Читать книгу: «Afrika - Leben, Lachen, frei sein», страница 4
„Ja wir mussten auch schon zwei Stunden auf ihn warten“, berichtete Marlene von unserem Warten in der Unterkunft.
„Plus eine Stunde warten am Bahnhof “, ergänzte ich sie. „Also bei drei Stunden Wartezeit sind wir auch schon.“ Drei Stunden - Wahnsinn. Ans Mittagessen auf der Farm dachte ich schon lange nicht mehr. Ich beschloss, heute nichts mehr zu planen und einfach alles auf mich zukommen zu lassen. Auf dem Bus stand nicht umsonst der Slogan der Farm geschrieben:
Expect the unexpected.
„Stimmt, du hast recht. Also Jessi, du bist nicht die Erste, die heute auf den Bus warten musste. Vielleicht beruhigt dich das ein wenig.“ Marlene lächelte.
„Na ja, solange wir schnell ankommen und ich meine Hose wechseln kann, ist alles gut.“ Der Fahrer startete den Motor. Er schien Jessis Appell mitbekommen zu haben. Langsam fuhren wir mit dem Bus vom Flughafengelände. Während sich ein Flugzeug im Landeanflug über unseren Köpfen seinem Ziel näherte, sollte unser nächster Halt auf dem Weg zur Farm erst in anderthalb Stunden in Gobabis stattfinden.
Endlich angekommen im Zentrum von Gobabis, hielt der Bus mit quietschenden Bremsen neben der asphaltierten Straße. Von Windhoek nach Gobabis hatte es ungefähr drei Kurven und Kreuzungen gegeben. Die ganze Zeit ging es mitten durch die Steppe geradeaus. Alle paar Kilometer sah man zwar mal ein paar Rinder, die Schatten unter Bäumen suchten und in der Nähe von Farmen lebten, jedoch bekamen wir auf der Fahrt nicht einen Menschen zu Gesicht. Hier in Gobabis änderte sich das Bild. Rinder gab es hier zwar auch und nicht gerade wenig. Sie standen eingezäunt hinter Gattern oder ließen sich in der Hitze den Wind vom Anhänger aus um die Nase wehen. Doch anders als in der Prärie lebten hier auch Menschen. Viele Menschen. Kinder spielten neben der Straße mit Flaschen und Konservendosen, Frauen trugen Wasserkanister auf ihren Köpfen durch die Gegend oder kochten am Straßenrand auf offenem Feuer. Es gab ganze Siedlungen von Blechhütten, die notdürftig zusammengeschustert waren. Anstelle von Türen und Fenster hingen Tücher und Decken vor den Eingängen, oftmals mit mehreren Löchern. Mit skeptischen Blicken beäugten uns die Einheimischen, als wir an ihnen vorbeifuhren. Wir mussten im ärmeren Teil von Gobabis gelandet sein. Häuser gab es hier auch, jedoch waren die für Geschäfte, Imbisse und Supermärkte reserviert. Wir standen direkt vor einer großen Kreuzung. Ampeln gab es keine. Direkt gegenüber von uns lag eine große Tankstelle, vor der große Geländewagen parkten. Das bunte Treiben hinter der Kreuzung deutete auf eine Einkaufsmeile hin. Ich entdeckte einen kleinen Spar zwischen zwei Boutiquen. Bisher dachte ich, dass es diesen nur in Österreich gäbe. Ich hoffte, dass der Spar ähnliche Snacks wie am Wörthersee führte. Es war mittlerweile weit nach Mittag und gute sechs Stunden her, dass ich etwas gegessen hatte. Auch Marlenes Augen leuchteten, als sie das Spar-Zeichen auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte. Wir weckten McKenzie, der die ganze Zeit mit der Stirn gegen den Haltegriff des Vorderplatzes gelehnt haben musste und jetzt einen roten Abdruck über seiner Brille trug, und stiegen aus dem Bus. Die beiden Mitarbeiter taten es uns gleich und stiegen mit aus. Nur der Fahrer blieb sitzen und kurbelte wie ein Bekloppter seine Fensterscheibe runter.
