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TRUTHAHN, CHICKEN UND DER KÖNIG DER LÖWEN
(CHAPTER THREE)
„Schöne guete Abig, mini Dame und Herre und es herzlichs Grüezi au no mal vo mir us de Pilotekabine. Min Name isch Franz Huber und zsamme mit minere Crew heiß ich Sie herzlich willkomme an Board. Viele Dank, dass Sie sich uf em Flug vo Düsseldorf nach Züri für Swiss entschiede händ. Mir versuechet, Ihne de Flug so agnähm wie mögli zgestalte. Dä Flug isch öppe mit ere Stund agrächnet. Mir wünschet Ihne en guete Flug und bittet Sie, Ihres Handgepäck unterem Sitz oder i dä dafür vorgsehene Ablageflächi zverstaue.“
Ja Moin. Ich musste innerlich lachen. Ich hatte bis auf den Namen kein Wort verstanden. Wieder meldete sich die Stimme aus dem Lautsprecher im Flugzeug.
„Und jetzt noch einmal für die nicht Schweizerdeutsch sprechenden Passagiere …“
Geht doch, Franz.
„Schönen guten Abend, meine Damen und Herren und ein herzliches Grüezi auch noch mal von mir aus der Pilotenkabine. Mein Name ist Franz Huber und zusammen mit meiner Crew heiß ich sie herzlich willkommen am Bord. Vielen Dank, dass sich auf den Flug von Düsseldorf nach Zürich für Swiss entschieden haben. Wir versuchen, Ihnen den Flug so angenehm wie möglich zu gestalten. Der Flug ist mit einer guten Stunde berechnet. Wir wünschen Ihnen einen guten Flug und bitten Sie, ihr Handgepäck unterm Sitz oder in den dafür vorgesehen Ablageflächen zu verstauen.“
Ich schaute auf meine digitale Uhr, die ich vor ein paar Monaten beim Planspiel Börse gewonnen hatte. 19:55 Uhr leuchtete es auf in weißen Zahlen. Ich freute mich, dass bis jetzt alles nach Plan verlief. Pünktlich setzte sich der Flieger von Swiss in Bewegung und machte sich hinter zwei anderen Fliegern auf dem Weg zur Startbahn. Nein, bis jetzt lief wirklich alles nach Plan. Bei einem Swiss-Schalter hatte ich vorhin meinen Koffer abgegeben. Im Gegenzug überreichte mir die Schweizerdeutsch sprechende blonde Angestellte die Flugtickets. Wie mein Nachbar Wolfgang, der mir an Noahs Geburtstag im Januar noch von seinem Namibia-Urlaub erzählt hatte, staunte sie nicht schlecht, als sie durch ihr System erfuhr, dass ich keinen Direktflug nach Windhoek, der Hauptstadt Namibias, gebucht hatte. Ich zuckte nur lachend mit den Schultern und nahm die drei Tickets dankend entgegen. Jetzt lagen sie gut verstaut in der oberen Tasche meines Rucksacks zwischen den Seiten meines Reisepasses. Bereit, in Zürich und Johannesburg bei den Zwischenstopps rausgekramt zu werden. Vorsichtshalber schaute ich noch mal nach, ob sie noch da waren.
Erleichtert, dass sie immer noch auf meinem Gesicht lagen, schaute ich wieder aus dem kleinen Fenster nach draußen. Das ganze Flughafengebäude war hell beleuchtet. Busse brachten Passagiere zu den wartenden Flugzeugen, während Kleinbusse mit mehreren Anhängern die Koffer hinterherfuhren. Zwischen dem ganzen Gewusel deutete nur der pechschwarze Himmel darauf hin, dass es bereits Nacht war. Ich schaute einige Meter runter zum Boden. Dort entdeckte ich überall Markierungen und Punkte, die in den unterschiedlichsten Farben zu mir aufleuchteten. Ich zückte mein Handy und machte schnell ein paar Fotos. Das Display auf der Kopflehne vor mir leuchtete auf und zeigte in einem einminütigen Video, wie sich eine Frau eine Schwimmweste umlegte und eine Sauerstoffmaske aufsetzte. Digital - wow. Kein Vergleich zu den Sicherheitsanweisungen vorm Abflug nach Hamburg, die zwei Stewardessen mit wilden Handbewegungen im Gang vor allen Fluggästen vorgemacht hatten. Als das Video zu Ende war, gingen mit dem Display auch die Lichter im Flugzeug aus.
