Gefangen im Gezeitenstrom

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Eines Tages, als ich wieder einmal in der Werkstatt saß und Albert stumm Gesellschaft leistete, durchfuhr es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel und er erkannte die Geistesverwandtschaft, die ihn und mich auf eine eigenartige Weise wie eine unsichtbare Kordel verband. Erneut durchzuckte ihn die Erkenntnis, wie sehr ich ihn an seine eigene Kindheit erinnerte. Wurde er als Kleinwüchsiger nicht ebenso von seinen Klassenkameraden gepiesackt? Als Einzelkind eines alkoholkranken Zeughausangestellten und einer durchgeknallten Psychiatriepflegerin ist er in eher zweifelhaften Verhältnissen aufgewachsen. Bereits mit zwölf Jahren erstmals ausgebüxt, mit fünfzehn definitiv abgehauen, um drei Monate später ausgehungert und schlotternd vor Kälte zurückzukehren – aber nicht heim zu seinen Alten, sondern ohne Umschweife und ganz freiwillig meldete er sich in der kantonalen Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche und bat dort um Aufnahme. Diese wurde ihm letztlich auch gewährt und er blieb dort, bis er seine Volljährigkeit erreicht hatte. Wen wundert’s, hatte er denselben schweren Stand und musste sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchboxen beziehungsweise, unter Anwendung mancherlei Tricks, seinen Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Jedoch erst seine späte Abnabelung, beziehungsweise sein Ausbrechen aus dem Milieu, brachte ihm die so sehr erhoffte Anerkennung und verhalf ihm zu mehr Selbstvertrauen. Das geschah, als er den endgültigen Beschluss fasste, nach dem Abschluss einer Grundausbildung zum Landmaschinenmechaniker als Tramper die Welt auf eigene Faust, ohne finanziellen Rückhalt zu erkunden. Seine beeindruckenden Reiseerlebnisse hat Albert in zahlreichen Tagebuchnotizen festgehalten. Die außergewöhnlichsten Abenteuer beabsichtige er in Buchform zu veröffentlichen, hatte er mir versichert. Noch arbeite er daran.

Diese Story und vieles mehr über sich und sein Leben hat Albert mir später nach und nach erzählt. So begann eine zarte Freundschaft heranzuwachsen.

„Ich geh an den Fluss, noch ne Runde schwimmen. Willst du mitkommen? Du kannst die Enten füttern, wenn du möchtest. Ich habe etwas altes Brot dabei“, sagte Albert, der mir einfach einmal etwas Neues zeigen wollte.

„Au ja! Das wäre schön“, entgegnete ich und sprang auf.

„Also los, du kannst auf dem Sozius meiner Maschine Platz nehmen. Ich kenne da ein Strandbad, dort gibt es die besten Bratwürste weit und breit.“

Schon seit geraumer Zeit betrachtete Albert meine magere Gestalt und offenbar bemitleidete er mich deswegen.

„Du kannst ja deiner Mutter immer noch sagen, du hättest in der Schule nachsitzen müssen.“ Er fügte diese Floskel, spitzbübisch grinsend, meistens noch an, obwohl meine Alten längst wussten, wo ich mich nach Schulschluss herumtrieb, waren sie doch gelegentlich Kunden bei Albert Zipsin, wenn sie hin und wieder für mich ein Kinderfahrrad brauchten oder dieses einer Reparatur unterzogen werden musste.

Albert, der selbst nie Nachwuchs gezeugt hatte – zumindest nie wissentlich –, setzte sich einen alten schwarzen Militärhelm auf den Kopf und bei mir improvisierte er, indem er mir einen Fahrradhelm verpasste. Dann traten wir vor die Werkstatt, wo Albert auf der Gasse mit dem Kopfsteinpflaster sein Motorrad, eine alte, aber wunderschön gepflegte Kreidler, die immer noch den originalen, dunkel-olivgrünen Militärlack trug, abgestellt hatte. Albert gab mir ein paar Anweisungen, dann fuhren wir die Straße entlang, in gemächlichem Tempo davon. Nach wenigen Minuten verließen wir „Downtown“ und gelangten an den Fluss. Damals war ich noch Nichtschwimmer. Ich hielt mich im Uferbereich auf und warf das auf den Steinen zertrampelte Brot ins Wasser. Albert zog seine Badeshorts an, stürzte sich ins erfrischende Nass und schwamm ein paar Züge. Anschließend gönnten wir uns die verheißene Wurst und ein großes Bier respektive für mich eine Limo.