„I am back in thirty minutes. So, you have time to buy some staff in the supermarket.“ Er zeigte mit dem Finger auf den Spar, den wir ja schon entdeckt hatten. „I have to take care some things. Thirty minutes. See you“ Ohne genauer darauf einzugehen, kurbelte er die Scheibe wieder hoch, setzte den Blinker und fuhr davon. Die Staubwolke hatte sich noch nicht richtig gelegt, da war er schon hinter der Kreuzung verschwunden und nicht mehr zu sehen. Wir wechselten die Straßenseite und liefen, verfolgt von mehreren Blicken, zum Spar. Er war klimatisiert. Die Freude stand uns bei der trockenen Hitze förmlich ins Gesicht geschrieben. Die erste funktionierende Klimaanlage in Afrika, dachte ich mir und schnappte mir am belüfteten Eingang einen Einkaufskorb. Mit knurrenden Mägen liefen wir durch die Gänge. Jessi suchte direkt die Getränkeabteilung auf, während Marlene und ich umgehend zum Bäcker liefen.
„Wo ist McKenzie?“, fragte Marlene, als wir gemeinsam auf die Frau hinter der Theke warteten, die gerade noch einen anderen Kunden bediente. Ich zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Der hat am Eingang irgendwas von peanut butter genuschelt und ist dann mit seinem Korb abgebogen.“ Die Kundin neben uns bestellte noch ein paar Steaks, die direkt neben der Brottheke angeboten wurden. Richtig appetitlich sah anders aus. Die Steaks schwammen in einer roten Brühe, die ein wenig an Blut erinnerte. Ganz anders die Käsebrötchen. Goldbraun überbacken grinsten sie mich in der Vitrine an.
„Nimm mich, nimm mich!“
„Ich glaube, ich nehme zwei Käsebrötchen. Weißt du, ob Jessi auch was wollte?“
„Sie wollte eigentlich nur Zigaretten und einen Energydrink kaufen. Wir können ihr ja ein Käsebrötchen mitbringen. Ich nehme auch zwei. Frage ist, ob wir für McKenzie was mitbestellen sollen.“ Ich drehte mich um und sah McKenzie, der gerade in die Keksabteilung abbog. Von Weiten sah er mit seinem roten Balken auf der Stirn jetzt wirklich aus wie Harry Potter. In seinem Korb lagen zwei XXL-Peanut-Butter-Gläser. Ich grinste.
„Ich glaube, dass er schon selber satt wird.“ Er erfüllte wirklich alle Klischees eines Amerikaners. Der, der mit ihm auf ein Zimmer kommen sollte, tat mir jetzt schon leid. Bei den zwei großen Erdnussbuttergläsern …
„Okay, also fünf Käsebrötchen“, fasste Marlene zusammen. Mit fünf Käsebrötchen in der Tüte liefen wir Richtung Kasse weiter durch die Gänge. Neben Oreo-Keksen landeten noch zwei Cola-Flaschen und eine Wasserflasche in meinem Korb. Auch Jessi war in der Getränkeabteilung fündig geworden. Mit zwei Red Bull in der Hand, stand sie hinter der Kasse und deutete auf ihre Uhr. Sie wollte endlich eine rauchen. Eine Zigarette klemmte bereits hinter ihrem Ohr. Wir zahlten zügig unsere Einkäufe und warteten auf McKenzie. Neben den beiden XXL-Erdnussbuttergläsern, auf deren Etiketten eine Erdnuss vor einer Amerikaflagge abgebildet war, landeten noch mehrere Verpackungen mit Ingwerplätzchen und Crackern in seiner Einkaufstüte. Was eine Ausbeute.
