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Die Bewegung

Ein Handschlag, rasch, rasch etwas übergeben, «vergiss nicht, dass ich die Papiere brauche», oder, «vergiss nicht, mit dem und dem zu sprechen». Jede Minute konnte entscheidend sein für das Schicksal eines Menschen, und das Leben Tausender Menschen hing davon ab, was hinter unseren Türen geschah.

Ich musste unerschütterlich und entschlossen sein. Ich durfte nicht zögern und nicht wanken. Es war auch sehr wichtig, mit den Deutschen zu sprechen. Es war entscheidend, mit den Deutschen sprechen zu können, wenn sie die Identität prüften oder nach irgendwelchen Verbindungen fragten. Ich war derjenige, der zu ihnen ging, weil mein Deutsch gut war, und ich hatte Erfahrung im Umgang mit ihnen.

Man musste Selbstschutz entwickeln. Wenn man in den Augen der Deutschen einigermassen arisch und deutsch aussah, gut gekleidet war, konnte man sich einigermassen in Sicherheit wiegen. Ich hatte viele jüdische Freunde unter meinen Schulkameraden, Universitätskommilitonen, in der Familie und bei nahen Verwandten. Ich habe ihnen beigebracht, wie man auf der Strasse gehen musste, wenn einer von der Gestapo oder ein Pfeilkreuzler im Anmarsch war. Dieselbe Methode funktionierte auch 1945, als die Russen kamen. Wie vermeidet man, dass man verhaftet wird? Was sagt man, wenn man verhaftet wird? Die Juden hatten dieses Know-how nicht. Es fehlte ihnen die Angst; sie waren gute, zuverlässige Bürger Ungarns gewesen. Halb Budapest war mit Juden verheiratet. Ich meine, irgendwann hat es in Budapest eine Viertelmillion Juden gegeben, wissen Sie. Die Leute hatten deutsche oder jüdische Namen. Wenn man vor hundert Jahren ins Budapester Telefonbuch schaute, standen da lauter deutsche oder jüdische Namen. Und so hatten die Budapester Juden keine Verteidigungsstrategien entwickelt, aber genau das war damals nötig, um Mauthausen oder Bergen-Belsen zu entkommen.

So sagte ich beispielsweise den Wächtern des Glashauses: «Lasst die Leute nicht mit dem gelben Stern rausgehen. Sie müssen sie an ihren Kleidern haben; wenn sie kontrolliert werden, ist es Vorschrift. Wenn sie hinausgehen, sollen sie einen Regenmantel oder etwas drüberziehen. Wenn sie hinausmüssen, will ich nicht, dass die Leute sehen, dass dort ein Nest mit Hunderten von Juden ist.» Es gibt Mittel und Wege, wie ein Freund auszusehen, nicht wie ein Feind. Und keine Angst zu haben. Und Augenkontakt zu vermeiden. Anders ging es nicht. Es gab keine Wahl. Ich fragte mich nie: «Was soll ich tun?» Es kam automatisch und es war das Richtige. Einmal hatte ich einer Leiche einen Orden abgenommen und steckte ihn an, als ich mit den Deutschen sprechen musste, einen Kriegsorden. Und ich kam mit einem «Heil Hitler!» an. Man musste die Rolle spielen. Wenn man zu einem deutschen Kommando ging und nach Lebensmitteln, Treibstoff oder einem Wagen verlangte, musste man glaubwürdig sein. «Ich bin einer von euch, ich bin euer ungarischer Verbündeter.»

Man musste gewieft sein, aber man brauchte auch Freunde, die einem halfen; ich bekam Hilfe von ein paar wunderbaren Freunden, grossartigen, mutigen Menschen. Die meisten Offiziere des militärischen Widerstands endeten im Gefängnis oder wurden zum Tod verurteilt, nur zwei oder drei überlebten. Einer, Hauptmann József Kővágó, wurde später Bürgermeister von Budapest. George Rakovszky, der mir mit den illegalen Dokumenten half, nahm wieder seine frühere wichtige Stellung als Diplomat ein. Iván Boldizsár überlebte mehrere Gefängnisse und wurde in Budapest ein bekannter Schriftsteller.

