervorragend sein. […] Denn die Anlagen und die Haltungen beziehen sich auf die Emotionen, die Emotionen aber werden durch Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit bestimmt. (EE II 4, 1221b27–37)
Die Ausführungen aus den eben zitierten Schriften zeigen, wie diese Aussage zu verstehen ist: Die Leistung der Tugend besteht darin, dass die von der Vernunft als richtig bewerteten Objekte als „angenehm“ und „unangenehm“ empfunden werden, so dass sie, vermittelt über die richtigen Emotionen, zum Gegenstand unseres Strebens und folglich unseres Handelns werden. Ein tugendhafter Mensch wird in seinem Handeln daher ausschließlich durch solche Objekte bestimmt, die als richtig zu bewerten sind. Umgekehrt ist es ohne eine solche Tugend nur schwer möglich, das Handeln auf solche Objekte auszurichten.
Wie kommt nun Aristoteles vor diesem Hintergrund zu der Annahme, dass die Tugend die Richtigkeit des Ziels, die Klugheit die der dazu hinführenden Schritte garantiert? Im letzten Kapitel des zweiten Buches der Eudemischen Ethik stellt er zunächst die Frage, ob die Tugend „die Prohairesis, d.h. das Ziel […] oder, wie einige meinen, die Vernunft (ho logos) fehlerlos macht“. Die Verbindung von Vernunft und Tugend wird sofort mit dem Hinweis abgelehnt, die Richtigstellung des Logos sei eine Wirkung der Selbstbeherrschung (enkrateia), also des Gegenteils der Willensschwäche (akrasia. II 11, 1227b12–16; vgl. DA III 9, 433a6–8; Top. IV 5, 125b20–27). Während er eine genauere Aussage hierzu verschiebt, betont Aristoteles sofort, die Tugend mache nicht das, was zum Ziel hinführe richtig, sondern dieses selbst, „weil es über dieses weder ein Nachdenken (logismos) noch Vernunft gibt“ (II 11, 1227b24f.). Die Begründung für diese Behauptung besteht zunächst in der Feststellung, keine Fertigkeit denke über ihr Ziel nach, was an einigen Beispielen belegt wird: Weder frage sich der Arzt, ob er für Gesundheit sorgen soll, noch der Gymnastiker, ob körperliches Wohlbefinden anzustreben sei; lediglich die auf dieses Ziel hingeordneten Handlungen seien bei ihnen umstritten. Hieraus kann Aristoteles folgern:
Wenn also der Grund für jede Richtigkeit entweder die Vernunft oder die Tugend ist, dann ist das Ziel, wenn nicht die Vernunft Ursache hierfür sein kann, sicher wegen der Tugend richtig. […] Das Worumwillen ist das Mittlere, dessen Ursache die Tugend ist, für [Ich lese mit einer Konjektur Kennys tū für das überlieferte to. Vgl. zum ganzen Abschnitt Kenny 1979, 83–87] dessen Vorzugswählen als Worumwillen die Tugend die |20|Ursache ist. Allerdings bezieht sich die Vorzugswahl nicht hierauf, sondern auf das, was seinetwegen erfolgt. (II 11, 1227b34f., 1227b37f.)
Die Überlegung und die mit ihr verbundene Vorzugswahl sind demnach stets auf Mittel zum Ziel bezogen; dieses selbst kann nicht Gegenstand der Überlegung sein, sondern es werde durch die Tugend vorgegeben. Wie aber ist dies genau zu verstehen? Das Problem dabei ergibt sich, wie John Cooper bemerkt (Cooper 1975, 4f.), daraus, dass Aristoteles’ Beispiele stets aus dem Bereich von Handwerken oder anderen professionellen Tätigkeiten genommen werden, in denen das Ziel des Handelns feststeht, da es nach der bekannten Lehre des Ersten Buches der Nikomachischen Ethik von einer höherrangigen Tätigkeit vorgegeben wird. Für die Praxis, also das Ausüben von Tugenden, ist aber gerade dies nicht selbstverständlich, da sie ja ihr Ziel in sich selbst haben soll; auf ihren Bereich wird man aber die Aussage beziehen müssen, dass die Tugend die Ziele vorgibt.
Wichtige Hinweise zum Verständnis dieser Ansicht liefert der Abschnitt zur Vorzugswahl in der Eudemischen Ethik: Diese sei deswegen nur auf die Mittel, nicht auf das Ziel ausgerichtet (II 10, 1226a7–15), weil sie ein Überlegen (būleusis) sei. „Menschen, für die kein Ziel festliegt, überlegen nicht“ (II 10, 1226b29f.). Bemerkenswert ist, dass Aristoteles in diesem Kapitel angibt, welche Vermögen für das Ansetzen des Ziels verantwortlich sind: Die Vorzugswahl
ist […] nicht ein Meinen über die einem selbst obliegenden Gegenstände des Handelns, durch die wir tatsächlich glauben, man müsse in gewisser Weise handeln oder nicht handeln. Dies ist etwas Gemeinsames von Meinen (doxa) und Wollen (būlēsis). […] Denn jemand will in erster Linie das Ziel, und meint, er müsse sowohl gesund sein als auch gut handeln. (II 10, 1226a4–7, 13–15)
Während sich die Vorzugswahl nur auf die Mittel zum Ziel erstreckt, wird dies also durch die Vermögen des Meinens und des Wollens vorgegeben. Der Verweis auf das Gesund-Sein und das Gut-Handeln bestätigt diese Interpretation: Das Gesund-Sein (hygiainein) ist ja das Ziel, das der Arzt nicht wählt, sondern das seiner Überlegung vorausliegt (II 10, 1226a8–14; II 11, 1227b30f.). Das gleiche gilt für das eu prattein, das ich mit gutes Handeln übersetzt habe: Dieser Begriff, der ebenso „gut gehen“ bedeuten kann, ist ein Synonym zum Glücklich-Sein, dem eudaimonein bzw. der eudaimonia (II 1, 1219b 1f.) und auch zum guten Leben (eu zēn), das in Nikomachische Ethik VI als das Ziel der phronēsis genannt wird (NE VI 5, 1140a28). Der gesamte Bereich der mit Überlegung und Klugheit verbundenen Vorzugswahl lässt sich demnach auf den ursprünglichen Wunsch, glücklich zu sein, beziehen und ermittelt die richtigen Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel. Daher ist dieses Ziel ein den Prinzipien theoretischen Denkens vergleichbares (II 10, 1227a8–11; II 11, 1227b28–30) erstes Prinzip.