„Ready for take off“, hörte ich über die Lautsprecher eine Stimme sagen. Die Triebwerke dröhnten laut auf. Binnen Sekunden beschleunigte Franz das Flugzeug auf mehrere Hundert Stundenkilometer. Die Geschwindigkeit drückte meinen Körper mit voller Wucht in den Sitz, doch anders als an Silvester jagte mir das keinen Schreck ein. Aufgeregt schaute ich aus dem Fenster. Wie ein Gepard eine Gazelle pushte Franz das Flugzeug nach vorne, ehe einige Sekunden später das lang gezogene Gebäude des Düsseldorfer Flughafens immer kleiner wurde, bis es am Boden nicht mehr zu sehen war. Wir flogen eine große Kurve über die Rheinpromenade und den Fernseherturm. Alles kam mir sehr bekannt vor. Vor ein paar Monaten hatte ich dort unten noch neben meinem Fahrrad am Ufer gesessen und Flugzeugen beim Fliegen zugesehen. Jetzt war es umgekehrt und es fühlte sich gut an.
Der Flughafen in Zürich war menschenleer. Gespenstisch leer. Neben meinem Schatten auf dem Gang war nichts los. Es war echt seltsam. Keine Menschenseele war zu dieser Uhrzeit unterwegs. Keine Spur von den Passagieren und Fluggästen, die gerade noch Franz und seinem Co-Piloten nach ihrer sicheren Landung applaudiert hatten. Sie waren wie vom Erdboden verschlungen. Ich hatte das Gefühl, dass ich der Einzige war, der heute noch nach Johannesburg fliegen würde. Ich wunderte mich, dass um neun Uhr bereits alle Geschäfte geschlossen waren. Kein Restaurant, keine Boutique war mehr geöffnet. Kein Vergleich mit dem lebhaften Treiben in der Düsseldorfer Abflughalle, in der man quasi alle zehn Meter einen Bäcker, Restaurant oder Kiosk vorfand. Hätte ich doch besser da noch was zu essen gekauft, dachte ich mir, während ich durchs Schaufenster einer Pizzeria spähte, die längst geschlossen hatte. Mein Magen knurrte und machte sich mehr und mehr bemerkbar. Ich hatte zwar noch eine Banane und zwei Brötchen mit Rührei in meiner Tasche dabei, doch diese waren eigentlich fürs morgige Frühstück vorgesehen. Ich beschloss, erst mal das Gate zu suchen. Bis zum Boarding war noch gut eine Stunde Zeit. Ich schaute auf mein Handy.
„Gate 38. Aha. Gut, dass auf dem Ticket ein anderes Gate steht …“ Ich steckte das Handy zurück in die Hosentasche und schlenderte weiter den Gang entlang. Orientierungslos musste ich auf den Überwachungskameras ausgesehen haben, wie ich immer wieder im Gang stehen blieb und mich um die eigene Achse drehte. Es war das reinste Labyrinth. Die Zeiger wanderten auf der Uhr immer weiter. Langsam wurde ich nervös. Noch immer hatte ich das Gate nicht gefunden. Auch keine Person, die ich hätte um Hilfe bitten können. Mit jeder Minute wurde ich unruhiger, bis mir schließlich ganz schlecht war. Ich brauchte jetzt etwas zu essen. Ich wollte gerade aus der Not heraus meinen Rucksack absetzen und die Banane auspacken, als ich plötzlich einen Lebensmittelladen entdeckte, der zu meiner großen Freude um die Uhrzeit noch geöffnet hatte. Meine Freude wurde leicht getrübt, als ich die Lebensmittelpreise sah. Bei fast jedem Produkt standen zwei Zahlen vor dem Komma. Es war wirklich Wahnsinn, wie viele Schweizer Franken hier für eine Kleinigkeit zu essen verlangt wurden. Ich lief zwischen Obst- und Brotständen her, bis ich schließlich fündig wurde. Zumindest sah es eingeschweißt in Frischhaltefolie so aus.
„Grüß Gott“, sagte ich zu einem älteren Mann hinter der Kasse, der mich freundlich anlächelte. „Ein Truthahn-Tomaten-Rucola-Sandwich für mich, bitte.“ Ich reichte ihm gleichzeitig mit dem Sandwich meine Kreditkarte über den Tresen. Das Brötchen des Sandwiches war recht schmal, dafür aber mit fast zwanzig Zentimetern recht lang. Wie eine Flöte sah es aus. Es fehlten nur die Löcher und das Mundstück zum Reinblasen.