Viele junge Diplomaten und andere, die sich unserem Widerstandskreis angeschlossen hatten, überlebten durch ihre Gewieftheit und weil sie verdeckt agierten. Diese Menschen wollten andere retten, und so setzten sie sich mit Raoul Wallenberg oder Carl Lutz in Verbindung; sie spürten, dass unsere Freunde in Gefahr waren, unsere Lebensweise war in Gefahr, jeder war in Gefahr. Man musste etwas tun. Es ist entsetzlich, was die Deutschen unserem Volk antaten.

«Wir befanden uns in einem Theater»

Es herrschte eine solch spezielle Atmosphäre, ein solches Chaos, dass man sich wie in einem Theaterstück vorkam, in dem man eine Rolle zu spielen hatte. In einem Stück, das irgendwann zu Ende wäre. Und dann würdest du deine Uniform ablegen können, deinen Namen zurückbekommen, deine Persönlichkeit, und wieder du selbst sein. Bis dahin spielte ich mit. Wie viele andere.

Aber viele taten auch gar nichts. Sehen Sie, es gab drei Sorten von Menschen in der Bevölkerung. Die erste: sich den Pfeilkreuzler-Faschisten anschliessen, ungarischer Soldat werden und mit den Deutschen zusammenarbeiten. Die zweite: nichts tun und sich verstecken. Die dritte: sich dem Widerstand anschliessen.

Auch Carl Lutz spielte mit. Er hatte etwas Hypnotisches. Wir lebten alle in einem Vakuum, Zeit zählte nicht. Die Tage zählten nicht. Man wusste nicht, wo man war, was man tat. Man liess sich einfach von der Bewegung mitreissen, wie unter einem Opiat, wissen Sie. Und ich glaube, Lutz war ebenfalls in Trance, in Trance, zu helfen: immer arbeiten, nicht aufhören, weitermachen, von einem Büro zum nächsten, von einer Person zur nächsten, umgeben von verzweifelten jüdischen Menschen wie Krausz und anderen. Sie drängten ihn täglich, noch mehr zu tun: noch ein Schutzhaus eröffnen, die rumänischen Juden retten, dann die slowakischen. Der Druck war enorm. Gefahr gehörte zum Leben – vielleicht kommen sie mich heute Nacht holen, vielleicht werden sie mich an der nächsten Ecke erschiessen. Man war entweder ständig voller Angst und zitterte oder man hypnotisierte sich selbst, damit es zu einem vorübergehenden Zustand wurde; du musstest weiter zum nächsten Akt und es würde höchstens noch eine Woche oder einen Monat dauern. Der mentale Prozess der Angst war nicht so, dass ich sagen könnte, ich hatte am Mittwoch Angst und nicht am Donnerstag. Es war eine ständige Unsicherheit, versteckt hinter einer mentalen Haltung, die wir selbst zu unserem Schutz entwickelt hatten.

Carl Lutz war genauso in Trance wie wir alle. Es war eine chaotische Zeit, in der Übertretungen, Entscheidungen, Handlungen nicht wie üblich bewertet werden konnten, wie in der Vergangenheit, als man sich hinsetzen und sich fragen konnte: «Na, was mache ich denn nächste Woche? Wie soll ich diese Rechnung bezahlen? Wie werde ich meine Kinder unterstützen, sie erziehen?» Es war alles abstrakt. Es war alles wie in einer unwirklichen Wolke, wir arbeiteten mit einer Einstellung, die wir zu normalen Zeiten nicht für möglich gehalten hätten.

Wer nach dem 19. März 1944 in Aktion trat, wusste, dass der Krieg vorbei war. Was folgte, war eine Übergangszeit, die nur noch wenige Monate dauern konnte. Die Nazis hatten den Krieg verloren. Jeder, der eine Zeitung las oder BBC hörte – unsere Informationsquelle – wusste, dass es vorbei war. Es war nach Stalingrad; es war nach der Invasion in Frankreich; es war nach Italien; es war nach Mussolini. Jeder wusste, dass es vorbei war; die Russen waren bereits über die Karpaten und rückten nach Budapest vor. Ein neues Kapitel begann. Wir hörten die Geschütze östlich des Stadtzentrums, und wenn Bomben explodierten, wussten wir, dass die Russen anrückten. Wir hörten BBC; wir wussten, dass sie die Aussenbezirke unseres Wohnviertels besetzten. Wir zogen die Uniformen aus, verbrannten sie, und holten unsere in russischer Sprache gedruckten Schutzbriefe aus der Schublade.

