Gefangen im Gezeitenstrom

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Dennoch habe ich dem Pfarrer die Bibel hingeschmissen und gesagt, dass ich mich in keiner Weise einer dieser Volksgruppen weder verpflichtet noch sonst wie angehörig fühle. Nur, dass ich mit dem Pech gesegnet bin, Teil einer sogenannten Familie zu sein, wo Begriffe wie Treue, Gemeinsamkeit, Fürsorge, Geborgenheit, aber auch Kreativität, Begeisterung, Zuneigung, Lust, Liebe, Ekstase nicht nur Fremdworte sind – nein, solche Dinge sind bei uns schlicht inexistent!



In diesem Milieu also, zwischen bürgerlich-religiösem Mief und anrüchigem nachpubertärem Rebellentum, bin ich aufgewachsen. Und diese Verhältnisse widern mich noch heute an. Es ist zum Kotzen. Eines Tages wird diese Atmosphäre in blanken Hass umschlagen, wenn sich nicht bald etwas ändert. Nicht meine Alten mit ihren eigenwilligen, oft bizarren Lebensstilen hasse ich – nein, vielmehr hasse ich dieses verkappte System

Familie

. Für mich ist sie lediglich ein Apparat, dafür vorgesehen, jegliche Gefühle im Keim zu ersticken.



Eigentlich hätte ich unter diesen Bedingungen alle Freiheiten der Welt haben können, jedoch habe ich sie wie Treibholz im Fluss ungenutzt davonziehen lassen. Vermutlich bin ich einfach ein wenig zu scheu und habe es eben nie richtig gelernt, in gewissen Situationen nicht nur selbstsicher, sondern richtig forsch aufzutreten. Eigentlich hätte ich längst abhauen müssen. Aber ich weiß nicht so richtig wie und wohin. Letztlich kenne ich niemanden außerhalb der Stadt.



Erschwerend kommt dazu, dass ich als Kind, aufgrund meiner dürren, schon fast kränklich wirkenden Gestalt, nahezu pausenlos gepiesackt wurde, entweder von den Mitschülern, weil ich in deren Augen einer war, der zu nichts taugt, schon gar nicht zu sportlichen Anlässen, oder dann von den Lehrern, die in mir nur einen schüchternen und dummen Jungen sahen, bei dem sowieso Hopfen und Malz verloren schien.



Mit anderen Worten: Ich war damals auf dem besten Weg, ein völliger Versager, ein Verlierer zu werden, der später einmal zu nichts zu gebrauchen wäre und der Leistungsgesellschaft nur im Weg herumstünde.







4





Ich schlenderte über den großen verkehrsfreien Platz und steuerte den Supermarkt auf der gegenüberliegenden Seite an. Ich hatte mir das zur Gewohnheit gemacht. Schon während meiner Schulzeit: Nach Feierabend mit Kameraden noch schnell beim Mac eine Cola oder einen Smoothie zu genießen oder später, so ab dem achten Schuljahr und erst recht mit Beginn der Berufsausbildung, mit Charly ein Dosenbier aus dem Tankstellenshop zu trinken oder sonst wie in der Stadt herumzubummeln und durch trendige Modeboutiquen zu stöbern. Auf jeden Fall: bloß nicht sofort nach Hause gehen!



Ich hatte zwar selten genügend Taschengeld. Mein Opa hielt es für wichtig, jeden Cent zweimal umzudrehen, und darum hielt er mich stets auf Sparflamme, und meine Mum zelebrierte sowieso die lebenslänglichen Hungerspiele. Sie war lange Zeit Stammkundin des Brockenhauses der Heilsarmee, kochte jeden Teebeutel zweimal aus und gelegentlich gab es schon mal etwas zwischen die Zähne mit Fristverfall. Dann konnte sie gnadenlos etwas auftischen, wo zuvor bereits ein paar graue Sporenfäden Fuß gefasst hatten. Das kam oft dann vor, wenn sie es versäumt hatte, Essensreste rechtzeitig in den Kühlschrank zu stellen. Sie schüttete einfach noch etwas Salz dazu und behauptete ganz cool, was uns nicht umbringt, das stärkt uns! Okay, offenbar hat es mich gestärkt, und Opa hat von all dem eh nichts mitgekriegt. Möglicherweise haben die verschiedenen Arten von Schimmelpilzen seiner Demenz Vorschub geleistet. Anyway.