„Hoi. Wenn Sie möchtet, chönnt Sie gern no es zweits Sandwich näh …“Oh Gott, noch so einer. Ich drehte mich um, um sicherzugehen, dass er gerade wirklich mit mir sprach. Er tat es. Sein Schweizerdeutsch war noch schwieriger zu verstehen als das von Franz Huber im Lautsprecher. Ich schaute ein wenig hilflos in sein freundliches Gesicht.
„Mir schließet sowieso in zeh Minute und sind am wegrumme und uffrumme.“ Zeh Minute? Uffruume? Ich verstand nur Bahnhof. Wahrscheinlich schwebten über meinem Kopf gerade lauter Fragezeichen und schlugen Purzelbäume in der Luft. Der Verkäufer griff nach einem zweiten eingepackten Truthahn-Sandwich.
„No, no. Ähn. Nein, Nein.“ Ich wedelte mit meinem Zeigefinger durch die Luft. „Just one, äh, nur eins bitte.“ Er schien mich missverstanden zu haben. Ein Sandwich für sieben Franken reichte mir. Trotz meines Einwandes packte er beide in eine Tüte.
„Das würde dänn insgesamt siebe Franke machen, da Herr.“
„Ahh. Zwei für eins.“ Ich grinste. Erst jetzt hatte ich sein Angebot verstanden. Wieso sagt er das nicht gleich?
„Mit dä Charte? Gern.“ Er nahm meine goldene Karte entgegen und steckte sie in das Kartenzahlungsgerät. Nach einigen Sekunden machte es piep und er gab sie mir wieder zurück. Ich steckte sie in meine Handytasche und griff nach der Tüte mit den beiden Sandwichbaguettes.
„En guete!“, wünschte mir der Verkäufer zum Abschied.
Danke. Ihnen auch. Pfiat di!“ Erst beim Ausgang fiel mir ein, dass „Pfiat di“ ja gar keine schweizerdeutsche, sondern vielmehr eine bayerische Abschiedsfloskel war. Ich musste lachen. Du und deine Sprachskills, Silas … Kopfschüttelnd biss ich beim Gedanken daran in den ersten Truthahn. Das kann ja mit deinen englischen Sprachkenntnissen was werden in Afrika. Gell, Richie?
„Pardon?“ Richie schaute mich fragend an. Er kam aus Südafrika, wohnte in Stockholm und sollte für die nächsten zehn Stunden mein Sitznachbar auf dem Flug nach Johannesburg sein. Zufälligerweise arbeitete er auch in einer Bank, sodass wir gleich ein Small-Talk-Thema hatten. Wir verstanden uns auf Anhieb …
„Sorry Bro, I did not understand …“
„My display does not work!“ Während Richie schon die Mediathek von Swiss nach geeigneten Filmen durchstöberte, war mein Bildschirm an der Kopflehne meines Vordermannes immer noch schwarz. Er schien keine Lust zu haben, mich in den nächsten Stunden unterhalten zu wollen. Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich mir. Verzweifelt suchte ich mit meinen Händen den Rand nach dem Power-Button ab.
„Bro, just touching …“
„Pardon?“ Erst als er mit dem Finger über sein Display strich, verstand ich, was er meinte. Ich berührte das Display und nach wenigen Sekunden flackerte das Swiss-Symbol auf. Erleichtert lehnte ich mich nach hinten, um kurz darauf wieder ganz nah mit meiner Nase an den Bildschirm zukommen. Auf dem Display leuchtete jetzt eine große Kugel hell auf. Umrandet von einem weißen Kranz sah ich die Erde und die Flugstrecke, die sich quer vom europäischen Kontinent bis fast zum südlichsten Punkt des afrikanischen Kontinents hinunterzog. Ich staunte. Afrika war im Vergleich zu Europa riesig. Viel größer und gewaltiger, als ich je gedacht hatte. Auf Landkarten sah Europa im Vergleich zu Afrika immer viel größer aus. Nichts da. Der Abstand zwischen Namibia und zu Hause war gewaltig. Auf dem kleinen Bildschirm zwar nur wenige Zentimeter, doch in Wahrheit waren es zehn Flugstunden und Tausende Kilometer.