„Weißt du, man muss die schönen Sommerabende genießen. Man weiß nie, wann das Wetter wieder umschlägt“, sinnierte Albert und ich nickte zustimmend, als gäbe es etwas, das dagegen spräche. Eine belanglose, ja eigentlich völlig überflüssige Bemerkung, denn ich wäre Albert sowieso durch den ärgsten Regenschauer gefolgt.

Diese spontanen Ausflüge in die nähere Umgebung begannen sich zu mehren und meine Alten forderten Albert Zipsin auf, endlich die Fahrten mit dem Motorrad sowie die Mahlzeiten und Getränke in Rechnung zu stellen, anstatt zu hinterfragen, warum ich mich immer mehr von ihnen abwandte und meine Freizeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit diesem altertümlichen Mechaniker verbrachte.

Etwa ab meinem zwölften Lebensjahr nahm mich Albert auch auf ausgedehnte Motorradtouren mit. Zum Beispiel an den Bodensee oder in den nahen Schwarzwald. Doch ein kleiner, eher unscheinbarer Ausflug bleibt für mich stets in bester Erinnerung. Er fand im Hochsommer statt, in jenem Jahr, als ich fünfzehn war.

Ein herrlicher Freitagnachmittag neigte sich dem Ende zu. Nach Schulschluss bummelte ich wie so oft durch die Stadt und blieb letztlich vor Alberts Geschäft hängen. Es dauerte nicht lange, da wurde ich hereingerufen. Albert hatte gerade nicht viel zu tun und schmiss aussortierten Schrott in eine Mulde, die im Hinterhof stand. Es war ihm anzusehen, dass er nicht sehr motiviert bei der Sache war.

„Hast du Lust auf einen Ausflug?“, fragte er mich kurz entschlossen.

„Warum nicht?“, meinte ich und zuckte die Schultern.

„Na, dann mal los. Ich packe nur noch schnell ein paar Sachen zusammen. Du kannst dir schon mal den Helm aufsetzen.“ Albert hatte eigens für mich einen weiteren Helm organisiert – ein olivgrünes Ding, ebenfalls aus alten Militärbeständen, das bereits deutliche Kampfspuren abbekommen hatte.

Er verschwand in seiner Wohnung und kam wenige Minuten später mit einem alten, aber nach wie vor soliden Militärrucksack wieder, in dem er Tourenproviant und ein paar weitere nützliche Dinge verstaut hatte. Tja, damals war Albert ein gern gesehener Stammkunde des Armyshops.

„Wir legen bei dir zu Hause noch kurz einen Zwischenhalt ein. Dann besorgst du dir einen Schlafsack, eine Taschenlampe und wenn du willst, etwas zum Knabbern und zu trinken. Ach … und sag deiner Mutter, dass du über Nacht wegbleibst. Sonst macht sie sich unnötige Sorgen.“

„Nö, ich glaub eher, dass meine Abwesenheit gar niemand bemerken würde“, sagte ich und zuckte ein weiteres Mal die Schulter. Trotzdem hielten wir zu Hause nochmals an. Ich packte eiligst ein paar Sachen zusammen und rief, bereits unter der Tür stehend: „Tschüss, bis morgen!“, in den Flur hinein.

Etwas später brausten wir zur Stadt hinaus, übers Land, wo der Weizen hoch und die Reben an den Südhängen satt und schwer standen. Es war ein wunderschöner Nachmittag Anfang August und eine ebensolche Nacht kündete sich an. Ich erinnere mich noch gut an den klaren Vollmond, der in gemächlichem Bogen über den schwarzen Himmel zog und dabei sein Licht wie geschmolzenes Silber über die Landschaft ergoss.

Kurz vor der Landesgrenze verließ Albert die Landstraße und bog auf einen mit Kalksteinschotter bedeckten Waldweg ein. Beim erstbesten Wanderparkplatz am Fuße eines Hügelzugs stoppte Albert sein Gefährt und wir machten uns zu Fuß auf den Weg, der zu einer Burgruine führt. Nach einer halben Stunde erreichten wir das zerfallene Gemäuer, wo wir sogleich unser bescheidenes Lager einrichteten und an der dafür vorgesehenen Stelle ein Feuer entfachten. Zu meinem Erstaunen hatte Albert ein kleines Igluzelt dabei, das er nun geschickt innerhalb der Mauerreste auf einem Stück ebenen Bodens errichtete, während ich mich um das Feuer kümmerte. Ich schwenkte den kreisrunden Grillrost über die Glut und Albert kramte aus seinem Rucksack zwei marinierte Schweinekoteletts heraus, die er auf den Rost legte. Albert griff nochmals in den Rucksack und entnahm ihm zwei Blechteller, einen Beutel mit Brötchen, Ketchup und zwei Dosenbiere, wovon er eines an mich reichte. „Harte Männer brauchen harte Drinks!“, sagte Albert grinsend und ich grinste zurück. Dann aßen wir schweigend, die Aussicht auf die umliegenden Täler genießend, begleitet vom Knistern des Feuers und den Geräuschen des Waldes. Anschließend, nach beendeter Mahlzeit, warfen wir beide, wie um das Ritual zu vollenden, die abgenagten Knochen über die Schultern in den von Gras überwachsenen Schutt.