Aber so ein Shoppingbummel durch die Boutiquen kann enorm vom Alltag ablenken und wirkt extrem inspirierend, auch wenn man gar nichts einkauft. Wenn ich trotzdem einmal etwas haben musste – zum Beispiel ein cooles Paar Freizeittreter – und ich wieder einmal nicht bei Kasse war, genügte ein kurzer Hinweis – meist reichte die Ausrede, dass ich das Geld für ein Geburtstagsgeschenk für einen Klassenkameraden brauche – und schon steckte mir Mum einen roten oder einen grünen Schein zu.



Ich hatte die Schnauze gestrichen voll von all den gut gemeinten Spartipps und Ratschlägen meiner Alten und den Billigklamotten aus dem Second-Hand-Laden beziehungsweise aus dem Textildiscounter unweit der Grenze, in der deutschen Nachbarschaft. Ich hatte es einfach satt, immer im Abseits zu stehen. Ich wollte dazugehören. Und ich versuchte dies, indem ich gelegentlich CDs und DVDs kaufte, die ich dann voller Stolz meinen Mitschülern auslieh, die sich solche Dinge nicht leisten konnten oder wollten, und ich ergänzte meine Garderobe mit poppig-trendigen Klamotten, nicht unbedingt mit siebzigfränkigen

Tommy Hilfiger

-T-Shirts, aber doch solchen Sachen, womit man sich durchaus in der Öffentlichkeit sehen lassen konnte. Jedoch hatten all meine Bemühungen nicht verhindern können, dass ich ein Außenseiter blieb. Wie gesagt, diese schmerzliche und zutiefst verletzende Erfahrung musste ich bereits als Schüler machen, aber das hing möglicherweise auch von anderen Faktoren ab, die ich damals noch nicht vollständig auf die Reihe kriegte.



Dann geschah etwas, das für mich für die folgenden Jahre von besonderer Bedeutung war. Ich war damals gerade vierzehn Jahre alt geworden, als ich unfreiwillig Zeuge einer Schlägerei auf dem Pausenhof meiner Schule wurde. Und das kam so:



Da war dieser kräftige, ungehobelte Bursche, der sich gelegentlich auf unserem Schulhof herumtrieb, obwohl er gar nicht aus unserem Quartier stammte und den darum niemand so richtig kannte. Ich wusste nur, dass er

Häuptling

 genannt wurde. Die meisten von uns bezeichneten ihn jedoch nur als

der Kanake

. Aber niemand wusste, von wo er genau herkam. Niemand wusste Bescheid, weder über die Herkunft seiner Familie, noch über die Art und Weise, wie seine Eltern den Lebensunterhalt bestritten. Eines Tages waren sie einfach einmal da. Mit Sack und Pack, Kind und Kegel. Sie lebten anfänglich zurückgezogen in einer kleinen Sozialwohnung am Stadtrand. Den Jungen steckte man kurzerhand in eine altersgerechte Primarschulklasse. Sprachprobleme? Ach was, bei einem Ausländeranteil von achtzig Prozent genau die richtige explosive Mischung von Döner-Englisch und Pseudo-Schweizerdeutsch mit kanakischem Akzent.