„Crazy, right?“ Richie hatte mein Staunen über die Erdkugel bemerkt. „Africa is a very big planet, my friend.“ Ich nickte ihm beeindruckt zu.
„Where do you want to fly?“
„Namibia, Windhoek.“
„Why?“ Er grinste und setzte sich interessiert seine Kopfhörer ab, um mich besser verstehen zu können. Von ihm wusste ich bereits, dass er in Südafrika seine Familie besuchen wollte. Zum ersten Mal würde er nach mehreren Monaten und Skype-Calls seine Mutter wieder in die Arme nehmen können. Er konnte den Moment kaum erwarten.
„Why do I fly to Namibia?“ Ich musste kurz grübeln, um zu überlegen, wie ich es ihm mit meinem nicht so ganz perfekten Englisch am besten sagen sollte. „I think I was fifteen years old as I saw TV series about a farm in Namibia. Maybe you know the series. Volunteers worked there with wild animals. Lions, leopards, baboons and cheetahs. They prepared food, cleaned the enclosures of the animals and lived in the bush.“
„I mean I heard of it.“
„I saw this series each day in my holidays. Generally, I like to see documentaries about the African planet. Films about the nature, about wild animals, especially lions …“
„Do you know the lion king?“, unterbrach mich Richie. „It is a film about lions. Very funny. Trust me.“ Er lachte. Wahrscheinlich dachte er gerade wie ich an den furzenden Pumbaa.
„Hakuma Matata, I know“, ich grinste. „The lion king is my favorite film.“
„Same. You know …“, man hörte richtig Richies südafrikanischen Slang raus, „the meaning is very impressive. Taking responsibility for your life and do not run away when life tries to teach you. I mean there are bad times, but you have to go through it.“ Bei Richies Sätzen bekam ich Gänsehaut. Ich dachte an Silvester, als ich neben meiner Familie im Theatersaal saß und bei einigen Szenen fast weinen musste, weil sie so tiefsinnig waren. Bei einigen Liedern und Szenen hatte ich tatsächlich Tränen in den Augen, die mir im zum Glück dunklen Saal über die Wange kullerten.
„I like what you say, Richie. When you are in Germany, you have to visit the Lion King Musical in Hamburg. Trust me. I had the whole time Gänse, ähh, Gänse …“ Meine Vokabellücken klafften zum ungünstigsten Zeitpunkt wieder auf. „Do you know the bird, who …“ Richies Stirn legte sich leicht in Falten. „Who has an orange, you know …“ Ich hielt meine Hand vor den Mund und machte eine Schnabelbewegung.
„Goose?“
„No, Schnabel.“
„Schnabel? Do you mean goose?“ Verwirrt schauten wir uns für einen kurzen Moment schweigend an.
„Goes? What goes?“ Ich konnte mich nicht erinnern, jemals von diesem Wort gehört zu haben.
„Not goes - goose. It is a white bird with an orange lip or muzzle.“ Er machte mit seiner Hand meine Schnabelbewegung nach.
„Ah, okay, goose is Gans“, antwortete ich ihm lachend.
„Ganz? What is that?“
„Goose, the white bird with the orange lip, is called Gans in German“, erklärte ich ihm.
„Ganz, ganz, ganz“, sagte er dreimal schnell hintereinander. Er fing an zu lachen. Es hörte sich echt bekloppt an.
„Haha, yes.“ Ich blickte mich lachend um. Den Leuten um uns herum wurde wirklich großes Sprachkino geboten.
„What I wanted to say … I had the whole time Gänse – äh, goose skin during the musical. The whole time.“ Ich strich mit der Hand über meinen Arm, sodass Richie nachvollziehen konnte, was ich meinte. Er verstand zum Glück. „Yes, I understand. I can definetly imagine how you felt, haha.“ Er nickte mir zu. „You can watch the film during the flight if you want. I found it in the film list.“
„The Disney film or the animation?“ Es gab ja mittlerweile zwei Filme. Die Disney-Variante und den ein paar Monate zuvor erschienenen
„… animation film that was published few months ago.“
„Nice.“ Ich scrollte durch die Mediathek und klickte auf das Filmcover. Mit einer Freundin hatte ich seit Wochen in diesen Film gehen wollen, jedoch hatte sich wegen dem ganzen Prüfungs- und Lernstress keine Gelegenheit für einen König-der-Löwen-Kinobesuch ergeben. Ich schickte ihr schnell ein neidisch machendes Foto und lehnte mich mit Kopfhörern auf den Ohren zurück. Die Musik von „Circle of Life“ ertönte zeitgleich mit den startenden Turbinen des Flugzeugs. Elefanten, Zebras und Giraffen tanzten und liefen wild durcheinander, während das Flugzeug schneller und schneller wurde. Die Musik im Film wurde lauter und lauter. Durch die Geschwindigkeit wurde ich wie die anderen Fluggäste in meinen Sitz gepresst, während Mufasa und Sarabi, gerade Eltern geworden, langsam den Hügel bestiegen. Sie blieben hinter Rafiki stehen, der zur Begeisterung der jubelnden Tiermassen Simba zu lauter Musik in die Höhe streckte. Die Musik von „Circle of Life“ droppte. Zu dem Zeitpunkt befanden wir uns wie Simba längst in der Luft.