Wir waren so gut vorbereitet, dass wir Dokumente hatten, auf denen stand, dass wir in der Widerstandsbewegung waren, um Ungarn zu retten – in Russisch, russische Dokumente – und dass wir auf der Seite der sowjetischen Besatzungsarmee standen. Dass wir die einmarschierende sowjetische Armee unterstützen würden. Als die Russen in dieser Nacht kamen, zogen wir Zivilkleidung an und steckten unsere russischen Dokumente in die Tasche. Aber wir konnten sie nicht davon abhalten, die Bediensteten, die sich im Haus befanden, in unserem provisorischen Hauptquartier, zu vergewaltigen, die schönen ungarischen Frauen. Wir konnten sie nicht retten und auch nicht die Autos und ihre Fahrer im Hof; sie verprügelten die Chauffeure, setzten den Motor in Gang, stiegen ein, fuhren weg, kamen zurück, nahmen eine Frau, nahmen ein anderes Auto, verprügelten den Chauffeur, nahmen unsere Uhren – das war die «Befreiung».

Die sowjetische Armee war eine unaufhaltsame Welle menschlicher Gewalt ohne jedes Gewissen. Sie kamen nach Budapest und befanden sich plötzlich in einer grossen Stadt, wo es Essen gab. Dort gab es zivilisierte Menschen, einst gab es zivilisiertes Leben– russische Soldaten vom Land hatten so etwas noch nie gesehen, wissen Sie. Aber inzwischen war die ganze Stadt ein einziges Chaos. Die Bomben fielen, die Brücken stürzten ein und die halbe Stadt stand in Flammen.

Ich wurde kurz darauf von den Sowjets verhaftet. Hauptsächlich wegen des Funkgeräts, das wir von Lutz hatten; er hatte ein Kurzwellenfunkgerät angeschafft, das wir für die Kommunikation benutzten, das Erez-Israel-Büro hatte es von ihm erhalten und an uns weitergegeben; dann haben es die Russen gefunden. Sie wussten nicht, woher es kam oder wozu es gut war. Sie dachten, es sei ein Funkgerät, mit dem die Faschisten mit Deutschland kommunizierten. Das Ding legte mich und meine Leute herein, und sie verhafteten mich. Ich war mehrere Wochen im Gefängnis, zusammen mit meinem Gefährten, dem Kriegskorrespondenten Géza Saly, der für ein Jahrzehnt in einem sibirischen Lager landete.

Irgendwie bekam ich genug Zeugen, genug Geschichten und genug Lügen zusammen, um die Sache der «russischen Gestapo», damals GPO genannt, mit ihren eher primitiven Inquisitionsmethoden glaubhaft zu machen. Ich habe es geschafft rauszukommen. Aber es war nicht das erste Mal, dass mir das passierte. Ich war zweimal von den Russen verhaftet worden, und ich hatte wegen meiner Arbeit für den polnischen Widerstand auch in einem deutschen Gefängnis gesessen. Die Arbeit in Warschau als Kriegskorrespondent der ungarischen Armee unter britischen Agenten stellte ein Abenteuer dar, war aber auch eine gute Übung für die Zeit der Besetzung von Budapest durch die Nazis im Jahr darauf. So durchlief ich, wie viele andere meiner Generation, mehrere Gefängnisse. Auf welcher Seite auch immer, mit Glück gelang es mir zu überleben.


Oberleutnant Pál András Fabry 1944

Wäre Lutz genauso bekannt gewesen wie der schwedische Diplomat Wallenberg, wäre er auf die gleiche Weise verhaftet und verschleppt worden, denn er war ohne jeden Schutz. Wallenberg wurde aus zwei Gründen verschleppt. Erstens, weil er Geld und Gold bei sich hatte. Zweitens, weil er bekannt war und jeder sah, dass er wichtige Verbindungen und einen Namen hatte. Er hatte zu vielen Menschen geholfen, und wahrscheinlich hätte er sich gegen die Sowjetunion und den Kommunismus engagiert, wenn er dortgeblieben wäre. Lutz war aufgrund seines ruhigen Auftretens, weil er hinter den Kulissen agierte, nicht bekannt. Die Russen mussten über die Schutzhäuser Bescheid gewusst haben, aber es war ihnen völlig egal. Lutz überlebte einzig, weil er sich auf der Buda-Seite der Stadt befunden hatte. Bis sie dort waren, hatten die Russen ihre Raubzüge und ihren Terror, ihr Vergewaltigen und Morden auf der Pest-Seite bereits beendet. Sie konnten sich frei bewegen und die Stadt blindlings ausrauben.