Was soll’s? Er war eben einer dieser Typen, die längst nicht mehr auffallen, wenn sie dem Unterricht fernbleiben. Im Gegenteil: Die Klassenlehrer und ihre braven Minderheiten mit dem eingebrannten Schweizerkreuzchen auf der Stirn, die Angepassten, die jeden vorgekauten Schrott dankbar aufnehmen und nachplappern, ohne zuvor den eigenen Verstand eingeschaltet zu haben, die Wendehälse, die ich verächtlich als Windsäcke bezeichne, weil sie nach dem jeweiligen Wind flattern, der gerade weht, die Mit-dem-Strom-Schwimmer, weil es eben bequemer ist, als

gegen

 etwas anzukämpfen, die Abwartenden, die gar nichts tun, und die Berechnenden, die wirklich nicht den kleinsten Finger krümmen, ohne zuvor gründlich ihre Risiken kalkuliert zu haben, die vielleicht gerade deswegen erfolgreich durchs Leben schreiten, weil sie niemals ihr Tun und Lassen auf etwaige Folgen für ihr Umfeld hinterfragen, von den übrigen Klassenkameraden geringschätzig als

die Anderen

 bezeichnet, sind sogar froh darüber. Ein Störfaktor weniger.



Wenn es ums nackte Überleben geht, sind der Satz des Pythagoras und Schillers Gedicht von der Glocke schlechte Hilfen. Diese Erfahrung hat der

Häuptling

 wohl schon in frühester Kindheit mit auf den Weg bekommen.



Einer aus der Parallelklasse soll angeblich mal bei ihm zu Hause gewesen sein und erzählte später: „Wisst ihr, mit Brockenhausramsch bis zur Decke hin zugemüllt, aber in der Stube einen Zwei-Meter-Flat-Screen-TV mit Dolby-Surround-Soundsystem. Bestimmt alles vom Sozialamt finanziert!“ Ich wusste nicht, ob das wirklich so war. Aber eigentlich interessierte es mich überhaupt nicht.



Vor wenigen Monaten erreichte offenbar eine Nachricht die Familie und der Vater musste dringend zurück in die Heimat. Angeblich geschäftlich bedingt, hieß es. Man sah ihn nie wieder. Man hat nie erfahren, was ihm zugestoßen ist. Um welche Art von Geschäften es sich handelte, ebenfalls nicht. War der Mann vielleicht in politische Aktivitäten verstrickt? Unterstützte er mit seinen Geschäften möglicherweise irgendeine Widerstandsbewegung? Lauter Fragen, die vielleicht ewig unbeantwortet bleiben werden, aber die Zeit arbeitete für den jungen Fiesling. Eines Tages nahm er die Gunst der Stunde wahr und im kindlichen Alter von knapp dreizehn Jahren riss er das familiäre Zepter endgültig an sich.



Mit seinen dunklen, kurz geschnittenen Haaren sah er verdammt cool aus und genau so benahm er sich. Er war, so erzählte man sich, irgendwo im Osten geboren und verbrachte seine Kindheit vorwiegend in ländlichen, dünn besiedelten Gebieten. Vermutlich wuchs er zwischen Ochsenkarren und Schafherden auf. Auf jeden Fall schon verdammt nah bei den Dattelklaubern. Nun aber tat er so, als gehörte er bereits zum schweizerischen Landesinventar. Stets hatte er eine unüberhörbar laute Klappe, benahm sich wie ein Macho, begann bereits im zarten Alter von sieben Jahren zu rauchen, betrachtete das Mädchenanbaggern als Fließbandarbeit und drangsalierte bei jeder erdenklichen Gelegenheit seine jüngeren Geschwister, hauptsächlich, um an deren Taschengeld zu gelangen. War damit sein Einstieg in eine Kriminellenlaufbahn vorgezeichnet? Jedenfalls hatte er noch vor dem Eintritt in die Oberstufe damit begonnen, von schwächlichen Mitschülern Schutzgelder zu erpressen.



Der schmächtige und um ein Jahr jüngere Dennis Brandenberger gehörte bald zu seinen Klienten. Dennis zählte nicht gerade zu meinen Busenkumpels und die Intelligenz schien er auch nicht mit der großen Schöpfkelle verabreicht bekommen zu haben. Trotzdem mochte ich ihn eigentlich schon. Mit seiner scheuen wortkargen Art und seiner zierlichen, schon eher zerbrechlich wirkenden Erscheinung war er mir nie unsympathisch. Er pflegte einen gewissen Stil, den ich an ihm besonders schätzte. Stets trug er schwarze Klamotten, vorzugshalber aus der Gothic-Szene, und setzte Akzente mit pinkfarbenen oder mintgrünen Armreifen, Stirnbändern und Schnürsenkeln. Ein Piercing zierte seine Unterlippe auf der linken Seite. Außerdem trug er eine pechschwarze Ponyfrisur mit einer Haarsträhne, die jeweils sein rechtes Auge vollständig zudeckte – mit dem anderen konnte er sehr einfühlsam ins Weltgeschehen schauen.