In der Nachmittagssonne wieder angekommen, stellten wir fest, dass unser Fahrer noch nicht zurück war. Wir beschlossen, auf dem Rastplatz der Tankstelle zu warten, auf dem bereits die beiden Farmarbeiter mit ihrem vollgeladenen Einkaufswagen standen. Wir gingen zu ihnen, setzten uns auf die Bordsteinkante und verteilten die Käsebrötchen. Sie schmeckten, wie sie aussahen: goldig gut. Kauend beobachteten wir die Menschen, die an uns vorbeiliefen. Die meisten von ihnen trugen kaputte Kleidung, die von Dreck, Schmutz und Staub überzogen war. Oft hingen sie wie Lappen über der Haut oder schleiften über den Boden. Passende Kleidung konnten sich wahrscheinlich nur die wenigsten leisten. Es herrschte in dieser Gegend wirklich viel Armut. Die vielen neidischen Blicke der Menschen beim Vorbeigehen auf unsere Einkaufstüten und Klamotten sorgten dafür, dass wir uns mit jeder Minute mehr schämten und fehl am Platz fühlten. Mit jeder Minute, die verging, sehnten wir uns mehr nach unserem Fahrer, von dem weit und breit noch immer nichts zu sehen war. Die halbe Stunde war bei Weitem schon vorbei. Wir waren mittlerweile bei einer Stunde.
„Alda, wo bleibt der Typ?“, sagte Jessi und tigerte genervt in ihrer schwarzen Hose auf und ab. „Halbe Stunde hat er gesagt. Halbe Stunde.“ Sie schüttelte den Kopf. In der letzten Stunde hatte sie bestimmt fünf bis sechs Zigaretten bis auf den Stängel niedergequalmt und aufgeraucht. Auch die zweite Red-Bull-Dose hatte sie längst geöffnet. Ein wenig erinnerte sie mich mit ihrer Nikotin-Koffein-Ernährung an meinen Kumpel Luis in Deutschland, mit dem ich zusammen die Bankausbildung gemacht hatte. Sein täglicher Brunch bestand nach dem Aufstehen aus Kippe und Kaffee, und Kippe und Red Bull auf dem Weg zur Arbeit. Und das als Landesligafußballprofi.
„So eine Kacke.“ Doch anders als er hatte Jessi gerade keine gute Laune und kein breites Lachen drauf. Erschöpft und angepisst von der Gesamtsituation kniete sie sich neben dem Einkaufswagen in die Hocke.
„Der kommt schon gleich“, versuchte Marlene sie zu besänftigen. Doch so sicher war sie sich auch nicht mehr. Diese ganze Warterei hinterließ bei jedem so seine Spuren. Während mir eigentlich nur warm war, konnte Jessi einem nur leidtun. Schlafmangel, lange Klamotten, die Hitze … Wie ein Häufchen Elend starrte sie auf den staubigen Boden. Ihren Aufenthalt in Afrika hatte sie sich bis jetzt bestimmt auch anders vorgestellt.
„Hey Jacqueline, äh Jessica …“ Ich biss mir auf die Lippen. Ich hatte sie jetzt nicht wirklich mit Jacqueline angesprochen, oder? Langsam hob sie ihren Kopf vom Boden. Sie schaute aus wie ein angeschlagener Boxer, der gerade auf die Bretter gegangen war und noch mal die zweite Luft bekam.
„Ey Alda.“ In ihrem Blick loderte das Feuer. Ich ahnte Böses.
„Alda, du hast mich nicht ernsthaft Jacqueline genannt, oder?“ Entsetzt schaute sie mich an. Entschuldigend formte ich meine Hände so, als ob ich beten wollte. Ich überlegte, ob ich nicht doch besser wegrennen sollte.
„Sorry, ich meine natürlich Jessica. Bin nicht so mit Namen hehe“
„Pass gut auf, Zilas“, sagte sie und hob lachend den mahnenden Finger in die Luft. Erleichtert pustete ich durch. Wenigstens lachte sie jetzt wieder. „Wie alt seid ihr eigentlich?“
„Ich bin 20, Marlene ist, glaube ich, 18 Jahre …“
„Was ist mit mir?“
„Du bist 18, oder?“ Sie nickte und schaute wieder auf ihr Handy. „Genau, Marlene ist 18 und er ist …?“ Fragend schaute ich zu McKenzie, der gerade seine Brille putzte und polierte.