Mein Cousin, Dezsö Molnar, und einige seiner Leute wurden von der Sowjetarmee erbarmungslos verschleppt. Ich weiss nicht, wie und wohin sie verschwanden, niemand von der Familie weiss es. Aber sie holten Dezsö am 16. oder 17. Januar aus dem Glashaus. Ich stelle mir vor, dass er einige Tage später während des Marsches im Schnee gestorben ist. Und von den anderen beiden, die geholt wurden, wurde einer erschossen und der andere ist in der Nähe erfroren, sagte mir die Familie. Es wurden vermutlich noch andere verhaftet, aber ich weiss nicht, wie sie verschwunden sind. Für die Russen bedeuteten die Schutzhäuser gar nichts. Das Schweizer Kreuz bedeutete nichts. Lutz bedeutete nichts. Juden zu retten bedeutete nichts. Zur selben Zeit wurde auch Wallenberg verschleppt, und sein Schicksal gibt noch immer Rätsel auf.

Nach 1945

Im letzten Teil des Interviews erinnert sich Paul Fabry an sein Leben in der Nachkriegszeit, an jene, die im Untergrund an seiner Seite gearbeitet haben, und an Carl Lutz.


Wie haben wir all das durchgestanden? Wie haben wir es geschafft? Wie haben wir überlebt? Und warum wurde dieser gute Mann, Arthur Weiss, verhaftet? Und warum wurden jene hundert Menschen nicht verhaftet? Und warum endeten diese tausend Menschen in Bergen-Belsen, ohne zu wissen, wohin es ging? Warum wussten sie nicht, dass der andere Zug nach Auschwitz fuhr? Sie hatten keine Angst, sie glaubten, dass es mit dieser Welt bald zu Ende sei – vielleicht werde ich einfach gehen, irgendwo wird eine Tür offen sein. Aber die Tür war nicht offen, sie führte geradewegs in die Gaskammer; es war zu spät. Da war weder Logik noch Gerechtigkeit oder irgendeine göttliche Antwort oder eine prophetische Stimme, die einen rettete. Meistens war es Glück, oder ein mutiger Akt, oder ein dummes Risiko im richtigen Moment. Wir wurden uns der Gefahr erst richtig bewusst, als sie vorbei war.

Seit 1949 bin ich in Amerika mehrfach angesprochen worden, um über den Holocaust, das Glashaus und die anderen Schutzhäuser zu erzählen. Einmal wurde ich gebeten, am Holocaust-Gedenktag in der grössten Synagoge von New Orleans über den Terror dieser Jahre zu sprechen. Es war eine grosse Menschenmenge da, Leute aus dem ganzen Süden [der USA]. Ich erklärte, wie die Schutzhäuser funktionierten, wie Carl Lutz Tausende und Abertausende von Dokumenten anfertigen liess, wie Tausende und Abertausende von Menschen mit der Identität und Staatsbürgerschaft von Ländern umherliefen, in denen sie nie gewesen sind – und wie das Glashaus um die 2000 oder 3000 Menschen rettete. Am Ende meiner Rede kam eine elegant gekleidete Dame in den Sechzigern oder frühen Siebzigern zu mir und sagte: «Herr Fabry, wissen Sie was, ich war als kleines Mädchen im Glashaus im Budapest. So habe ich mit meiner Familie überlebt. Und ich wusste nie, wem ich dafür danken konnte. Jetzt weiss ich es. Und jetzt weiss ich auch, dass ich vor diesen Offizieren in den eigenartigen Uniformen, die an der Tür standen, keine Angst zu haben brauchte. Ich dachte, sie seien dort, um uns einzusperren, und dass es für uns dort zu Ende sei, weil sie uns nicht rausliessen.» Es war Dr. Judy Roheim, eine hochangesehene Psychiaterin aus Baton Rouge, Louisiana. Und es passierte auch mehrmals bei meinen Besuchen in Budapest. Einmal sprach ich bei einem meiner Besuche in einer Radiosendung. Danach rief jemand im Hotel an und sagte: «Ich wusste nicht, dass Sie noch am Leben sind. Ich war während des Kriegs in der Ukraine Ihr Fahrer.» Ich hatte ihn angestellt, als er in einem jüdischen Arbeitslager war, ich steckte ihn in eine Uniform ohne Rangabzeichen und fuhr mit ihm bis nach Berlin. Kornai András ist heute ein erfolgreicher Geschäftsmann in Kanada. Seine Schwester in Ungarn dankte mir, dass ich ihm das Leben gerettet habe – aber eigentlich wurde er zu einem richtigen Freund und half uns beiden, an der Front zu überleben.