 



Dennis war eben ein richtiger Emo-Boy. Ich weiß nicht, ob er oft heulte oder sich die Arme ritzte, um sich mit dem selbst zugefügten Schmerz zu bestätigen, dass er noch am Leben war, und ich gehe davon aus, dass die Gerüchte über seine Vorliebe für gleichgesinnte Jungs eher zu den Vorurteilen gehören, die man sich über diese Typen damals so herumerzählte. Indessen weiß ich ganz bestimmt, dass er die Musik von

Bullet for my Valentine

 und Ähnliches mochte, da er das Zeug auf sein Smartphone heruntergeladen hatte.



Er bewegte sich also in einer Szene – man könnte auch sagen, er lebte in einer eigenen, nach dem Vorbild japanischer Mangas erschaffenen künstlichen Welt, die jeder Erwachsene zwingend meidet, aber auch von jedem Jugendlichen, spätestens mit dem Erreichen des zwanzigsten Lebensjahres, wieder verlassen sein sollte.



Eigentlich bewunderte ich Dennis für seinen Mut, den er bewies, mit Leib und Seele zu seinem extravaganten Lebensstil zu stehen. Aber vielleicht wurde gerade dieser Stil zu seinem Verhängnis.



Eines Tages hatte Dennis die Schnauze voll und wollte aus dem „Geschäft“ aussteigen. Schon wegen des täglichen Psychoterrors und weil ihm die finanzielle Belastung über die Ohren wuchs. Dabei kam es zunächst zu einem heftigen Wortwechsel. Ich trat neugierig an den Kreis gaffender Kids heran. Darauf folgte ein Handgemenge und plötzlich eskalierte die Situation. Der Bedrängte stürzte und wurde sogleich vom

Häuptling

 und seinen Kumpanen mit Fußtritten malträtiert.



Was danach geschah, weiß ich nicht mehr so genau. Rückblickend erscheinen mir die nachfolgenden Szenen irgendwie surreal, so als hätte ich anstatt meiner ein Double in den Kampf geschickt. Jedenfalls sah ich mich damals eher als Beobachter, nicht als Beteiligter. Auch geschah alles blitzartig. Ich hatte gar keine Zeit für irgendwelche Gedanken oder Überlegungen, welche Auswirkungen mein Eingreifen für mich haben würde.



Irgendwo in meinem Kopf machte es einfach „klick“. Für eine Sekunde ignorierte ich alles, was um mich herum so abging. Ich drängte mich durch die Gaffer und stürzte mich mit voller Wucht auf den

Häuptling

. Wir fielen beide auf den Asphalt. Ich bemühte mich gar nicht erst, wieder auf die Beine zu kommen, vielmehr kniete ich mit meinem ganzen Körpergewicht auf seiner Brust, meine Hände krallten sich in seinen Hemdkragen. Er blieb für einen Moment völlig überrumpelt auf dem Rücken liegen. Ich schrie ihn an, er und seine Kumpels sollen Dennis gefälligst in Ruhe lassen, und eigentlich wäre ich dermaßen aufgedreht gewesen, dass ich mit meinen bloßen Händen auf sein Gesicht hätte einschlagen können. Vielleicht wäre das auch ganz okay gewesen – oder auch nicht. Schwer zu sagen, im Nachhinein. Jedenfalls habe ich den

Häuptling

 losgelassen und bin aufgestanden, ohne ihn aus den Augen zu lassen.



