Читать книгу: «Philosophien der Praxis», страница 4

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3.3.3. Die Rolle der Tugend für die Richtigkeit des Meinens

Entscheidend ist nun, dass das Erfassen dieses Zieles ebenfalls auf rationale Weise geschieht. Einen Hinweis hierauf stellt die Erwähnung des Meinens (doxa) in der Eudemischen Ethik, die gerade betrachtet wurde. Was dieses Vermögen ist, lässt sich anhand einiger Aussagen aus NE VI näher bestimmen: 1. unterscheidet sich das Meinen dadurch von jeglicher überlegender Rationalität, inklusive der Klugheit, dass es keine Suche (zētēsis), sondern eine Behauptung bzw. Überzeugung (phasis) ist (NE VI 10, 1142b13–15; 12, 1143b13f.). Während es dies mit dem Wissen (epistēmē) gemeinsam hat, unterscheidet sich das Meinen 2. von diesem, weil es falsch sein kann und weil es sich auf veränderliche Gegenstände bezieht (NE VI 3, 1139b17–21; 10, 1142b10). Das ist auch dadurch garantiert, dass |21|Wissen auf Beweisen beruht, während Meinungen nicht beweisbar sein können (NE VI 3, 1139b25–35; 12, 1143b12f.).

Als eine Überzeugung über veränderliche Gegenstände ist das Meinen demnach genau die Instanz, die ein Handeln anleiten kann. Denn die Klugheit, die sich auf dieselben Gegenstände bezieht (NE VI 11, 1143a14f.), ist eine Überlegung (būleusis), also ein Prozess und nicht, wie das Meinen, dessen möglicher Ausgangspunkt. Aus diesen Besonderheiten des Meinens heraus ist auch zu erklären, dass Aristoteles die Zielauffassung an mehreren Stellen im fünften Buch nicht der eigenen Erkenntnis des Individuums zuschreibt, sondern dem kompetenten Rat anderer (NE VI 11, 1143a15; 12, 1143b11–13; 13, 1143b30–32). Er geht also davon aus, dass unsere Zielauffassung letztlich nicht auf einem gesicherten oder auch nur deduktiv absicherbaren Wissen beruht, sondern auf einer Überzeugung, die sich als falsch erweisen kann. Obwohl rational und bewusst gefasst, behalten unsere Handlungsziele also stets ein hohes Maß an Unsicherheit, insofern sie nur ein rational nicht voll absicherbares Meinen ins Spiel bringen.

Genau an dieser Stelle gilt es nun auf den Begriff der Tugend zurückzukommen. Hierzu vermerkt Aristoteles im zweiten Buch der Eudemischen Ethik, dass das Wollen (būlēsis) und praktische Wissen, im Gegensatz zu einem Vermögen wie dem Sehen, auf entgegengesetzte Ziele gerichtet sein kann, nämlich nicht nur auf das Gute (to agathon), sondern auch auf ein scheinbares Gut (to phainomenon agathon) bzw. etwas Schlechtes (to kakon. II 10, 1227a22–30). Diese Bemerkung wird dann auf aufschlussreiche Weise näher erläutert:

Die Täuschung geht nicht in beliebige Richtungen, sondern auf die Gegenteile davon, wovon sie ein Gegenteil ist, und auf diejenigen Gegenteile, welche dem Wissen nach Gegenteile sind. Also muss auch die Täuschung und die Vorzugswahl vom Mittleren aus auf dessen Gegenteile hin geschehen […] Der Grund dafür ist aber das Angenehme und das Unangenehme. (EE II 10, 1227a33–38)

Diese Stelle bringt in aufschlussreicher Weise die bis jetzt nachgezeichneten aristotelischen Argumentationslinien miteinander in Verbindung und setzt sie in Beziehung zu einer weiteren zentralen Doktrin von Aristoteles’ Ethik, nämlich der Lehre von der richtigen Mitte. Die Tugend lenkt das Streben durch Festlegung der Empfindungen „angenehm“ und „unangenehm“ immer auf diejenige Möglichkeit, die innerhalb eines Handlungsbereichs die rechte Option bedeutet, nämlich auf die Mitte. Hierdurch gibt sie das Ziel für alle Einzelhandlungen vor, die in diesem Sinne durchaus als die eingangs genannten „constitutive ends“ verstanden werden können. Damit setzt sie zwar eine rationale Überzeugung voraus – „In allem ist das Mittlere in Bezug auf uns das Beste. Dies ist aber so, wie das Wissen und die Vernunft befiehlt“ (hōs hē epistēmē keleuei kai ho logos. II 3, 1220b27f.) – aber diese kann nur dann richtig sein, weil das Urteil nicht zu stark oder in falscher Weise von unseren Emotionen geprägt ist (vgl. NE VI 5, 1140b11–20; NE VI 8, 1151b15–20), so dass wir nicht mehr das wirklich in der Mitte Liegende als angenehm empfinden.