Mittlerweile wich das Tageslicht der Abenddämmerung und Albert zauberte aus seinem Rucksack eine altertümliche Kaffeekanne heraus, die er mit Wasser aus einer PET-Flasche füllte, gemahlenen Bohnenkaffee hinzufügte und auf den Rost stellte. Die Szene erinnerte mich verblüffend an den Marlboro-Mann. Aber ich wusste, dies war genau Alberts Absicht. Er wollte mir eine Lektion erteilen, und das gelang ihm mit jedem Handgriff.

Albert wies mich an, nochmals tüchtig Holz aufzulegen, bevor wir vollständig von der Dunkelheit umfangen wurden, und ich machte mich erneut auf, in den umliegenden Wäldern Holz zu suchen. Dafür wollte Albert mich mit einem speziellen Geschenk überraschen. Er klaubte aus der Tasche seiner Lederjacke einen Beutel mit fein geschnittenem Pfeifentabak und ein Päckchen Zigarettenpapier hervor und begann sorgfältig einen Joint zu drehen. Erneut griff er zur Jacke und entnahm einer anderen Tasche einen kleinen Papierbeutel mit etwas Getrocknetem, Krautartigem und fügte es großzügig dem Tabak bei.

Unterdessen hatte ich genügend Holz für die Nacht herbeigeschafft und damit ein schönes großes Feuer entfacht. Es dauerte nicht lange, da kochte der Kaffee in der Kanne und verbreitete einen würzigen Duft. Albert nahm sie vom Feuer und schenkte die schwarze Flüssigkeit in zwei zuvor bereitgestellte Blechtassen ein. Dann griff er zu einer Plastikdose, die Zucker enthielt, schüttete in jede Tasse drei gehäufte Löffel hinein und rührte mit andächtigen Bewegungen. Er reichte mir die eine Tasse, dann tranken wir gemeinsam den bitter-süßen Sud. Es schien nicht nur wie eine – nein, es war eine Zeremonie. Ein Ritual unter Männern. Und ich genoss es, auch wenn ich anfänglich mit jedem kleinen Schluck das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Denn bis anhin ernährte ich mich zu Hause überwiegend von Milchshakes in allen erdenklichen Variationen.

 

Dann erhob sich Albert und erklärte mir mit einer fast feierlichen Miene: „So, nun komm! Wir machen noch eine kleine Klettertour. Ich hab da noch was für den perfekten Abschluss des Tages.“

Albert ging voraus und ich folgte ihm. So erklommen wir die höchste Stelle der Mauerreste des ehemaligen Bergfrieds. Wir setzten uns nebeneinander auf die breite Mauerkrone und ließen unsere Beine ins Leere baumeln. Dann zündete Albert den Joint an, nahm einen tiefen Zug und gab ihn mir weiter. Auch das war eine Premiere für mich. Zuerst musste ich heftig husten, aber dann begann der Stoff zu wirken. Ich fühlte eine wohlige Wärme in mir aufsteigen. Ein unbeschreibliches Gefühl vollkommener Geborgenheit umfing mich. Ich schwebte auf samtweichen Wolken und mit einem Mal begann ich die Dinge klarer zu sehen. Die Farben der Natur und die meiner eigenen Gedanken gewannen an Intensität. Ich erkannte Zusammenhänge, die mir nie zuvor für möglich schienen. Ich blickte in Dimensionen, die für mich bisher völlig unbekannt waren. Mein Bewusstsein veränderte sich und ich nahm wahr, wie nichtig und unbedeutend das alles war, von dem ich bisher Kenntnis hatte. Ich fühlte, wie alles eigentlich sehr einfach war, das Leben, die Schöpfung, ja der ganze unendliche Kosmos.