Da erkannte ich aus den Augenwinkeln heraus, aber dennoch deutlich genug, wie einer der Burschen mit seinen schweren Trekkingschuhen dem Gepeinigten ins Gesicht trat, als hätte er einen Fußball vor sich liegen. Für eine Millisekunde schoss ein Blitz durch meine Birne: Den Typen kenne ich doch von irgendwoher! Jedoch konnte ich seine dreckige Visage noch nirgends zuordnen. Noch klaffte in meinem Hirn eine große Erinnerungslücke.



Ich hörte noch das widerliche Knirschen, als dem am Boden Liegenden das Jochbein zertrümmert wurde. Für einen Augenblick schloss ich die Augen; und als ich sie wieder aufschlug, sah ich überall nur noch Blut, und mittendrin lag regungslos Dennis. Wie durch einen Schleier nahm ich wahr, dass die Gaffer in alle Richtungen davonstieben. Nur ich blieb wie angewurzelt stehen. Vielleicht, weil ich intuitiv wusste, da geschieht etwas, das nicht richtig ist, weil etwas völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Vielleicht, weil ich ahnte, dass Dennis in diesem Moment jemanden brauchte, der ihm zur Seite steht. Jedenfalls war ich vor Entsetzen unfähig, mich zu rühren.



Da trat der

Häuptling

 an mich heran und packte mich in Sekundenbruchteilen an der Kehle und drückte zu. Ich starrte mit in Todesangst weit aufgerissenen Augen in das Gesicht des brutalen Fieslings. Dessen Augen strahlten eine Eiseskälte aus, die aller Menschlichkeit entbehrte. Vor meinen Augen begann es bunt zu flimmern und ich roch den schlechten Atem meines Peinigers, als dieser mir mit ebensolch eiskalten Worten drohte: „Ich, an deiner Stelle, würde mir ganz genau überlegen, was ich den Pausenclowns erzählen möchte! Ein falsches Wort und wir werden dich finden, egal wo du dich verkriechst. Verlass dich drauf!“ Mit Pausenclowns meinte er die Lehrer, die zur Aufsicht während der großen Pausen abkommandiert wurden.



Wie ein Stück Dreck stieß mich der Schurke von sich und rannte weg. Während meine Knie nachgaben und ich zu Boden sank, vernahm ich die aufgeregten und doch irgendwie vertrauten Stimmen einiger Lehrer sowie das Heulen der rasch näher rückenden Ambulanz. Mir gelang es, mich aufzurappeln, dann rannte auch ich weg.



Ich fühlte mich miserabel. Magensäure drang bis zum Kehlkopf vor und ich zwang mich, sie hinunterzuschlucken, um mich nicht übergeben zu müssen, als ich endlich mein Elternhaus erreichte.



Wütend trat ich mit dem rechten Fuß gegen das hölzerne Gartentor, das hinten hart an die Hainbuchenhecke schlug, zurückfederte und dabei fast aus den Angeln gehoben wurde. Ich steckte den Schlüssel ins Türschloss und drehte ihn. Der Hauseingang war immer abgeschlossen, auch wenn der Opa zu Hause herumlag. Ich trat ein und rief mein unpersönlichstes „Hallo!“, das möglich war, in den Flur.



„Guten Abend, Oliver.“ Gertrud, meine Mum, kam aus der Küche. Seit dem Desaster mit Dennis spreche ich meine Mutter nicht mehr mit

Mama

 an. Irgendwo in meinem Kopf machte es abermals „klick“ und ich wusste sofort: Meine Schonzeit war abgelaufen. Nun gehörte auch ich zu den

Älteren

. Zu den

Eingeweihten

. Ich wurde in einer gewissen Weise zu einem Teil von ihnen. Willkommen im Club! Auf einen Schlag schoss es mir ins Bewusstsein, dass mein ganzes bisheriges Leben nur aus Kinderkram bestand. Damit war nun definitiv Schluss. Und es würde ausschließlich an mir liegen, einen für mich akzeptablen Weg zu finden, um meine restlichen Jahre als Teenager nicht nur einigermaßen sinnvoll – egal, was immer man darunter verstehen mag –, sondern auch heil über die Runden zu bringen.