|22|3.4. Eine vorläufige Würdigung

Für Aristoteles besteht Praxis also darin, dass der tugendhafte Mensch habituell auf die Mitten hin ausgerichtet ist, auf die sich die einzelnen Tugenden beziehen. Durch die Tugenden wird das Streben auf sie hin festgelegt und damit für die Klugheit bzw. praktische Vernunft die Möglichkeit eröffnet, diejenigen Handlungen zu ermitteln, die diesen Zielen in Einzelsituationen entsprechen, also zu ermitteln, was jeweils eine tapfere, gerechte oder ähnliche Handlung ist. Diese Festlegung setzt zwar eine rationale Erfassung der Ziele voraus, die auch beim tugendhaften Menschen in Form einer Meinung präsent ist, wofür es aber nicht notwendig ist, dass diese Meinung auf eigener Reflexion beruht oder aus Prinzipien abgeleitet ist; sie kann auch gelernt und weitergegeben werden, ohne ihre praktische Relevanz zu verlieren. Für die konkrete Praxis ist aber diejenige Vernunftform von entscheidender Bedeutung, die aufgrund ihrer Verbindung mit einem Streben, in dem sich das spezifische Suchen einer Einzelperson nach Eudaimonie abbildet, im konkreten Fall richtige Handlungen hervorbringt. Wenn ein solches Streben also von der Klugheit in jeder Situation aufs Neue konkretisiert wird, indem sie Wege zu erreichbaren Zielen angibt, dann entfaltet sich der Mensch in seinen Handlungen. Eine allgemeine Reflexion über richtiges Handeln kann hingegen in dieser Hinsicht nur wirksam werden, wenn der Einzelne diese Art von Erkenntnis vor dem Horizont seiner konkreten Ziele anstellt.

Der gerade erhobene Befund zur aristotelischen Ethik macht diese in einer Hinsicht sehr attraktiv, lässt sie in einer anderen aber unvollendet erscheinen: Attraktiv scheint der Ansatz insbesondere insofern, als hier die Voraussetzungen für einen individuell-praktischen guten Lebensvollzug zentral werden, inklusive der Forderung, dass ein solcher Lebensvollzug insbesondere in der Perspektive der Person selbst gut ist. Unbefriedigend kann hingegen wirken, dass eine Reflexion des individuellen Handelns vor dem Horizont allgemeiner Annahmen und Probleme hier nicht eigentlich zum Thema der Ethik wird, sondern es im Grunde genommen ausreicht, dass der tugendhafte Mensch aus einer nicht notwendig argumentativ abgesicherten, sondern eher emotional stabilisierten Meinung heraus handelt. Auch wenn Aristoteles annimmt, dass bestimmte Typen von Handlungen unter allen Umständen verboten sind (NE II 6, 1107a8–27), verweist er im Hinblick auf konkrete Situationen auf den kompetenten, d.h. tugendhaften, Einzelnen als Maßstab für gute oder weniger gute Entscheidungen (NE III 6, 1113a31–33), was in Anbetracht des Anspruchs auf eine selbstbestimmte Lebensführung sowie einer Vielzahl von Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen darüber, wohin sich richtige Praxis ausrichten muss, unbefriedigend wirkt.

|23|4. Prinzipien der Praxis: Universale Normen und partikulare Selbstbestimmung in der Praxis nach Thomas von Aquin