Von denjenigen, die zur «Operation Glashaus» gehörten, starb einer in Lima, Peru. Ein anderer starb in Australien. Ein dritter war in Paris gelandet. Ein Einziger ist in Budapest geblieben, derjenige, der das Rundfunkgerät brachte, das über das Erez-Israel-Büro von Carl Lutz kam. Er war der ruhigste, der verschlossenste von allen; ein wahrer Aristokrat mit einem starken Standesbewusstsein, und er lebte in ständiger Angst. Er änderte zweimal seinen aristokratischen Namen, weil er Angst hatte, sie könnten entdecken, dass sein Grossvater Graf war und seine Grossmutter Baronin und dass sie ein paar Generationen zuvor in der Regierung waren. Sogar seine Kinder trugen andere Namen. Er war der Einzige, der die ganze Zeit pessimistisch war. Er ist dort gestorben, arm und ohne Unterstützung. Ja, da waren auch jene, die das Ende des Kriegs nicht erlebten und sich nicht sagen konnten: «Zum Teufel, das ist vorbei, jetzt muss ich das vergessen und weiterleben.» Es gab welche, die das nicht konnten.

Ich habe einen Doktortitel von der Budapester Rechtsfakultät, habe aber nie als Anwalt praktiziert, ich wurde Diplomat. Nach dem Krieg stand ich in Ungarn im diplomatischen Dienst. Irgendwann war ich der ungarische Geschäftsträger in Ankara, Türkei. 1947, als die Kommunisten die Macht übernahmen, trat ich von meiner Stelle zurück. Schliesslich emigrierte ich in die USA, wo ich mich als liberaler Europäer in amerikanischem Umfeld betrachte. Die jüngeren Mitglieder meiner Familie sind tief im konservativen Leben verwurzelt, sie leben von Texas über New Mexico bis nach Kalifornien verstreut. Sie sind in einer anderen Welt gross geworden, einer sicheren Welt des Wohlstands. Für sie bin ich ein archaisches Überbleibsel der Viktorianischen Ära, zu der Budapest bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte. Die Geschichte von Vizekonsul Lutz in Budapest gehört für sie in die Geschichtsbücher.

Der gute Bürokrat

Ich würde sagen, Carl Lutz ist ein Vorbild menschlicher Güte aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Er war ein grundgütiger Mann. Es gibt grosse politische Helden, es gibt grosse Staatsmänner; doch eine solche humanistische Persönlichkeit, die so vielen Menschen half, bleibt so einzigartig, dass ich nicht glaube, dass es dazu irgendwo auf der Welt ein Pendant gibt.

Es war wirklich ein grosses Glück für uns, in Budapest einen Mann wie Carl Lutz zu haben. Er war im Kern ein guter Bürokrat. Sein Leben entsprach dem Schweizer System, zuverlässig, pünktlich. Bürokratische Regeln bestimmten sein Leben. Und als plötzlich die tragischen Zeiten ausbrachen, tat er genau das Richtige.

Carl Lutz wurde später vorgeworfen, es sei falsch gewesen, was er getan hatte. Er wurde beschuldigt, gut gewesen zu sein, dem Ruf seines Gewissens gefolgt zu sein, im Geist eines freien Schweizer Denkers, die Freiheit von Tausenden Menschen gerettet zu haben. Es muss eine sehr schmerzvolle Erfahrung für ihn gewesen sein.

Ausschnitte aus der gekürzten und leicht überarbeiteten Interview-Abschrift zum Dokumentarfilm «Carl Lutz – Der vergessene Held» (2014) von Daniel von Aarburg. Das Interview wurde am 19. Juni 2012 von Daniel von Aarburg in New Orleans geführt.

Aus dem Englischen von Lis Künzli

Mordechai Fleischer


Mordechai Fleischer, Giv’atajim, Israel 2017

Giv’atajim, Israel

Geboren als Paul György Fleischer am 29. Juni 1926 in Bratislava (Tschechoslowakei; heute Slowakei), gestorben am 7. April 2019 in Petach Tikwa (Israel).