Ich ließ mich auf den Rücken sinken und lauschte einfach den Geräuschen des Abends, dem allmählich verklingenden Gesang der Vögel, dem gelegentlichen Vorbeifahren eines Autos, tief unten im Tal. So saßen wir noch eine Weile beisammen und bewunderten das grandiose Farbenspiel der untergehenden Sonne. Dann verließen wir unseren Aussichtsposten, kletterten vorsichtig die Mauerreste hinab und begaben uns ins Zelt, wo wir in unsere Schlafsäcke gehüllt den Rest der Nacht verbrachten.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als wir unser Lager räumten und die Burgruine verließen. Im nahen Ausflugsrestaurant gönnten wir uns ein währschaftes Frühstück. Anschließend begaben wir uns zum Wanderparkplatz zurück, wo immer noch die gute alte Kreidler auf uns wartete.

7

Alle diese Gedanken schießen durch meinen Kopf, als ich an der Werkstätte vorbeigehe, kurz die Tür öffne und laut „Hallo, Albert, wie geht’s?“ hineinrufe.

„Prima, und dir?“, kommt die Antwort postwendend aus den hinteren Räumen.

„Danke, kann nicht klagen“, sage ich.

„Komm doch rein!“

„Nein … danke, jetzt nicht. Bin mit Charly verabredet.“

„Also dann, mach’s gut“, sagt er.

„Du auch, tschüss!“ Ich schließe die Tür zur Werkstatt und steige die Betontreppe zum Fitnesscenter hoch. Im Treppenhaus befindet sich ein geräumiger Warenlift. Um Unterhaltskosten zu sparen, brachte man jedoch an den Zugängen kurzerhand Hinweisschilder an mit der Warnung, dass die Benützung auf eigenes Risiko erfolge und die Immobilienfirma als Vermieterin der Liegenschaft jede Verantwortung ablehne. Völliger Blödsinn!

Bereits im Vorraum riecht es penetrant nach Sportgel. Ich öffne die massive Blechtür mit der Aufschrift Ruedis Power und trete ein.

Gedämpfter SRF3-Sound dringt aus kleinen Lautsprecherboxen und mischt sich mit dem sirrenden Laut der Fahrräder und Stepper und dem Ächzen der sich abschuftenden Sportfreaks. Das Center versprüht den Charme einer Fabrikhalle, und genau das war es früher auch, das heißt noch vor fünfzig Jahren. Auf dem rohen fleckigen Betonboden sind immer noch die Standorte der ursprünglich vorhandenen Spinnereimaschinen erkennbar und von den Decken baumeln dieselben uralten Leuchtstoffröhren, die ein kaltes Licht verbreiten. Lediglich die Wände sind weiß gestrichen und mit ein paar wenigen Postern in Schwarz-Weiß dekoriert, welche gut trainierte, halbnackte Männer in Bodybuilder-Posen zeigen.

Die installierten Trainings- und Fitnessgeräte weisen bereits deutliche Kampfspuren auf, wie abgewetzte oder rissige Polsterbezüge und abblätternde Verchromung. Nur der Empfangstresen deutet mit dem Computer und dem Lesegerät für die Kreditkarten auf das aktuelle Jahrzehnt. Alles in allem macht der Club keinen sehr fitten Eindruck. Eher wabert der marode Hauch von Schmuddel und Verwahrlosung die Gerätereihen entlang und dies, obwohl ein Schild neben der Eingangstür stolz auf die Zertifizierung durch irgendeinen Verband hinweist. (Vermutlich war mal ein Gremiumsmitglied des Landesverbandes Ostpakistanischer Fitnessstudios bei Ruedi zu Gast.) Allerdings muss man auch die positiven Seiten sehen: Ein Abo kostet bei Ruedi nur wenig mehr als die Hälfte der sonst landesweit verwendeten Tarife.

Mir schlägt eine Dunstwolke aus Perskindol und Schweiß entgegen. Obwohl nur wenige Kunden anwesend sind, scheint die Lüftungsanlage Mühe zu haben, die verbrauchte Luft abzusaugen und durch frische zu ersetzen. Der Tag war grau und eisig kalt und nur schon der Blick aus den geschlossenen, teils beschlagenen Fenstern auf den nahe gelegenen Fluss mit seinem schwarzen Wasser und den nackten Bäumen, die seine Ufer säumen, lässt jeden Menschen, der halbwegs vernünftige, mitteleuropäische Sommertemperaturen bevorzugt, unweigerlich im Kälteschock erstarren. Trotzdem drückt die abgestandene, stickige Luft mich schier in den Boden.