„Hey McHänsi …“
„McKäääääänzie. My name is McKäääänzie.“
„Oh ja, stimmt, sorry McHääänsi. How old are you?“
„Twenty-four“ Er war nicht so der große Redner und saß wie im Bus die meiste Zeit eher still da. Er wunderte sich nicht, dass der Fahrer noch nicht zurück war. Im letzten Jahr war es genauso abgelaufen. Pause in Gobabis, Fahrer fährt weg, um Erledigungen zu machen, und taucht Stunden später wieder auf.
„Dreiunddreißig? Dreiunddreißig? Drei und drei?“ Schockiert schaute ich Jessi an. „Du bist niemals 33 Jahre alt.“
„Doch, doch, glaubt mir.“ Sie grinste.
„Beweis es!“, forderte ich sie auf. „Personalausweis, Reisepass oder Familien-Stammbaum- Egal.“
„Ist im Bus und Koffer. Kann ich dir nachher zeigen.“ Sie holte ihr Feuerzeug aus der Hosentasche und steckte sich eine neue Zigarette in den Mund. „Aber danke für das Kompliment.“ Sie pustete eine große Rauchwolke in die Luft und lächelte.
„Ich hätte dich auf 25, 26 geschätzt.“
„Ja ich auch“, sagte Marlene. „Du siehst nicht aus wie 33.“
„Nach diesem Urlaub schon. Ich bin, glaube ich, in den letzten Stunden schon um drei Jahre gealtert. Weiß gar nicht, wie ich die nächsten sechs Wochen schaffen soll. Ich bin jetzt schon fix und fertig.“ Ich schaute wieder Richtung Kreuzung. Immer wieder kamen weiße Busse vorbei, die unserem Bus vom Aussehen ziemlich nahekamen. Leider hatte jedoch keiner von ihnen einen Anhänger geladen. Die Chancen standen also nicht schlecht, dass wir die nächsten sechs Wochen hier verbringen mussten. Ohne Koffer und Wechselsachen, dafür aber mit reichlich Peanut-Butter, Ingwerkeksen und umgeben von wildfremden Menschen. Letztere näherten sich immer mehr unseren Sachen. Wir waren mit unseren vollen Einkaufstaschen das Thema in der Gegend. Auch jetzt kamen wieder drei Menschen auf uns zu und deuteten auf unsere Einkäufe.
„Go away!“, schrie der eine Farmarbeiter in ihre Richtung, um sie zu verscheuchen. Doch sie wollten nicht gehen. Erst als er vom Bürgersteig aufstand und mit Plastikflasche auf sie zuging, drehten sie sich von uns weg und suchten schnell das Weite. Kopfschüttelnd setzte sich der Farmarbeiter zurück auf den Bürgersteig und hob seine Zigarette vom Boden auf, die ihm durch das ruckartige plötzliche Aufspringen aus der Hand gefallen war. Er murmelte irgendwas vor sich hin und zündete sich die Zigarette wieder an.
„Also, ich hätte nichts dagegen, wenn der Fahrer jetzt langsam mal käme“, sagte Marlene. „Ich fühle mich richtig unwohl mit den ganzen Tüten. Wie auf dem Präsentierteller.“ Sie sprach aus, was jeder von uns dachte. Es reichte langsam. Auch wenn der Farmarbeiter sehr unfreundlich und unhöflich reagiert hatte, waren wir froh, dass wir nicht allein hier herumsaßen. Ich wollte nicht rausfinden, ob die drei Männer auch abgehauen wären, wenn McKenzie und ich mit einem Kampfgewicht von vielleicht 140 Kilogramm sie angeschrien hätten. Da hätte wohl Jessi allein mit ihren Augenringen schon mehr Erfolg gehabt.