«Am 19. März 1944 gingen wir alle in den Untergrund»

Meine Kindheit habe ich in Bratislava verbracht. Wir waren eine assimilierte Familie. Der Name meines Vaters war Karl – Chaim auf Hebräisch. Meine Mutter hiess Regine, ihr hebräischer Name war Rivka. Mein Vater arbeitete in einer Druckerei, und meine Mutter war Hausfrau. Um 1942 herum, als es schon Einschränkungen gab, begann meine Mutter, für verschiedene Leute Handarbeiten zu machen, um unser Einkommen zu vergrössern und etwas zum Familienunterhalt beizusteuern. Ich hatte eine Schwester, Elisabeth, die drei Jahre älter war als ich.

Mein Vater war Sozialdemokrat und in der Partei aktiv. Er war auch Vorsitzender der Druckarbeitergilde. Wir wohnten in einem Gebäude der Druckarbeiter, das «Haus Gutenberg» hiess, nach Johannes Gutenberg, der die Druckpresse erfunden hatte. Unsere Bewohnerschaft war gemischt; ein grosser Teil waren Juden, aber ca. 50 % waren Gojim. Unsere Beziehungen zu den meisten Hausbewohnern waren sehr herzlich, da der Grossteil den gleichen Beruf hatte, und sonntags machten wir oft zusammen Ausflüge in die Umgebung.

Die erste Schule, die ich besuchte, war die Slowak-Schule. Die meisten Schüler waren keine Juden. Auch im Gymnasium waren wir nur zwei Juden in der ganzen Klasse. Die Volksschule hiess nach einem der slowakischen Helden, Milan Rastislav Štefánik, und das Gymnasium nach dem beliebtesten Präsidenten, Tomáš Garrigue Masaryk, nach dem viele Plätze und Strassen in Israel benannt sind.

Als ich vierzehn war, wurden wir alle, alle jüdischen Schüler, aus der Schule verwiesen. Meine Eltern wollten nicht, dass ich untätig zu Hause sass, und schickten mich zu einem Zimmermann in die Lehre. Ich verbrachte dort ungefähr zwei Jahre. Bratislava war schon unter faschistischer Herrschaft, und unsere Beziehungen mit der nichtjüdischen Bevölkerung begannen darunter zu leiden; zweifellos waren Antisemiten unter unseren – angeblichen – Freunden. Ich schloss mich der zionistischen Jugendbewegung an und wurde Mitglied beim Haschomer Hazair.

Als sich die Verfolgungen und verschiedenen Verbote für Juden verschärften – wie zum Beispiel das Verbot, nach bestimmten Uhrzeiten auf die Strasse zu gehen, und der Zwang, einen gelben Stern zu tragen –, begriffen meine Eltern, dass wir uns in unmittelbarer Gefahr befanden. Mein Vater erhielt staatlichen Schutz als von der Regierung benötigter «lebenswichtiger Arbeiter». Auch meiner Mutter wurde Schutz gewährt. Die Gefahr bestand für meine Schwester und mich. Das war 1942, als die ersten Deportationen anfingen. Sie holten Frauen aus Bratislava im Alter zwischen achtzehn und dreissig ab und brachten sie nach Polen, wo sie spurlos verschwanden. Als ein nichtjüdischer Bekannter von den Razzien hörte, bot er uns seine Hilfe an und versteckte meine Schwester in einem Dorf bei seinen Eltern. Bei einer grossen Versammlung der zionistischen Bewegungen beschloss die Führung, dass jeder, der Ungarisch sprach oder familiäre Beziehungen in Ungarn hatte, von Bratislava nach Ungarn fliehen sollte. Ich hatte Grosseltern und einen Onkel, die in Ungarn wohnten. Ein Freund von mir, der mit der kommunistischen Jugendbewegung verbunden war, kannte die Grenze. Er hatte sie in der Vergangenheit etliche Male überquert und schlug vor, dass ich ihn begleitete und wir zusammen hinübergehen würden. Ich war damals fast fünfzehn. Meine Eltern sahen ein, dass sie keine andere Wahl hatten, als unseren Plan zu akzeptieren. Sie, sowie mein zweiter Onkel, zogen es vor, in Bratislava zu bleiben; sie vertrauten den Slowaken mehr als den Ungarn. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das ein fataler Irrtum war.