In der linken Hand hielt Mum ein gespültes Trinkglas, in der rechten das Küchentuch zum Trockenreiben.



„Na, wie war dein Tag?“, wollte sie noch anhängen, ließ es aber bleiben, als sie erkannte, dass ich eben nicht gerade gut drauf war. Sie legte Glas und Tuch beiseite und hätte mich wohl in die Arme genommen. Ich jedoch sperrte mich dagegen, da ich sowieso der Meinung war, ich sei zu alt für solche Kinkerlitzchen. Stattdessen fragte sie: „Hattest du Ärger in der Schule? Nun sag doch, war es wieder dieser Ausländerjunge aus dem anderen Schulhaus?“



„Nein! Es ist alles bestens“, versuchte ich mich herauszureden, obwohl es mir gleichzeitig heiß und kalt den Rücken hinunterlief und mein Gesicht vermutlich die Farbe von gewässertem Käse hatte. „Wir hatten einen Mathetest. Ich glaub, ich hab ihn total verbockt“, erklärte ich, was nicht einmal gelogen war.



Mum sah, dass ich ihr die volle Wahrheit verschwieg. Trotzdem verzichtete sie darauf, mich mit weiteren Fragen zu löchern, zuckte lediglich teilnahmslos die Schultern und nahm erneut die Beschäftigung mit den Trinkgläsern auf. Sie wusste, ich würde mich nur noch mehr zurückziehen.



„Wenn dich dieser Kanake bedroht, dann sag es uns. Dann gehen wir zur Polizei und erstatten Meldung. So was lassen wir uns nicht bieten – niemals! Schon gar nicht, so lange wir hier in unserem eigenen Land leben. Wir sind freie Bürger und lassen unsere Zukunft nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Fremden vermiesen!“, meldete sich nun der Opa aus seinem Fernsehsessel. Er hatte eigens, um dieses Statement abzugeben, das Gerät leiser gestellt, was sonst selten genug vorkam.



„Nein, ist es nicht! Ich fühle mich großartig. Und überhaupt,

was

 willst du denen sagen? Dass sie nach einem großen Jungen mit kurzen schwarzen Haaren und schwarzer Lederjacke, der eben

nicht

 aus unserer Schule stammt, fahnden sollen? Dann könnten sie gleich die ganze Bahnhofstraße räumen“, warf ich voller Sarkasmus in die Runde.



„Nein, Oliver! So geht das nicht. Dein Opa hat ganz recht.“ Mum trat aus der Küche. Auf einmal hatte sie sich eine besorgte Mimik aufgesetzt. „Wenn dich jemand angegriffen hat, sollten wir Anzeige erstatten, allenfalls gegen Unbekannt – schon wegen der Versicherung.“



„Ach, ihr könnt mich mal! Ihr glaubt immer noch, jeden Bullshit mit einer Versicherung abdecken zu können. Wenn es eine Versicherung gegen Ungerechtigkeit gäbe, wäre die Prämie unbezahlbar!“



Ich war außer mir. Mein Puls raste. Einerseits schwang mein Tourenmesser über die Höchstmarke hinaus, andererseits war ich auch von meinen Alten enttäuscht. Ich ahnte, von ihnen konnte ich diesbezüglich keine nennenswerte Hilfe erwarten. Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, begab ich mich die Treppe nach oben und verschwand in mein Zimmer. Ich warf meinen Schulsack in die eine Ecke und die Sweatshirtjacke in die andere, dann ließ ich mich, laut ausatmend, rücklings aufs Bett fallen. Ich schloss die Augen zum Relaxen, aber nun kam der ganze Bockmist wieder hoch. Der arme Dennis mit seiner zertrümmerten Nase, und überall das viele Blut. Ich würde schweigen müssen, wenn sie kamen, mich als Zeugen zu befragen. Der schlechte Atem des Schurken drang in mein Bewusstsein und Übelkeit stieg in mir hoch. Seine Drohung ließ mir keine andere Wahl: Entweder ich ließ die Sache auf sich beruhen oder ich sagte gegen den

Häuptling

 aus. Aber dann hätte ich keine ruhige Minute mehr in meinem Leben gehabt. Die Gang hatte genügend Mitglieder, die sich sehr gerne um Verräter gekümmert hätten.