„Puuhh!“, mache ich und öffne eiligst den Reißverschluss meiner Jacke, als ich an den Empfangstresen herantrete.

„Hi, Olli!“, klingt es von hinten.

„Hallo, Charly, was liegt an?“

„Eben, nichts Besonderes“, sagt Charly, erhebt sich von seinem Secondhand-Bürostuhl und erklärt mir schulterzuckend, schon fast entschuldigend: „Wie du siehst, muss ich den Laden hüten. Es kam ein Anruf und mein Alter musste dringend weg. Weiß der Teufel wohin! Er meinte nur noch, dass es spät werden könnte.“

Charly seufzt resigniert. Einerseits hasst er diesen Job in dieser abgewrackten Muckibude. Andererseits hat er ein Problem: Er ist ein veritabler ADHS-Typ. Das heißt, er ist hyperaktiv, kribbelig, gelegentlich – dann aber extrem – nervig und oft unaufmerksam. Darum hat er manchmal Mühe, etwas rechtzeitig auf die Reihe zu kriegen, da er oftmals mit seinen Gedanken woanders ist. Dann kann er – auch wegen Kleinigkeiten – aggressiv werden und völlig ausrasten. Dabei verliert er die Kontrolle über sich selbst und brüskiert oder beleidigt zum Beispiel unbewusst die Leute um ihn herum.

Vor nicht allzu langer Zeit bin ich einmal zufällig Zeuge einer solchen Konfrontation geworden. Offenbar sind sich Charly und ein Kunde aus nichtigem Anlass in die Haare geraten. Das Problem hätte sich gewiss auch auf vernünftige Art lösen lassen. Aber Charly wurde immer lauter und zum Schluss hat der Kunde sein Abo hingeschmissen, obwohl es noch über einen Monat gültig gewesen wäre, und verließ ziemlich aufgebracht den Laden. Nicht ohne zuvor Charly an den Kopf geworfen zu haben, dass es in der Region zwar teurere, aber auch weit seriösere Fitnessclubs gebe, die den Mehrpreis auch völlig rechtfertigten.

Nein, Charly ist mit Sicherheit kein aggressiver Typ. Im Gegenteil, eigentlich ist er sehr sanftmütig und hat sein großes Herz am richtigen Fleck. Das wurde ihm während seiner Kindheit gelegentlich zum Verhängnis, da seine Mitschüler in ihm lediglich einen Schuhabstreifer sahen, der für ihre Späße herhalten musste und den man nach Belieben – wenn auch auf subtile Weise – in den Arsch treten konnte. Dennoch darf Charly froh sein über diesen Job, diese wenn auch nicht sehr attraktive Beschäftigung. Als Verhaltensauffälliger hätte er vermutlich sowieso eher Mühe gehabt, einen Ausbildungsplatz in einem ordentlichen Laden zu bekommen. Das ist jedoch nur meine subjektive Meinung.

Seit der Trennung seiner Eltern und nachdem sein Vater, zu dem er früher ein gutes Verhältnis hatte, doch tatsächlich das Sorgerecht für ihn durchsetzen konnte, waren sie auf jede Einkommensquelle angewiesen. Das heißt, sie mussten froh um jedes verkaufte Abo sein und sie mussten die Öffnungszeiten den Bedürfnissen der Kundschaft anpassen. Und die hätte am liebsten einen Laden mit Rund-um-die-Uhr-Diensten gehabt.

Nein, Charly gefällt das ganz und gar nicht. Ihm schwebt etwas viel Größeres vor: ein modernes Fitnesscenter mit hellen, freundlichen Räumen, sauberen Duschen und Toiletten und den neusten, einwandfreien Geräten. Eventuell sogar kombiniert mit Sauna und Solarium. Auf jeden Fall etwas, wovor auch die scharfen und sportgeilen Weiber nicht schon beim Öffnen der Tür auf den Fersen rechtsumkehrt machen und schreiend davonlaufen.

Aber eben, sein Vater hatte vor etwa vier Jahren, in einem Anflug geschäftlichen Größenwahns, spätpubertärem Zweckoptimismus und infantilem Vertrauen auf Gott, die Welt und alle guten Geister, die ihn noch nicht verlassen hatten, seine Anstellung als Maler und Gipser gekündigt, sämtliche Konten geplündert, sich das ohnehin magere Rentenkapital auszahlen lassen und mit dem Geld die Muckibude eingerichtet.