Daher soll nun der Blick auf eine Konzeption gerichtet werden, welche die Prämissen der aristotelischen Handlungstheorie mit einer erweiterten Theorie praktischer Rationalität verbindet, die sowohl universale ethische Prinzipien annimmt als auch deren Verhältnis zur je konkreten praktischen Vernunft und zu den der Tugend inhärenten Strebungen diskutiert. Dies geschieht, wie im Folgenden zu zeigen ist, gerade bei Thomas von Aquin, der das komplizierte Verhältnis individueller und gesellschaftlich-staatlicher Praxis vor dem Hintergrund ethischer Normen ausdrücklich zum Thema macht. (vgl. Hoffmann 2013, 165–183) Hierzu sollen zunächst kurz wesentliche Entwicklungen der praktischen Philosophie zwischen Aristoteles und Thomas skizziert werden (B.), bevor gezeigt wird, wie Thomas an Aristoteles anschließt (C.), um dann einen Überblick über seinen ethischen Ansatz zu geben (D.). Für die Werke des Thomas werden folgende Abkürzungen verwendet: I-II = Summa theoligiae (prima secundae); II-II = Summa theoligiae (secunda secundae); ScG = Summa contra gentiles; Quodl. = Quodlibet/Questiones quodlibetales.

4.1. Universale ethische Sätze und Gewissen: Voraussetzungen der Rezeption der aristotelischen Ethik in Antike und Mittelalter

Als Vorbedingung für die Entwicklung eines solchen Ansatzes kann die Tatsache gelten, dass Thomas Aristoteles vor dem Hintergrund einer Terminologie und Systematik rezipieren kann, die weitere, für uns weitgehend selbstverständliche Voraussetzungen einbezieht. Zunächst ist die Philosophie in lateinischer Sprache, die über das Mittelalter die Terminologie und Konzeptualisierung von Ethik in der Neuzeit massiv beeinflusst hat, von ihren Anfängen bei Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) her wesentlich von stoischen Einflüssen geprägt: Für Cicero ist die Vergesellschaftung von Menschen ein Produkt der menschlichen Rationalität, die, als Ausdruck der kosmischen Vernunft der stoisch verstandenen Gottheit, für den Menschen zu einem Gesetz wird, das sowohl dessen individuelles Leben als auch dessen staatliche Vergemeinschaftung bestimmt. (vgl. Cicero De legibus I 22–63, v.a. 33) Christliche lateinische Autoren wie Augustinus (354–430) und Petrus Abaelardus (1079–1142) greifen diese Konzeption auf, und vor allem der letztere sieht das menschliche Verhalten als bestimmt an von der „Vernunft, die mich wie ein Gesetz regieren muss“; (Abaelard, Römerbriefkommentar II, 208 Buytaert; vgl. Perkams 2001, 106f. u. 310) die spezifische Leistung dieser Autoren, die auch die antike Tugendkonzeption in ihr Denken übernehmen (Bejczy 2007, 1; Wieland 1981, 221–238), besteht insbesondere in einer vertieften Reflexion des Verhältnisses von Schuld und Gewissen, das von Abaelard in der prägnanten Sentenz zusammengefasst wird „es gibt keine Sünde außer gegen das |24|Gewissen“ (non est peccatum nisi contra conscientiam; als Zweitüberschrift abgedruckt in der englischen Übersetzung: Abelaerd [Luscombe] 1971, 26, 54). Damit wird die individuelle praktische Vernunft, die sich im Gewissensurteil ausdrückt, als die Instanz anerkannt, die das individuelle Handeln bestimmen muss und vor welcher der Schuldige primär verantwortlich ist. Die Bestimmung des Verhältnisses individueller und universaler Rationalität wird damit zu einer zentralen Frage des mittelalterlichen christlichen Denkens, die ihre Bedeutung behält, wenn die mittelalterlichen Denker im 13. Jahrhundert, neben anderen Werken des Aristoteles, die Nikomachische Ethik kennenlernen.