Einige Stunden später, Simba hatte längst als Nachfolger seines Vaters den Thron im Regen bestiegen, wachte ich erschrocken auf. Alles ruckelte und schaukelte. Wo war ich? Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Ich schaute auf die Erdkugel. Im Flugzeug, stimmt, ja. Ich richtete das Nackenkissen und trank einen großen Schluck aus meiner blauen Wasserflasche. Diese war noch zu drei Vierteln befüllt. Sollte bis zum Morgen locker ausreichen. Ich schaute wieder auf das Display und auf die kleine Plastikflasche vor mir, die auf dem ausklappbaren Tisch von der einen zur anderen Seite rollte. Irgendein Bio-Wein-Plakat klebte darauf. Sie erinnerte mich an das Abendessen um Mitternacht. Es gab Hähnchengeflügel mit Reis, das zusammen mit einer orangefarbenen Currysauce serviert wurde. Zum Nachtisch gab es dann noch ein kleines Stück Kuchen, das ich Richie zu seiner Freude überließ, da ich vom Truthahn noch ziemlich satt war. Richie … Ich schaute zu ihm, ob auch er durch das ganze Flugzeuggewackel geweckt worden war. Aber er schlief tief und fest, zumindest deuteten die Schnarchgeräusche darauf hin, die leise unter der Decke zu hören waren. Er hatte sich die Decke bis über den Kopf gezogen, sodass nur noch seine Beine und Hände zu sehen waren. Was ein Typ, dachte ich mir. Der kriegt doch so keine Luft. Ich tippte auf den Bordcomputer vor mir. Der hatte sich zusammen mit der Kopflehne ein ganzes Stück in meine Richtung orientiert. Wahrscheinlich war der Herr vor mir jetzt auch fertig mit seinem Film. Sein an der Wand lehnender Kopf bestätigte meine Vermutung.
Das Flugzeug flog gerade über Tunesien hinweg. Ich seufzte. Noch immer lagen mehrere Flugstunden nach Johannesburg vor uns. Wenn wir überhaupt ankommen sollten. Das Flugzeug machte einen Hüpfer nach links. Die Wände knackten und knarrten. Ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren und nicht panisch zu werden. Eine Frau zwei Reihen vor mir wurde es nämlich gerade. Wieder ruckelte es wild. Eine Windböe hatte das Flugzeug voll erwischt, sodass es kurz absackte, ehe es wieder aufwärtsging. Auf Achterbahn hatte ich jetzt irgendwie gar keine Lust. Auf Loopings schon gar nicht. Ich schob vorsichtig das Abdeckteil vom Fenster ein wenig beiseite und schaute nach draußen. Bis auf Dunkelheit war nichts zu erkennen. Enttäuscht lehnte ich mich wieder zurück. Auf Flugturbulenzen hatte ich mich nicht vorbereitet. Ich war hundemüde und bereute den Wein vom Vorabend, auch wenn es nur ein Viertelliter war. Ich trank eigentlich so gut wie nie Alkohol und ausgerechnet auf einem Zehn-Stunden-Flug musste ich damit anfangen. Ich schaute über den Sitz meines schlafenden Vordermannes zur Toilette. Diese war ungefähr fünfzehn Meter von meinem Platz entfernt. Ein kurzer Hüpfer über Richie, ein schneller Sprint durch den Gang und ein Aufreißen der Toilettentür war bei dem Gewackel und der Truthahn-Chicken-Kombi im Magen ein durchaus realistisches Szenario für die nächsten Minuten. Sofern das Geschaukel nicht aufhören sollte. Ich griff noch mal nach meiner Wasserflasche und nahm einen großen Schluck. Dann wickelte ich mich erneut in meine Swiss-Decke ein und machte es mir bequem. Einige Minuten später und nach einer Durchsage des Piloten, dass wir gerade durch ein tunesisches Wettertief fliegen und es gleich wieder ruhiger in der Luft werden würde, verstummten meine Sorgen, Gedanken und Worst-Case-Szenarien. Sie wurden von einem leisen Schnarchen abgelöst. Diesmal kam es nicht von Richie.