Das war der entscheidende Moment, als Ruedis Frau, Marianne Bollinger, einen dicken Schlussstrich unter ihre Beziehung zog. Noch am selben Tag, unmittelbar nach der gerichtlichen Auflösung ihrer Ehe, packte sie ihre Kleider und einige persönliche Sachen in zwei, drei Koffer, verstaute diese in ihrem Fiat Punto und brauste im Zorn, aber mit tränenden Augen davon. Der Zorn galt Ruedi, ihrem uneinsichtigen und in vielerlei Hinsicht kindlichen Mann mit seinen Schnapsideen, diesem naiven, nahezu weltfremden Typen, der mit den Jahren zwar sichtlich gealtert war, aber trotzdem nie erwachsen wurde, die Tränen vergoss sie für Charly, ihren wirklichen Jungen, den Heranwachsenden, der jedoch noch etwas zu jung war, zu begreifen, wie die Welt sich wirklich dreht, von dem sie konsterniert zur Kenntnis nehmen musste, dass er soeben in den falschen Kahn aufgesprungen war, der in eine ungewisse Zukunft steuerte, vielleicht sogar ins Verderben.

Charly liebte seinen Vater abgöttisch und bewunderte ihn wegen seiner Kraft und Ausdauer und manchmal auch wegen seiner verrückten Ideen. Gelegentlich träumte Ruedi von einer Ferienhaussiedlung an der Pazifikküste von Costa Rica, die er über einen Kollegen sehr günstig hätte erwerben können. Dann träumte er wieder von einer eigenen Hazienda in den Spanischen Pyrenäen. Aber alle, die Ruedi kannten, wussten, er war nicht zum Geschäftsmann geboren; und er würde nie einer werden. In tausend Jahren nicht!

Und so kam es, dass Ruedi, der in seiner kindlichen Naivität stets gedacht hatte, dass der Inhalt eines Fitnessclubs vorwiegend aus Hanteln bestehe, schon bald nach der Geschäftseröffnung mit der Spielregel Nr. 1 konfrontiert wurde. Und die lautete: Neue Kundschaft nur über neue Geräte. Aber neue Profigeräte waren sündhaft teuer. Da reichte es nicht, ein paar Stepper aus dem Sportdiscount in einer ehemaligen Fabrikhalle aufzustellen. In der Folge wurde nur ein kleiner Teil der ehemals angestrebten Zielkundschaft angesprochen, die nun vorwiegend aus jüngeren und älteren Möchtegern-Bodybuildern bestand. Die so verkauften Abos konnten gerade mal mehr schlecht als recht die Hallenmiete decken. Jedoch reichte es niemals aus, das Geschäft auf einen grünen Zweig und somit in die Gewinnzone zu bringen.

Ruedi Bollinger hatte diese Missstände zwar rechtzeitig erkannt, aber er war nicht in der Lage, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, schon darum, weil er von den Banken keinen Kredit mehr erhielt. Stattdessen ergriff er die letztmögliche Billigvariante und stellte immer öfters, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, seinen eigenen Sohn für die Aufsicht ein. Anfänglich machte Charly willig mit, er hätte seinem Vater doch so gerne geholfen, aber mit zunehmendem Alter dämmerte ihm, dass er nur ausgenutzt wurde. Als er erkannte, dass aus der Muckibude nichts Gescheites mehr herauszuholen war, begann er seinen Dienst zu vernachlässigen, hing lieber gelangweilt am Computer herum, anstatt sich um den Unterhalt der Geräte zu kümmern oder Reinigungsarbeiten zu verrichten.

Gelegentlich kam es vor, dass er den Fitnessclub eine halbe oder eine ganze Stunde vor den am Eingang publizierten Öffnungszeiten schloss, was wiederum zu Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vater führte. Eine weitere Spielregel besagte nämlich, dass die Bude bis zum offiziellen Ladenschluss geöffnet und in den Trainingsräumen die Vollbeleuchtung eingeschaltet bleiben musste, auch wenn gar keine Kundschaft mehr anwesend war.

 

Wie auch immer: Charly beabsichtigte niemals, seine besten Jahre in dieser versifften Bude zu verschwenden, und begann immer öfters seinem Vater mit Abneigung und größtem Widerwillen zu begegnen.

Und Ruedi wiederum verspielte Charlys Zuneigung, ja seine ganze Liebe endgültig an dem Tag, als Marianne ihre Koffer packte und auszog.