Diese Voraussetzungen machen es auch verständlich, dass dieses aristotelische Werk nach seinem Bekanntwerden breit rezipiert wird und somit den Status als zentraler Text der Ethik erhält, den es bis heute innehat (vgl. Perkams 2014, 11–23). Ermöglicht wird diese Entwicklung, nach einer bereits intensiven Phase der Beschäftigung mit ersten Teilübersetzungen der Nikomachischen Ethik ins Lateinische (Kommentare in Gauthier 1959, 115–118; genauere Informationen s. Wieland 1981), durch die vollständige Übertragung, die Robert Grosseteste, Bischof von Lincoln (ca. 1170–1253), 1246/47 mithilfe griechischer Mitarbeiter erstellt. Seine Edition macht die Nikomachische Ethik durch Übersetzungen der erhaltenen antiken und byzantinischen griechischen Kommentare sowie durch umfangreiche Anmerkungen für den lateinischsprachigen Leser leichter verständlich (Gauthier 1959, 120–122) und schafft so die Grundlage, auf der die komplette Nikomachische Ethik in lateinischer Sprache interpretiert werden kann. Dies wird erstmals 1250–1252 in Köln durch den Dominikanermönch Albertus Magnus bzw. Albert den Großen (ca. 1200–1280) geleistet.

Albert erklärt in seinem umfangreichen Kommentar mit dem Titel Super Ethica (Über das Buch ‚Ethik‘) nicht nur den Wortsinn jeder einzelnen Passage der Nikomachischen Ethik, sondern er diskutiert auch zu jedem einzelnen Abschnitt diejenigen Probleme, die der aristotelische Text vor dem Hintergrund der Annahmen seiner Zeit stellt. In diesem Zusammenhang bringt er die eben angesprochenen Fragen nach universalen ethischen Regeln und dem individuellen vernunftgestützten Gewissensurteil mit der aristotelischen Konzeption in Verbindung und schafft eine erste Synthese aus beidem, die von seinem Schüler Thomas von Aquin (1224/25–1274) aufgegriffen und vor allem in seiner Summa theologiae prägnant dargestellt wird. (Zu Aktualisierungsprozessen aristotelischer Ethik im 13. Jahrhundert Fuchs 2017, 25–138.)

|25|4.2. Thomas’ Rezeption der aristotelischen Unterscheidung von Praxis und Poiēsis

Thomas’ Rezeption des aristotelischen Konzepts von Praxis lässt sich anhand seiner Tugendlehre nachvollziehen: Er übernimmt Aristoteles’ Unterscheidung von Handeln (agere = praxis) und Hervorbringen (facere = poiēsis) sowie die Begründung, dass bei ersterem das Ziel der Tätigkeit im Handelnden selbst liege, wobei er den Tugendcharakter der Klugheit (prudentia = phronēsis) damit begründet, dass diese, im Gegensatz zu einer Fertigkeit (ars = technē) nicht nur die Fähigkeit zu, sondern auch die tatsächliche Ausübung einer guten Tätigkeit bedeute. Zur Erläuterung wird Aristoteles’ Aussage angeführt, dass der Kluge nicht freiwillig dem Guten entgegen handle, während dies aus einer Fertigkeit heraus durchaus möglich sei (I-II 53, 4 resp.). (vgl. das folgende Kapitel Perkams 2008, 109–131) Ebenso akzeptiert Thomas die Annahme, dass die ethische Tugend die Zielauffassung des Akteurs richtigstelle, die Klugheit hingegen die rechten Wege zu diesem Ziel herausfinde, was insbesondere deswegen nötig sei, weil die Wahrheit in praktischen Angelegenheiten immer nur von einer Rationalität begriffen werden könne, die die Besonderheiten des Einzelfalls erkenne (I-II 53, 5 resp. und ad 3).

Gegenüber diesen aristotelischen Elementen stechen zwei Punkte heraus, in denen Thomas Aristoteles ergänzt: Einerseits sieht er es als eine Besonderheit der Klugheit an, dass sie das praktisch Wahre nicht nur durch Überlegung finden und richtig beurteilen kann, sondern dass sie es auch unmittelbar dem Willen „befiehlt“ (I-II 53, 6 resp.); auf diese Weise stellt er die unmittelbare Verbindung dieses „praktischen Intellekts“ (intellectus practicus) zum Lebensvollzug klar. Andererseits liefert er eine Erklärung dafür, wie in diesem Handlungsmodell universale Prinzipien guten Handelns eine Rolle spielen: Hierfür ist zusätzlich zur Klugheit ein Vermögen erforderlich, das Thomas „Intellekt“ (intellectus) nennt und als die Gegebenheit universaler Prinzipien des Denkens in der menschlichen Vernunft deutet, die gleichsam automatisch mit diesen Prinzipien arbeitet und sich ihrer auch reflexiv bewusst werden kann (I-II 54, 5 resp.). Während also dieser Intellekt bewirke, dass der Mensch praktische Fragen von den richtigen allgemeinen Prinzipien aus beurteile, stelle die ethische Tugend sicher, dass der Mensch tatsächlich die „Intention“, d.h. die als Willensakt wirksame Absicht, habe, diese Ziele auch zu erreichen; als gemeinsames Ergebnis von beidem könne die Klugheit die richtigen Handlungsanweisungen im Einzelfall geben (I-II 54, 4 resp.).