„Go, go. Come on. Go away.“ Erneut hörte ich den Farmarbeiter rufen. Ich schaute zu ihm, um zu sehen, wenn er meinte. Er meinte nicht die drei Männer. Diese waren über alle Berge verschwunden. Ich entdeckte einen kleinen Jungen, der sich uns vorsichtig von der Seite näherte. Schüchtern zeigte er auf unsere Taschen. Seine Hose war an einem Bein komplett zerrissen, sein T-Shirt mindestens zwei Größen zu groß. Seine Füße waren vom hellen Staub ganz weiß gefärbt. Verzweifelt schaute er jeden von uns in die Augen und formte seine Lippen zu Wörtern.
„Go, go“, schrie der Farmarbeiter und warf einen kleinen Stein in seine Richtung. Der Junge wich reaktionsschnell aus. Ich merkte, wie er auf meine Cola-Dose schaute. Diese hatte ich in meiner Hand fast ganz vergessen. Sie war noch halb voll.
„Leute, ich glaube, der Junge hat Durst und möchte was trinken. Was soll ich machen?“ Hin und hergerissen schaute ich die Gesichter der anderen. Das Betteln des Jungen konnte ich nicht einfach ignorieren. Er musste ungefähr so alt sein wie mein Bruder.
„Musst du wissen“, sagte Jessica. „Wenn du möchtest, dann gib ihm was. Pass aber auf, dass das kein anderer mitbekommt. Dann wollen alle was haben.“ Ich schaute zum Jungen. Er machte eine trinkende Geste und zeigte dabei auf meine Flasche. Ich überlegte. Jessi hatte recht. Wenn die anderen Menschen mitbekommen würden, wie ich dem Jungen etwas abgab, dann sollte uns der Bus besser jetzt als gleich einsammeln. Mein Blick fiel auf einen Busch, der links von mir gute drei Meter entfernt war und mit ein paar Ästen zusammen wahrscheinlich so etwas wie ein Beet darstellen sollte. Ohne weiter unnötig nachzudenken, ging ich langsam Richtung Beet und machte beim Gehen mit der Cola ein paar Trinkbewegungen. Jeder, der mich jetzt beobachtete, sollte denken, dass ich gerade meine Flasche leer trank und wegschmeißen wollte. Langsam und vorsichtig, um nichts umzustoßen, stellte ich die halb volle Cola auf den Boden ab und ging wieder zurück zu den anderen. Sie hatten mir die ganze Zeit nachgeschaut. Ich setzte mich zu ihnen auf den Boden und machte eine leichte Kopfbewegung nach links zum Jungen. Er schaute mich abwartend an. Ich deutete auf die Dose und nickte. Er verstand und lächelte. Mit schnellen Schritten lief er zum Beet und hob die Cola vom Boden auf. Gierig trank er ein paar Schlucke und schaute sich dabei um. Keiner hatte ihn beim Trinken bemerkt. Er nickte mir zu und lief eilig davon. So schnell, wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Ich schaute ihm noch eine Weile nachdenklich nach.
„Hast du gut gemacht, Zilas.“ Jessi klopfte mir auf die Schulter. „Hast dem Kleinen eine Freude gemacht. Sehr gut.“
„Ich hoffe.“ Ich lächelte ihr zu. „Ich hoffe …“
„1080 Eier. 1080. Ernsthaft?“ Kopfschüttelnd zählte Jessi die Pakete noch mal nach, die im Bus zwischen den Sitzreihen auf dem Boden standen und den Durchgang versperrten. „Rechnet mal bitte mit, Freunde. Ich glaub das einfach nicht.“ Ich lehnte mich in den Gang, um besser zählen zu können.