Mein Magen begann sich erneut zu verkrampfen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und schon gar nicht, wem ich mich anvertrauen konnte. Am liebsten hätte ich den ganzen Bullshit mit Dennis ignoriert. Einfach ausgeblendet und vergessen. Jedoch ahnte ich, dass das Erlebte sich bereits zu tief in meine Psyche hineingefressen hatte.



Es gibt solche Situationen im Leben von der Dauer eines Augenblickes. Aber wie lange dauert ein Augenblick? Eine Sekunde? Sekundenbruchteile? Vielleicht eine Hundertstel- oder nur eine Millisekunde? Jedenfalls genügend lang, um eine Synapse zwischen Neuronen herzustellen. Eine Datenleitung im Gehirn für den Austausch von Informationen. Und schlagartig wird einem klar, dass es kein

Zurück

 gibt. Nicht die geringste Chance, um etwas Geschehenes ungeschehen zu machen. Um eine negative Sache zu einem positiven Abschluss zu bringen, gibt es nur einen Weg.



Ich fühlte mich wie ein riesengroßes Arschloch. Ich hätte Dennis helfen müssen. Irgendwie. Ihm wenigstens beistehen, ihn trösten müssen. Stattdessen hätte ich ebenso gut weggucken können. Ich fühlte mich elend und beschissen. Ich hatte versagt. Ich stand auf, steckte mir eine Chesterfield zwischen die Lippen und zündete sie an. Dann nahm ich den Kopfhörer meines bescheidenen Soundsystems, legte eine

Slash

-CD ins Fach, drückte auf „Play“ und ließ mich erneut aufs Bett sinken. Ich war einfach nur noch müde.





Spit in the face of the ugly clown







Who’ll hunt you down







But you can’t hide







Exterminate the future





Tief zog ich den Rauch in die Lunge und blies ihn langsam durch die Nase wieder aus, während satte Beats durch meine Gehörgänge dröhnten.





Kill the ghost







That hides in your soul





Ich nahm mir vor, Dennis wenigstens mal im Krankenhaus zu besuchen.



Die Polizei tauchte erwartungsgemäß am folgenden Morgen in der Schule auf, in Form zweier smarter, zivil gekleideter Herren. Jüngere Typen, die genauso aussahen, als wenn sie soeben eine Folge von „Alarm für Cobra 11“ fertig abgedreht hätten. Lederjacken und Spitzbärtchen. Die Mädchen in der Klasse kicherten hinter vorgehaltenen Händen, gaben sich jedoch wenigstens pro forma beeindruckt.

 



„Die sehen so aus, als wären sie selbst kaum der Schulbank entsprungen“, raunte Charly mir zu.



„Ja, du hast recht. Ich frage mich, ob sie überhaupt eine Ahnung davon haben, was so alles an unseren Schulen abgeht.“



„Wie ihr sicher bereits wisst, wurde gestern Nachmittag einer eurer Schulkameraden, Dennis Brandenberger, auf brutalste Weise misshandelt und verprügelt. Und zwar genau hier, auf eurem Schulhof. Seither liegt Dennis mit Rippen- und Schädelfrakturen auf der Intensivstation des Kantonsspitals“, begann der eine Beamte das Gespräch.



„Und wir wissen, dass es zu diesem äußerst bedauerlichen Vorfall Zeugen geben muss“, schaltete sich der andere ein. „Eigentlich hatten wir gehofft, dass sich diese freiwillig bei uns oder bei der Lehrerschaft melden würden. Nun, da dies bisher leider nicht der Fall war, sind wir hierhergekommen, um mit jedem Einzelnen von euch zu sprechen. Mit jedem, der sich zur fraglichen Zeit auf dem Schulhof aufgehalten hat.“



„Während der Befragung läuft der Unterricht weiter wie bisher. Die Herren von der Polizei werden sich einen Schüler oder eine Schülerin aus der Klasse herausbitten und die Befragung im Raum 3b durchführen. Danach wird der oder die Nächste aufgeboten!“, meldete sich nun auch Herr Gantenbein, unser Klassenlehrer, zu Wort.