Diese Überlegungen zeigen, dass Thomas sich eng an Aristoteles anschließt, dies aber doch vor dem Hintergrund einer Konzeption tut, die auch weiteren, durch die nach-aristotelischen Entwicklungen deutlicher hervorgetretenen Anliegen gerecht werden will. Es ist daher gerechtfertigt, in Thomas’ Handlungstheorie und Ethik einen eigenen Ansatz zu einer praktischen Philosophie aristotelischen Typs zu sehen, der die Rolle der Rationalität für das Handeln stärker zum Thema macht.

|26|4.3. Rationale Selbstbestimmung: Die Fundierung der praktischen Vernunft im „Naturgesetz“ (lex naturalis)

Für Thomas beruht das menschliche Handeln insgesamt auf einer Vernunft, dank derer jeder Mensch die Herrschaft über die eigenen Handlungen besitzt (I-II 1, 1–2; s. als Beleg u.a. I-II, 17, 1. 18, 2). Zugleich stellt die Vernunft auch die Norm für seine Handlungen dar, nach der er sich richten kann und muss, da sich ihm die richtige Handlungsweise stets nur durch ein rationales Urteil erschließt (I-II 18, 2–4). Die Tatsache, dass dieses Urteil stets partikulär ist, hat hierbei zweierlei Implikationen: Einerseits ist jeder Mensch befähigt, auf individuelle Weise grundsätzliche Entscheidungen über die Ziele zu treffen, die er in seinem eigenen Leben verfolgen will (Summa contra gentiles III, 113); andererseits sind hierbei stets konkrete Situationen auf jeweils spezifische Weise zu beurteilen, weswegen Thomas eine differenziertere Theorie der Beschreibung partikulärer Handlungen entwickelt. (vgl. Perkams 2008, 2018; zu den Temini Naturrecht und Gerechtigkeit Fuchs 2017)

Den Hintergrund dieses Gedankens liefert Thomas’ Theorie des Naturgesetzes bzw. des Naturrechts: Für Thomas ist das natürliche Recht bzw. Gesetz (ius naturale bzw. lex naturalis; zur Synonymität beider Begriffe Bormann 1999, 272–275) nichts anderes als die im Intellekt gegebenen universalen Grundaxiome der Vernunft, insofern sie praktisch ist, d.h. die menschliche Lebensführung anleitet. (vgl. zur Unterscheidung moderne Ansätze eines „ethischen Naturalismus“ Birnbacher 2003, 110–125, Quante 2003, 110–125; auf Thomas von Aquin aufbauend hingegen Finnis 1980) Er begründet das durch eine Analogie zu Aristoteles’ Aussagen über die allgemeinsten Prinzipien des Denkens: Ebenso wie es unbeweisbare Axiome des theoretischen Denkens gibt – etwa den Satz vom Widerspruch –, so verfügt auch das praktische Denken über unbezweifelbare Ausgangspunkte, die jedem Nachdenken über Handlungen zugrundeliegen. Die grundlegende Formel des Naturgesetzes lautet für Thomas, dass das Gute zu tun, das Böse aber zu lassen ist (bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum). Dieser Satz wird von jedem Menschen ebenso anerkannt wie die Grundsätze des theoretischen Denkens, doch unterscheidet er sich vom theoretischen Axiom dadurch, dass es in imperativischer Form gegeben und daher „die erste Vorschrift des Gesetzes“ (primum praeceptum legis) ist (I-II 94, 2). Als eine solche Vorschrift prägt der Satz das gesamte menschliche Handeln. Die Anerkenntnis der Tatsache, dass dieses Handeln gut oder schlecht sein kann, wird nicht von außen von ihm herangetragen, auch nicht durch eine Reflexion auf die eigene Natur, sondern „gut“ ist der funktionelle Grundbegriff, durch den Handlungen überhaupt erst beurteilbar werden. (s. erläuternd Grisez 1965, 168–201)