Nachdem mein Freund und ich die Grenze nach Ungarn passiert hatten, stiegen wir in einen Autobus mit dem Ziel, nach Budapest zu fahren. Die Absicht dabei war, in die grösste Stadt zu gelangen, da es dort leichter war, sich unter die übrige Bevölkerung zu mischen. Das war in den Provinzstädten und kleineren Städten, in denen sich die meisten Einwohner kannten, schwierig zu bewerkstelligen. Mein Freund und ich hatten kein Glück, und man erwischte uns zusammen im Autobus. Die Gendarmen verhafteten uns und warfen uns ins Gefängnis. Wir waren ungefähr einen Monat dort. Man verhörte uns nicht, sie wussten ja, warum wir geflohen waren. Eines Tages weckten sie uns in der Frühe auf und brachten uns an die ungarisch-slowakische Grenze zurück. Dort verpassten sie uns mörderische Prügel, um uns Angst einzujagen, damit wir es nicht mehr wagen würden, nach Ungarn herüberzukommen. Aber wir waren beide erfahren, umgingen ihre Posten und kehrten zu meinen Eltern in Bratislava zurück – ein ziemlich langer Fussmarsch von etwa dreissig Kilometern.

Wir trafen spät in der Nacht ein, lädiert und mit geschwollenen Gesichtern. Nun hatten wir ein weiteres Problem: Wie sollten wir ins Haus, in die Wohnung hineinkommen? Das Gebäude – mehrstöckig mit vielen Bewohnern – war abgesperrt, und es war bekannt, dass der Hauswart ein deutscher Faschist war. Wie also hineinkommen? Über unserer Wohnung, im oberen Stockwerk, wohnte seit Kurzem eine Familie, von der ich wusste, dass sie nicht so extrem war. Ich warf einen Stein an ihr Fenster. Sie kamen ans Fenster und fragten zornig: «Wer wirft hier Steine?» Ich sagte leise: «Ich bin’s, Paulko.» Die Frau, die keine Jüdin war, kam herunter und machte mir die Tür auf, und so kam ich in mein Elternhaus hinein [auf der Rückseite des Gebäudes]. Bis heute habe ich ein Foto, das viele Tage nach diesem Vorfall mit den Schlägen aufgenommen wurde, das uns beide immer noch mit Schwellungen zeigt. Meine Eltern riefen einen jüdischen Arzt, der unsere Verletzungen behandelte, und wir erholten uns wieder.

Einige Monate später überquerte ich die Grenze ein weiteres Mal, diesmal jedoch mit einem professionellen jüdischen Fluchthelfer. Es war zu Anfang des Winters 1942. Ich erinnere mich noch an den Schnee, durch den wir stapften. Nachdem wir die Grenze erfolgreich passiert hatten, verlangten die Ungarn im Zug unsere Papiere zu sehen. Ich hatte keine Papiere. Alle übrigen geflüchteten Juden hatten sich im Zug zerstreut. Nur ich und mein Fluchthelfer wurden gefasst und nach Budapest gebracht. Wieder steckten sie mich ins Gefängnis. Es war ein berüchtigtes Gefängnis, in dem furchtbare Bedingungen herrschten. Als wir im Gefängnis ankamen, brachten sie uns in eine grosse Halle mit vielen Verbrechern, wenige davon Juden. Ein jüdischer Gefangener, ein Invalide mit Krücken, kam zu mir und fing mit mir zu reden an. Er fragte, ob ich einer zionistischen Jugendbewegung angehörte, und ich sagte ihm, dass ich beim Haschomer Hazair war. In dem Moment trennte man uns, doch nicht, ehe er mir seine Visitenkarte gegeben hatte. Er war einer von der zionistischen Führungsriege in Budapest. Sein Name war Dr. Béla Dénes. Da er wusste, dass ich Zimmermannlehrling war, waren seine Abschiedsworte: «Wenn du entlassen wirst, geh zur Möbelfabrik Kürtös. Sag ihnen, dass ich dich geschickt habe, und ich hoffe, sie können dir helfen.»

Ich wurde drei Monate später entlassen und in ein Internierungslager geschickt, in dem sich viele illegale jüdische Flüchtlinge befanden, die aus Polen, Russland und der Slowakei geflohen waren. Dort nahm ich Verbindung mit Mitgliedern der Jugendbewegung Haschomer Hazair auf, und sie fingen an, uns zu besuchen. Etliche Monate danach, als es meinem Onkel gelungen war, mich aus dem Gefängnislager zu befreien, machte ich mich auf den Weg zur Möbelfabrik. Es war ein riesiges Geschäft. Sie nahmen mich, interviewten mich und stellten mich sofort zur Arbeit ein. Der Besitzer von Kürtös war ein Jude namens Kurz. Am Anfang arbeitete ich in der Schreinerei, doch als sie hörten, dass ich auch zeichnen konnte und Erfahrung in der Planung hatte, versetzten sie mich in die Planungsabteilung des Betriebs.