Die Erste, die mitgehen musste, war Alice Schilling. Ich weiß nicht, ob sie damals im Kreis der Gaffer dabei war. Schon nach wenigen Minuten kam sie wieder zurück. Sie war bleich und ließ den Kopf hängen. Immerhin haben sie ihr denselben nicht gerade abgerissen.



Jedes Mal, wenn die Tür zur Klasse aufging und ein weiterer Schüler aufgerufen wurde, schnellte mein Puls in die Höhe. Es war kaum auszuhalten. An ein konzentriertes Arbeiten war ohnehin nicht zu denken. Unsere Klasse war bis auf ein paar wenige Schüler schon durch. Sie versuchen dich fertigzumachen!, redete ich mir ein. Sie wollen dich zuerst schmoren lassen und anschließend ausquetschen wie einen nassen Schwamm! Tatsächlich bildete ich mir ein, die ganze Klasse würde nur noch mich anstarren. „Alles Quatsch!“, sagte ich leise zu mir selbst. „Sie wissen gar nichts über dich! Bestenfalls wissen sie, dass du dabei warst. Mehr nicht – bestimmt.“



Erneut ging die Tür auf und Luis Oliveira, ein kleiner, sanftmütiger Portugiesenjunge mit großen, dunklen Augen, trat herein. Er gehörte ebenfalls zur Klientel der Gang. Er schaute scheu in die Klasse und wirkte verstört. Kaum hörbar nuschelte er dem Fußboden entgegen: „Oliver, du bist dran!“ Genauso gut hätte er sagen können: „Oliver, du wirst jetzt gerädert!“



Ich weiß nicht, ob mein Herz einen Aussetzer machte oder ob ich für einen Moment die Atmung vergaß. Jedenfalls fühlte ich mich miserabel. Ich versuchte irgendwie cool zu bleiben, gleichwohl mein T-Shirt tropfnass geschwitzt war und meine feuchtheißen Hände wie in Fieberschüben zitterten. Ich zog hinter mir die Klassentür zu und kurz wie ein Wimpernschlag überlegte ich mir, noch im Treppenhaus abzuhauen. Ich entschied mich, es bleiben zu lassen, da im Grunde gar keine Notwendigkeit für eine Flucht vorlag. Im Gegenteil, es lag an mir – und nur an mir –, Mut und Stärke zu zeigen.



Sie hatten das leerstehende Klassenzimmer der 3b im ersten Stock als, sagen wir mal,

Verhörraum

 hergerichtet. Ich betrat es, nachdem ich mir mit meinem feuchten T-Shirt etwas von der kühleren Luft im Flur zugefächert und meine schweißigen Hände an der Hose abgewischt hatte.



„Hallo, Oliver, komm, setz dich!“ Der etwas ältere der beiden Polizisten machte auf

Guter Kumpel

. Meinetwegen, das war mir ganz recht so. Zunächst war ich einfach einmal froh, keinem die Hand schütteln zu müssen.



„Wie geht es dir?“, wollte der andere wissen.



Was für eine Frage! Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Was sollte ich den beiden erklären, wie ich mich augenblicklich fühlte? „Es geht!“, sagte ich knapp und mit einem Schulterzucken.



„Schön!“, sagte der Ältere.



„Wie würdest du dein Verhältnis zu Dennis Brandenberger beschreiben? Ich meine, warst du sehr eng mit ihm befreundet?“



Einen Moment lang war ich fassungslos. „Was heißt denn hier ‚Verhältnis‘? Ich hatte nie ein Verhältnis mit einem Jungen! Weder mit Dennis noch mit einem anderen. Dennis war für mich stets ein gut

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