Die praktische Vernunft ist demnach jedem Menschen als ein inneres Gesetz gegeben, das mit den Begriffen „gut“ und „schlecht“ verbunden ist. So bestimmt sich der Mensch deswegen zu bestimmten Handlungen, weil er sie als gut oder schlecht ansieht. Hierbei wird der Begriff „gut“, ähnlich wie bei Aristoteles, |27|strebenstheoretisch gedeutet: „Gut ist das, was alle anstreben“, formuliert Thomas mit Aristoteles (I-II 94, 2 resp.). Insofern bedeutet der Imperativ „das Gute ist zu tun“ zunächst nicht mehr als, das, was für mein Leben zuträglich ist, ist zu tun‘, und erlangt auf diese Weise seine lebenspraktische Dimension. (Vgl. hierzu Grisez 1965, 186; Merks 1990, 40–42)

Das, was für ein menschliches Leben zuträglich ist, ist allerdings nicht beliebig, sondern es wird auf allgemeine Weise vom Naturgesetz der Vernunft bestimmt. Das bedeutet aber nicht, dass die menschliche Lebensführung auf ein Ziel reduzierbar wäre. Ganz im Gegenteil betont Thomas: „In vielfachem Sinn spricht man von Natur“ (Natura multipliciter dicitur: I-II 10, 1 c.a.). Er erläutert diesen Gedanken anhand einer Rangfolge von natürlichen Neigungen (inclinationes naturales), die seiner Meinung nach sämtlich solche natürlichen Strebensziele darstellen, die grundsätzlich für jeden Menschen Bedeutung haben und daher in der individuellen und allgemeinen menschlichen Vernunft regelmäßig reflektiert werden: Zum einen das natürliche Streben jeder Substanz nach Selbsterhaltung, zum zweiten das allen Lebewesen gemeinsame Streben nach Fortpflanzung und der Erziehung von Kindern; zum dritten solche Strebensziele, die sich insbesondere aus der Natur des Menschen als eines rationalen Lebewesens ergeben, wie der Erwerb von Erkenntnis sowie ein Leben in Gemeinschaft (I-II 94, 2). (s. zu einer Übersicht der Ziele Lippert 2000, 124f.)

Kennzeichnend für die Selbstbestimmung des individuellen Menschen ist hierbei, wie diese Güter von ihm erstrebt werden. Denn kraft seiner Rationalität zeichnet sich der Mensch dadurch aus, dass er sich der Vielfalt dieser Ziele bewusst ist und zwischen ihnen abwägen kann. Nur mithilfe seiner Vernunft kann sich jemand für ein bestimmtes Ziel entscheiden, und zwar auch dann, wenn dieses Ziel für den Willen prinzipiell erstrebenswert ist (I-II 17, 1), wie es von den Zielen des Naturgesetzes gilt (vgl. Grisez 1965, 191f.). Jeder einzelne Mensch kann daher verschiedene Ziele in Beziehung zueinander setzen, sie auf eine persönliche Weise bewerten und für sich bestimmte Ziele auswählen. Dabei kann er auch auf die Erfüllung bestimmter Ziele ganz verzichten (s. die theoretische Rechtfertigung in I-II, 10, 1, ad 1–3). Der letztere Punkt wird von Thomas an dem Beispiel verdeutlicht, dass Menschen häufig freiwillig darauf verzichten, sich selbst fortzupflanzen, um sich Zielen zu widmen, die ihrer Meinung nach höherrangig sind – zum Besispiel dann, wenn jemand, wie Thomas selbst, ins Kloster geht. Thomas differenziert konsequenterweise zwischen naturgesetzlichen Anweisungen, die jeder einzelne Mensch realisieren muss – etwa das eigene Überleben – und solchen, die die Menschheit als ganze, nicht aber jeder Einzelne realisieren muss – etwa körperliche Arbeit (II-II 187, 3 ad 1) oder auch die Fortpflanzung. Die Möglichkeit, dass jemand sich gegen ein solches Lebensziel entscheidet, bedeutet aber nicht, dass dieses Ziel für ihn nicht natürlich wäre – auch für den Mönch ist die Fortpflanzung ein natürliches Ziel, und der Verzicht auf sie ist durchaus eine Einschränkung, selbst wenn er selbst gewählt ist. Zu beachten ist auch, dass das Naturgesetz als Habitus der praktischen Vernunft in weit |28|geringerem Maße von Natur aus vorgegeben ist als die theoretischen Prinzipien, die sich automatisch aus der Erkenntnis ihrer Termini ergeben. Von einem Habitus des Strebevermögens, wie es der menschliche Wille ist, gibt es nur „bestimmte Prinzipien, so wie man sagt, dass die Prinzipien des allgemeinen Rechts samenhafte Anlagen zu Tugenden darstellen“ (I-II, 51, 1). Demnach muss ein praktischer Habitus als ganzer erst erworben werden, so dass die Ziele einer jeden Person sich gemeinsam mit den menschlichen Strebenszielen im Allgemeinen und innerhalb von deren Rahmen nach und nach herauskristallisieren (vgl. Schröer 1995, 46–54), wenn sich der Mensch auf der Grundlage rationaler Überlegungen zu einer Person mit einem festen Willen entwickelt (vgl. Frankfurt 2004). Auch von diesem Gesichtspunkt her muss man Thomas’ Naturgesetzlehre als eine Rahmentheorie für individuelle Lebensentwürfe verstehen, in denen das Naturgesetz auf historisch und sozial vermittelte Weise wirksam wird.