FÜNF ROTE LÖWINNEN
(CHAPTER FOUR)
Mit müden Augen schaute ich verschlafen in den Spiegel der Bordtoilette und beobachtete, wie einzelne Wassertropfen langsam über mein Gesicht kullerten. Ich hatte vielleicht zwei Stunden in der Nacht geschlafen und man sah es mir auch an. Darüber täuschte auch das erfrischende kalte Wasser nicht hinweg, das ich mit mehreren Schüben in mein Gesicht geklatscht hatte. Gefühlt alle paar Minuten wachte ich auf, um dann festzustellen, dass wir immer noch nicht am anderen Ende des afrikanischen Kontinents angekommen waren. Jetzt lag der Flughafen von Johannesburg noch gute dreißig Minuten von uns entfernt. Zeit genug, um sich wie die anderen Passagiere im ein Quadratmeter großen WC frisch zu machen und die letzten Erinnerungen an die Nacht im Gesicht verschwinden zu lassen. Frühstück hatte es bereits gegeben. Ich putzte mir die Zähne und sprühte ein wenig Parfüm auf mein frisches T-Shirt. Das andere hatte ich in der Nacht ordentlich nassgeschwitzt. Ich öffnete die schmale Tür, die ich vor ein paar Minuten kaum geöffnet bekam, und zwängte mich vorbei an der wartenden Toilettenschlange. Zurück in der Sitzreihe drehte sich Richie mit seinen Beinen in den Gang, sodass ich mich an ihm vorbei auf meinen Platz quetschen konnte. Unauffällig stopfte ich dort das müffelnde Shirt in eine leere Seitentasche des Rucksacks. Den Kulturbeutel mit den Zahnputzsachen verstaute ich bewusst woanders. Richie hatte sich wieder hingesetzt und studierte interessiert die Wetteraussichten auf seinem Bordcomputer.
„Weather for today looks good …“ Er hatte sich auf der Toilette bereits eine kurze Hose angezogen und seine Füße mit Flip-Flops dekoriert. Ich dagegen trug immer noch meine lange Jeans.
„How much degrees?“
„27“, antwortete Richie euphorisch. Jetzt bereute ich, dass ich keine kurze Hose im Handgepäck hatte. Schon beim Gedanken an siebenundzwanzig Grad sammelte sich Wasser in meiner Kniekehle. Ich schaute wieder aus dem Fenster und dann sah ich sie: die Sonne. Ihre Strahlen trafen auf mein Gesicht und brachten es zum Lächeln. Zum letzten Mal hatte ich sie vor gut einer Woche gesehen, als ich mit ein paar Freunden in Holland am Meer war. Es tat gut, sie zu sehen und von ihr begrüßt zu werden. Während die Sonne am Himmel immer höher kletterte, verringerte sich unsere Flughöhe mehr und mehr. Autos, Häuser und Straßen tauchten am Boden auf. Kontrolliert leitete der Pilot den Sinkflug ein. Wie auf einer Rolltreppe näherten wir uns immer mehr dem Boden, ehe wir auf der Landebahn aufsetzten und landeten. Ich schüttelte beim Gedanken ungläubig den Kopf. Ich war in Afrika gelandet und hatte den langen Flug problemlos überstanden. Es war kein Traum, in dem ich mich befand. Kein Traum, der durch das nervige Geräusch des Weckers hätte beendet werden können. Ich war wach und näherte mich dem großen Gebäude, auf dem Airport Johannesburg stand. Stolz, den Schritt gemacht zu haben, wartete ich darauf, dass wir unseren Stellplatz erreichten und ich meinen Platz verlassen durfte. Ich konnte kaum erwarten, afrikanischen Boden zu betreten. Die lange Hose war mir dabei jetzt erst mal egal …
„Pardon?“ Das Flugzeug hatte mittlerweile seine Gangway erreicht. Die meisten Passagiere wuselten schon wild durcheinander, zogen ihre Handgepäckstücke aus der Ablage und warteten, bis der Vordermann endlich weiterging. Richie und ich saßen noch auf unseren Plätzen. Wir hatten gerade andere Probleme.