„So, ich glaube, die sind wir los!“, hatte Ruedi damals lapidar festgestellt und die Hände symbolisch an seiner beigefarbenen Multifunktionsweste abgewischt, als hätte er soeben etwas Ekelerregendes in den Mülleimer befördert. Dennoch schwangen in seiner Stimme etwas Nachdenkliches und eine unüberhörbar große Portion Unsicherheit mit. Aber es war diese kalte Formulierung, die den kleinen Charly aufhorchen und ihn zusammenzucken ließ. Er fühlte den Stich in seinem Herzen und dicke Tränen rollten über seine Wangen. Und Ruedi hatte keine weitere Gefühlsregung für seinen Sohn übrig, als ihm kumpelhaft auf die Schultern zu klopfen und zu sagen: „Nun sei mal keine Memme und hör auf zu flennen! Benimm dich wie ein Mann und kämpfe! Du wirst sehen: Wir beide werden es schon schaffen.“

Charly wagte nicht zu widersprechen und nickte nur noch wortlos. Aber er wusste, sie hatten bereits verloren und er war der Leidtragende. Mit hängendem Kopf und ebensolchen Schultern schlich er in sein Zimmer, sank auf das Bett und vergrub sein Gesicht tief im Kissen.

„Hey, Kumpel, du siehst aus wie …“ Ich suche nach einem passenden Vergleich.

„Ja, sag schon: wie Scheiße im Rinnstein!“

„Na ja, wenn du meinst: Du siehst aus wie Scheiße im Rinnstein!“, bestätige ich.

Und er: „Danke! Ich fühle mich auch so.“

„Hast du wieder eine schlechte Nacht gehabt?

„Kann man so sagen.“

„Was war es diesmal?“, frage ich.

Und er: „Ich hatte so einen voll krassen Traum. Einen richtig abgefuckten Albtraum eben. Weißt du, ich komme spätnachts nach Hause. Ich gehe das Treppenhaus hoch. Keine Ahnung wieso. Müsste doch der Lift da sein. Aber egal, schon vor der Wohnung ahne ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Auf unserer Etage gibt es auf einmal nur noch eine Tür, eben unsere. Die Eingänge zu den beiden Nachbarwohnungen scheinen zugemauert zu sein. Die Tür steht einen Spalt breit offen. Ich trete leise heran und drücke sie langsam auf. Ich weiß, hier ist soeben etwas Schlimmes passiert. Die Unordnung im Flur nehme ich zuerst wahr. Wie nach einem Kampf. Dann sehe ich die roten Fußspuren auf dem Boden und das Blut an den Wänden. Ich bin natürlich völlig erschrocken. Trotzdem wage ich mich hinein. Leise, mich vorsichtig vortastend. Links sind die offen stehenden Türen zu den beiden Schlafzimmern, rechts geht’s ins Bad. Geradeaus befindet sich das Wohnzimmer. Irgendwie spüre ich, dass jeden Augenblick so ein Killer vor mir auftauchen müsste. Weißt du, so ein durchgeknallter Freddy Krueger oder so. Es gibt immer mehr Blut. So richtig eklig, vom Fußboden bis zur Decke, alles vollgespritzt. Vor dem Wohnzimmer bleibe ich stehen, weil ich nur noch helle Angst habe. Ich weiß, wenn ich weitergehe, entdecke ich einen auf dem Boden liegenden und ausgeweideten Toten, dessen Innereien wie Ostereier hinter den Heizungsradiatoren versteckt sind. Ich will gar nicht wissen, wer der Tote ist. Diesen Anblick will ich mir ersparen, und ich erwache – schweißnass zwar, aber nicht einmal sonderlich geschockt. Das ist doch voll krass, nicht?“

„Voll der Hitchcock, würde ich sagen!“

„Nein, schon eher John Carpenter, denke ich!“ Charly erhebt sich von seinem Bürostuhl. „Aber weißt du, das Krasseste daran ist: der Tote in unserem Wohnzimmer. Ich glaube – nein, ich bin mir fast sicher, auch wenn ich ihn nicht gesehen habe –, das war mein Vater. Und ich befürchte, dass ich irgendwie an seinem Tod Schuld trage. Weißt du, diese Organe. Wenn ich mir das so richtig überlege, ich glaub, die hab ich entnommen und versteckt. Ich hab so ein komisches Gefühl in den Händen gehabt. Was meinst du, völlig irre, was?“

„Ach Quatsch, hör bloß auf damit! Du hast wahrscheinlich im Schlaf deine Eier massiert und dabei ein wenig übertrieben. Gib schon zu, du hast einen feuchten Traum gehabt und diesen mit irgendwelchen Mordfantasien assoziiert.“