Vor dem Hintergrund dieser Mannigfaltigkeit begründbarer Lebensentwürfe muss man Thomas zufolge bei der Angabe der Ziele des Willens die Vielfalt der menschlichen Vermögen und Bedürfnisse im Blick behalten. „Deswegen will der Mensch auf natürliche Weise nicht nur das Objekt des Willens, sondern auch anderes, das anderen Vermögen entspricht“ (I-II, 10, 1 c.a. Vgl. I-II, 94, 2 ad 2). Aus diesem Grund sind für Thomas alle genannten Güter – Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Gemeinschaft – natürliche Ziele des Willens. Das ergibt sich auch aus der engen Bindung, die den Willen in Thomas’ Konzeption an die praktische Vernunft koppelt: Insofern der Wille ein rationales Strebevermögen ist, ist er darauf angewiesen, dass ihm alle seine möglichen Ziele von der Vernunft vorgegeben werden. Das betrifft in besonderem Maße die natürlichen Ziele des Willens bzw., anders gesagt, „die Vorschriften des Naturgesetzes, von denen die praktische Vernunft auf natürliche Weise erkennt, dass sie praktische Güter sind“ (Sth I-II, 94, 2). Für den Willen spricht man also deswegen sinnvollerweise von einer Vielzahl von Gütern, weil jede menschliche Vernunft sich mit einer Vielzahl derartiger Güter konfrontiert sieht, die sie zu gewichten hat.

Diese Annahme ist für Thomas von weitreichender Bedeutung und bestimmt seine Handlungstheorie wesentlich mit: Nur im Ausnahmefall kann die Vernunft den Willen vollständig bestimmen, denn stets gibt es weitere partikuläre Gesichtspunkte, die das individuelle Urteil nicht berücksichtigt hat; was ein Mensch tut, entscheidet sich daher letztlich dadurch, wie sein durch seine Interessen geprägter Wille seine Überlegungen beeinflusst, und wie er andererseits wieder auf die Anweisungen der Klugheit reagiert (ausführlich in Perkams 2013). Trotz der engen Verflechtung von willentlichem und emotionalem Streben mit den deliberativen Überlegungen praktischer Rationalität, hebt Thomas die Eigengesetzlichkeit beider nicht auf und nimmt eine prinzipielle Revidierbarkeit auch verfestigter habitueller Gewohnheiten an. (Vgl. zu diesem umstrittenen Punkt Kent 2013, 91–109; s. zur Kritik von Zeitgenossen: Heinrich von Gent Quaestiones quodlibetales, 90–115.) Rationale Selbstbestimmung ist demnach sowohl eine Möglichkeit als auch eine Notwendigkeit für jeden einzelnen Menschen, und das |29|rationale ‚Naturgesetz‘ ist die Grundlage, vor der diese Vielfalt selbstbestimmter Lebensentwürfe als sinnvoll verständlich wird, von der her aber auch misslungene Entwürfe kritisierbar bleiben.

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