„Wir haben sechs Pakete. Jedes Paket hat sechs Paletten. Jede Platte hat eins, zwei, drei … jede Platte hat fünfundzwanzig, ne, Quatsch, sind sechs Reihen, dreißig Eier. 30 Eier mal 6 Paletten mal 6 Pakete sind?“
„1080“, sagte ich. „180 mal 6. 100 mal sechs ist 600. 80 mal 6 sind 480. 600 plus 480 macht 1080.“ Ich lachte.
„Ja, 1080 ist richtig.“ Marlene kam mit anderer Formel und Rechnung auf das gleiche Ergebnis. Jessi schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Sagt mir bitte nicht, dass ich mir wegen 1080 Eiern zwei Stunden lang in der Hitze einen weggeschwitzt habe in der Hose? Bitte nicht.“ Ich hätte ihr gerne etwas anderes gesagt. Doch es war wahr. Wir hatten zwei Stunden auf dem Parkplatz gewartet. Wegen 1080 Eiern. Es macht einfach keinen Sinn. Als ich die ersten Eier-Kartons zum ersten Mal im Gang sah, schossen mir gleich mehrere Fragen durch den Kopf:
Warum 1080 Eier? Warum? Verstehen sie Spaß? Hier in Namibia? Quatsch. Wo soll denn bitte die versteckte Kamera sein? Könnte das da eine sein? Expect the unexpected. Als ob 1080 Eier wirklich für unexpected stehen? Niemals. Und wieso lacht McHänsi gerade so dreckig hinter mir? Hat er was damit zu tun? Wusste er davon? Heißt er jetzt eigentlich McHänsi oder McKäääänzie? Und warum kauft er bitte zwei große Gläser Erdnussbutter und kein Brot dazu? Silas, du schweifst ab ...
Ich schüttelte den Kopf. Auf all die vielen Fragen fand ich spontan keine Antworten, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mit großen Schritten vorsichtig über die Pakete zu steigen und mich auf meinen Platz zu schwingen. Die anderen taten es mir gleich und stolperten ebenfalls über die Pakete zu ihren Plätzen. So verrückt diese ganze Geschichte mit den Eiern auch war, irgendwie war es auch witzig. Ich schaute von meinem Platz zurück zu Jessi. Seufzend ließ sie sich in ihren Sitz fallen und blickte erschöpft aus dem Fenster. Mit ein bisschen Abstand und einer kurzen Hose würde hoffentlich auch sie bald über die Zahl 1080 lachen können …
BRUTUS, JACOBI UND GUMBI
(CHAPTER SIX)
Der Staub rieselte von der Decke und wirbelte durch den ganzen Bus. Steine schlugen mit lautem Knall von draußen gegen die Fenster und hinterließen große Macken in der Scheibe. Der Sitz vor mir bebte und zitterte. Nur die Bodenhalterung mit den drei Schrauben verhinderte, dass er mit uns durch die Luft flog. Vor gut zehn Minuten hatten wir die ruhige asphaltierte Straße verlassen und waren auf einen Schotterweg eingebogen. Über Schlaglöcher und faustgroße Steine bretterten wir jetzt mit guten siebzig Sachen hinweg. Immer wieder wechselte unser Fahrer die Spur und fuhr zeitweise nach europäischer Straßenverkehrsordnung auf der rechten Fahrbahn. Gegenverkehr gab es nicht und wenn doch, dann konnte man ihn in der Ferne schon Minuten vorher erkennen. Beziehungsweise eine näherkommende graue Staubwolke, der man dann rechtzeitig ausweichen konnte. Ich drehte mich um in die letzte Reihe. Unser Anhänger war noch da. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet. Mit seiner nicht vorhandenen Federung hüpfte er die ganze Zeit auf der steinigen Offroad-Straße hinter dem Bus her. Sonderlich glücklich hörte sich seine Radachse dabei nicht an.