„Nein, bestimmt nicht, aber es gibt mir schon was zu grübeln!“

„Nun bild dir bloß nichts Falsches ein“, sage ich und klopfe Charly freundschaftlich auf die Schulter. Logisch, mir ist sofort klar, dass sein Unterbewusstsein von üblen Trennungsfantasien geplagt wird, aber ich will ihn mit meiner Vermutung nicht brühwarm konfrontieren. „Aber mal ganz unter uns: Du verkümmerst doch nur mit diesem einfältigen Job. Nein, du verfaulst ja richtig. Ich meine, zumindest psychisch. Ich denke, du solltest abhauen von hier.“

„Ja, du hast recht. Ich muss mal darüber nachdenken. Ich hab aber nicht die geringste Ahnung, was ich sonst noch machen könnte. Es ist so: Ich weiß immer nur, was ich nicht machen möchte, und es fällt mir schwer, mich auf ein Ziel zu konzentrieren, das mich begeistern würde.“

„Geh doch mal zu einer Fachstelle und lass dich beraten. Irgendein Talent kannst du sicher aus dir herauskratzen und daraus was machen.“

„Meinst du wirklich? Was ist, wenn ich gar nichts vorweisen kann, das sich gewinnbringend vermarkten lässt?“

„Sei nicht albern! Setz ein Inserat auf und biete dich als Homeboy für ältere, schwerreiche, aber gelangweilte Damen an.“

„Du hast sie ja nicht alle!“

„Doch, doch … so was zieht immer! Nein, mal ganz im Ernst: Nächstes Jahr machen wir beide den Führerschein, kaufen im Gebrauchtwagenzentrum ne geile Karre, dann hauen wir zusammen ab. Einfach mal weg. Zuerst Norditalien, dann irgendwo den Balkan runter, bis in die Türkei oder noch weiter … Denk mal darüber nach!“

„Hmm …“, macht er und stützt seinen Kopf mit beiden Händen ab. „Mein Alter hat doch keine Knete für so was wie Fahrschule; und bis ich das nötige Kleingeld zusammengespart habe, bin ich grau und senil oder schon scheintot!“

„Dann klauen wir halt eine Karre und üben damit in irgendeiner Kiesgrube. Ich zeig dir, wie’s geht.“ Ich versuche eine ernste Mimik aufzusetzen, aber ich glaube nicht, damit so richtig erfolgreich zu sein.

„Hast du denn eine Ahnung vom Fahren?“, will Charly wissen.

„Äh, nur ein wenig … vom Fahrradfahren!“, gebe ich kleinlaut zu.

„Und wie, bitte schön, soll die geklaute Karre in die Kiesgrube kommen?“ Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

„Tja, meine Idee finde ich an sich sehr gut. Aber ich sehe, an den Details müssen wir noch arbeiten.“

Charly stöhnt laut auf und lässt sich wieder auf den Stuhl fallen.

„Okay, ich bleibe noch auf ne Runde, damit du wenigstens eine Ahnung hast, wofür du hier bist“, sage ich salopp. Tatsächlich haben zwei der vier anwesenden Kunden ihr Training soeben abgeschlossen und begeben sich in die Umkleide. Ich mache es ebenso und schäle mich aus meinen dicken Winterklamotten. Rasch streife ich mein Trainingszeug über, schwarze Shorts mit weißen Längsstreifen und ein gelbes Trikot mit schwarzen Bordüren, schlüpfe in die weißen Indoors und gehe in den Kraftraum.

Ich bin fast allein auf weiter Flur. Lediglich im Raum mit den Ausdauergeräten rackern sich zwei Senioren vom Typ Hängebauchschwein an ihren Maschinen ab. Einer bummelt auf dem Laufband vor sich hin. Die Schwiegeroma aus unserer Nachbarschaft geht mit ihrem Rollator schneller. Trotzdem schwitzt er kübelweise aus allen Poren. Ich befürchte, dass er dieses Training nicht sehr lange so durchziehen kann. Nein, es ist eher davon auszugehen, dass er in Kürze einen Herzkasper bekommen wird. Und dann, tja, dann war alles Bemühen umsonst. Der andere malträtiert ein Sportrad, keucht sich beinahe die Lunge aus dem Leib, und ich bin mir nicht sicher, ob das Ächzen vom sich abstrampelnden Typen darauf oder doch eher vom Gerät stammt, das unter der Last des Hängebauchs schier zusammenbricht. Jedenfalls sehen beide Typen recht komisch aus mit ihren verhältnismäßig dünnen Armen und Beinen und den massigen Oberkörpern, die sie in lächerlich wirkende, hautenge und knallbunte Trikots gezwängt haben.

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