Mein gesellschaftlicher Kreis zu der Zeit bestand aus Kameraden aus den Jugendbewegungen in Budapest sowie illegalen Flüchtlingen aus der Slowakei. Sonntags gingen wir zusammen weg, tauschten Botschaften und Informationen aus, um uns gegenseitig zu helfen. Am 19. März 1944 marschierten die Deutschen in Ungarn ein, und wir gingen alle in den Untergrund.

Da ich auf eine Bürgschaft meines Onkels hin entlassen worden war, musste ich einmal im Monat bei der «Fremdenpolizei» erscheinen. Zu meinem Pech erkannte mich einmal, als ich auf der Strasse auf dem Weg dorthin war, einer der Geheimpolizisten vom vorherigen Internierungslager, und er befahl mir, ihn zu begleiten. Kurze Zeit danach wurde ich auf die Insel Csepel bei Budapest gebracht, wo wir in einem Zwangsarbeitslager bei einem grossen Schmelzofen unter dem Befehl der SS arbeiteten. Die Deutschen übergaben uns den Ungarn, und da gelang es mir, zu fliehen und zu meinen Verwandten [in Budapest] zurückzukehren. Dann kam der Wendepunkt. Die Faschisten gingen von Haus zu Haus auf der Jagd nach Juden, und so wurden mein Onkel und ich gefasst und an die russische Front geschickt, um Gräben gegen Panzer auszuheben.

Während des grossen Rückzugs, auf meinem Weg zurück nach Budapest, zwangen sie mich, den Todesmarsch in Richtung Österreich mitzumachen. Alle gefangenen Juden aus Budapest waren dabei. In der Nacht hielten wir bei einer Ziegelfabrik an. Mein Onkel hatte schon davor von jemandem einen Schutzpass der schweizerischen Gesandtschaft beschafft, der zu meinem Alter passte. Sie trennten uns – die ohne Zertifikat, wie mein Onkel, marschierten weiter. Dem Rest wurde gesagt, vor Ort zu warten. Am nächsten Tag, gegen Morgen, versammelten sie uns und verlangten, unsere Dokumente zu sehen. Der Offizier, der an mir vorbeiging, nahm meine Papiere und die einiger anderer an sich und sagte, ohne sie zu kontrollieren, sie seien gefälscht, und zerriss sie in Fetzen. Und wieder wurde uns befohlen, den Marsch mitzumachen. Hier möchte ich näher auf meine Flucht eingehen, denn sie war von Bedeutung. Als wir an eine Strassenkurve kamen, liess man uns eine Pause machen, um unsere Bedürfnisse zu verrichten. Ich ging hinter einen Busch in einem riesigen gepflügten Feld. Überall waren Posten mit Maschinengewehren. Es hatte keinen Sinn zu fliehen, denn die Strasse war voller Trupps von Marschierenden in Begleitung von deutschen und ungarischen Patrouillen. Ich überholte einen Trupp, und als ich an dessen Ende kam, ging ich hinauf in Richtung Strasse. Der ungarische Soldat am Ende des Trupps sah mich und fragte, wohin ich gehe. Ich antwortete: «Nach Budapest.» Er fragte: «Gehörst du nicht hier dazu?» Ich sagte: «Nein.»

Auf der anderen Strassenseite standen ungarische Arbeiter, die auf eine Mitfahrgelegenheit warteten. Öffentlichen Verkehr gab es nicht mehr. Ich bin sicher, der ungarische Soldat wusste, dass ich Jude bin und fliehe; er beschloss, mich mein Glück versuchen zu lassen. Ich ging auf die andere Strassenseite und stellte mich zwischen die Gojim, die ungarischen Arbeiter. Ein deutscher Militärlaster kam vorbei, und alle sprangen auf und ich mit ihnen – in den Rachen des Löwen. Da ich Angst hatte, dass ich wegen meines jüdischen Aussehens auffliegen würde, schaute ich die ganze Zeit gerade vor mich hin, zum Ende des Lastwagens.

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584 стр. 108 иллюстраций
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9783038552154
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