„Pardon?“ Verständigungsprobleme. Richie hatte mich schon wieder nicht verstanden. Ich war gerade dabei, ihm meinen Namen zu buchstabieren, bisher jedoch ohne Erfolg. Immer hörte er einen anderen Buchstaben heraus. Ich versuchte es anders:
„Siegfried, Ida, Leon, Anton, Siegfried, Joachim …“
„Wow, wow, wooow. Bro, that is your Instagram name? So many names?“
„Jesus, no.“ Beim Gedanken an so einen Namen und den dazu von den Behörden auszustellenden Personalausweis musste ich lachen. „I’m only trying to spell my name. Silas - S like Siegfried, I like Ida …“ Richie verstand und tippte den Namen in seinen Notizen auf dem Handy ab.
„Alright, I will add you.“ Er stand auf, stellte sich in den Gang und warf sich seinen Rucksack auf den Rücken. Zusammen trotteten wir mit unseren Rucksäcken hinter den anderen aus dem Flugzeug. Auf dem Gang zu der Passkontrolle verabschiedeten wir uns:
„Enjoy your time in Africa. It was really nice to meet you.“
„I will let you know on insta in my story. All the best for you. Bye Richie.“
„Bye Siles.“ Siles? Hatte er gerade Siles gesagt? Ich musste lachen. Klang irgendwie witzig und lässig - Siles. Entspannt und gut gelaunt schlenderte ich mit meiner Herbstjacke hinter den anderen Fluggästen her über den fliesenbedeckten Flughafengang. Neugierig schaute ich mich um. An den Wänden hingen überall große Bilder und Werbeplakate. Banken, SIM-Kartenanbieter und Safariunternehmen warben mit Tierporträts von den Big Five oder lachenden Kindern für ihre Produkte.
„Get Connected. Explore South Africa.“ Ja, eine Safari würde ich auch gerne mal machen, dachte ich mir, als ich vor einem Nashorn stehenblieb, das mich von der Wand anschaute. Irgendwann mal, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt …
Vor der Passkontrolle bildete sich bereits eine lange Schlange. Nur langsam ging es voran. Die Kontrolleure schienen es nicht eilig zu haben und scannten jeden Ausweis mehr als gründlich. Es dauerte bestimmt fünfundvierzig Minuten, bis ich endlich den ersten afrikanischen Stempel in meinem Reisepass begrüßen durfte. Um ehrlich zu sein, war es auch der erste Stempel im gesamten Pass, schließlich war dieser erst wenige Monate alt und noch nie genutzt worden. Es war zwölf Uhr Ortszeit und ich beschloss, erst mal weiter durch den Flughafen zu laufen. Ich hatte ja keinen Zeitdruck. Der Flug nach Windhoek sollte erst in zweieinhalb Stunden gehen. Vielleicht gab es hier ja ein paar Souvenirläden und Restaurants zu entdecken. War ja auch schon Mittag. Erleichtert stellte ich fest, dass die Restaurants geöffnet waren. Langsam bekam ich auch schon wieder Hunger. Ohne wirkliches Ziel lief ich erst mal den anderen Fluggästen nach und ließ mich in ihrem Sog mit durch die Gänge ziehen. Immer wieder starrte ich beim Laufen auf mein Handy und versuchte, mich mit dem Flughafen-WLAN zu verbinden. Schließlich hatte ich meinen Eltern ja versprochen, mich zu melden, sobald ich in Afrika gelandet war. Doch leider scheiterte es jedes Mal bei der Anmeldung. Nachdem fünften Log-in-Versuch stopfte ich es leicht genervt zurück in die Hosentasche und schaute mich um. Von den anderen Passagieren, die gerade noch eilig vor mir hergelaufen waren, fehlte jede Spur. Ich musste in den letzten Minuten echt schneckenartig unterwegs gewesen sein. Irgendwo würde ich schon gleich rauskommen. Mein Blick fiel auf einen dunkelhäutigen Mann, der sich an eine Säule lehnte. Er trug eine orangefarbene Weste und wie ich eine lange Jeanshose. Er grinste mich freundlich an. Ich grinste zurück und machte mit meiner Hand eine grüßende Bewegung. Wahrscheinlich gehörte er zum Flughafenpersonal und half als Servicekraft umherirrenden Fluggästen, die unter Zeitdruck nach dem nächsten Gate suchten und vor lauter Stress komplett den Überblick verloren. Zum Glück gehörte ich denen in beiderlei Hinsicht nicht an. Der Mann hatte mein Winken gesehen und steuerte mit schnellen Schritten auf mich zu. Bestimmt dachte er, dass ich Hilfe brauchte und ihm deswegen zugewunken hatte.
„Hey, welcome in Johannesburg“, begrüßte er mich und reichte mir seine Hand. Ich schlug dankend ein. „Can I help you, my friend?“ Er dachte wirklich, dass ich Hilfe brauchte.
„No, thank you.“ Das mit dem Flughafen-WLAN würde ich schon irgendwie allein hinkriegen. Und Schilder konnte ich auch lesen. Ich setzte mich mit meinen Sachen wieder in Bewegung. Zu meiner Überraschung lief er neben mir her.
„Where are you from, my friend?“
„Germany.“
„Ahh Deutzland. Hallo, wie gehts?“ Er grinste. „I speak a little bit Deutsch, haha.“
„Your German is good. Nice. Why do you speak German?“ Ich wusste, dass viele Einheimische in Namibia deutsch sprachen, doch Südafrika war mir neu. Ich erfuhr von ihm, dass er sich gerne mit deutschen Touristen am Flughafen unterhielt und mit jeder Begegnung neue Wörter lernte. Ich musste mit meinen Augenringen anscheinend ziemlich deutsch ausgesehen haben. Zumindest hatte er mich direkt als Deutscher erkannt. Ich erzählte ihm, dass meine Familie ursprünglich aus Österreich und den Niederlanden kam in der Hoffnung, dass er vielleicht ein paar Brocken Österreichisch auspackte. Das hätte ich mir witzig vorgestellt. Stattdessen bot er an, mich zur Abflughalle zu begleiten
„What is your gate?“ Ich kramte nach meinem Reisepass, in dem ich die Tickets ja deponiert hatte.
„Boarding time 2 pm from Gate A18.“
„Gate A18, alright.“ Wie aus dem Nichts nahm er mir das Ticket aus den Händen.
„Hey, what are you doing?“
„I will show you the way. Follow me.“ Er beschleunigte seinen Gang. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen und wunderte mich, warum er jetzt so aufs Tempo drückte. Ich hatte doch alle Zeit der Welt und wollte noch gar nicht zum Gate. Doch ich wollte nicht unhöflich sein und sein Angebot ablehnen.
„What is your job here at the airport?“
„Helping airport guests is my job“, antwortete er kurz und knapp. Ach echt? Wir steuerten in der Flughalle einen Check-in-Automaten an. Während er sich am Automaten zu schaffen machte, schaute ich mich in der Gegend um. Überall liefen Menschen durch die Gegend, stöberten in Souvenirläden oder blickten gespannt auf die Abflugzeiten auf der Anzeige. Das ganz normale Chaos am Flughafen halt, so wie ich es schon in Düsseldorf erlebt hatte. Nur der Airport Zürich tanzte da aus der Reihe. Insgesamt zählte ich fünf Mitarbeiter mit orangefarbenen Westen, die die Koffer von Passagieren auf Gepäckwagen durch die Gegend rollten. Mein persönlicher Flughafenmitarbeiter tippte derweil noch immer die Flugdaten am Display ein.
„How many colleagues do you have? I can count only five.“ Ich konnte mich echt glücklich schätzen, dass ich einen abbekommen hatte.
„I do not know. We are all self employed. Ah yes.“ Er hielt ein frischgedrucktes Ticket in den Händen und zerriss das alte. „Hey, my ticket. Why do you do that?“, entgegnete ich erschrocken.
„I made the check-in for you. You are welcome.“ Er grinste freundlich und reichte mir das neue Flugticket. Ich nahm es entgegen und steckte es schnell in meine Hosentasche. Sicher ist sicher. „Thank you, but it was not necessary. I already did the check-in in Germany.“
„You have to do that here as well.“
„But …“
„You are welcome. Follow me. I bring you to the gate, my friend.“ Er ergriff meinen Ärmel und zog mich ein Stückchen hinter sich her an den Automaten vorbei. Überrumpelt folgte ich ihm. Wir gingen ein paar Meter und erreichten ein Schild, auf dem mehrere Gates draufstanden.