Rums. Ein Eierkarton war vorne gegen die Fahrerkabine gerauscht. Ein weiterer machte sich gerade von Jessis Sitzreihe auf dem Weg, es ihm gleichzutun. Ich klammerte mich an den Haltegriff vor mir und hielt mit den Beinen meine Tasche fest. Wo war eigentlich meine Jacke? Ich suchte den ganzen Boden ab, bis ich sie schließlich fand. Sie war auf dem Weg nach vorne einem Eierkarton in die Quere gekommen und bildete dort so etwas wie einen Staudamm. Ganz verstaubt und verdreckt sah sie aus. Es graute mir schon vorm Saubermachen.
Ein lauter Knall, gefolgt von McKenzies Lachen, ertönte und schreckte uns alle auf.
„Oh fuck“, sagte er lachend. „I think we gonna die, haha.“
„Ob wir die Fahrt überleben, weiß ich nicht, aber die Eier werden es auf jeden Fall nicht schaffen, wenn das hier so lange noch so weitergeht.“ Die 1080 Eier hatten sich gerade von meiner Jacke verabschiedet und rauschten gegen einen weiteren Karton.
„Jetzt weiß ich auch, warum er so viele Eier gekauft hat.“ Jessi schaute mich fragend an. Die Sache mit den Eiern hatte ihr echt den Stecker gezogen.
„Ja, weil nur zehn Prozent heil auf der Farm ankommen.“
„Das stimmt.“ Sie lachte. „Wenn überhaupt.“
„Dann gibt es heute Abend halt Rührei“, sagte Marlene freudig. „Gibt Schlechteres.“
Salz und Pfeffer hätten wir ganz sicher nicht mehr gebraucht. Der Staub wirbelte nur so durch die Luft. Ich hustete und trank danach ein wenig Wasser aus meiner Flasche. Meine Kehle war durch die staubige Luft ganz trocken geworden.
„Meint ihr, wir brauchen noch lange?“, fragte Marlene und schaute auf ihre Uhr.
„Keine Ahnung. Wie spät ist es eigentlich?“ Ich hatte gar kein Zeitgefühl mehr.
„Du hast doch selber eine Uhr …“
„Oh stimmt ja.“ Um meinen Orientierungssinn schien es durch das ganze Gerüttel auch nicht mehr so gut zu stehen. „Was, halb sechs?“ Ungläubig starrte ich auf meinen Arm. „Marlene, weißt du noch, wie ich am Morgen gehofft hatte, dass wir zum Mittagessen pünktlich auf der Farm ankommen?“ Sie lachte und nickte mit dem Kopf.
„Könnte knapp werden mit dem Essen, wenn du mich fragst.“ Ich gab ihr recht. Von nun an ging es nur noch darum, wenigstens zum Abendessen pünktlich anzukommen. Die Käsebrötchen waren bei den ganzen Schlaglöchern längst verdaut, sodass ich einer richtigen Mahlzeit mehr als offen gegenüberstand. Den anderen ging es nicht anders. Nur bei McKenzie war ich mir nicht ganz sicher. Manchmal lachte er plötzlich und murmelte in der Folge irgendwelche Sätze vor sich hin. Fünf Minuten später war er wieder am Schlafen oder machte irgendwelche Dehnbewegungen für seinen Nacken und Rücken. So richtig wurde ich aus seinem Verhalten nicht schlau.
Wir passierten ein großes Tor auf der linken Seite und fuhren weiter durch den Busch. Begleitet wurden wir von einem Zaun, der mich an die Serie erinnerte, die ich vor Jahren im Fernsehen gesehen hatte. Aufmerksam versuchte ich, Tiere zu erkennen, die sich vielleicht dahinter im Gebüsch versteckten. Ich war mir nicht sicher, aber manchmal schien ich mir einzubilden, etwas im Busch gesehen zu haben. Jessi, Marlene und McKenzie taten es mir gleich und scannten mit ihren Augen die Landschaft hinter dem Zaun.
„Hä?“ McKenzie drehte sich überrascht zu Jessi. Jessi musste mehrmals schnipsen, bis er reagierte. Er war wieder am Träumen gewesen.
„What do you think? When will we arrive?“
„Well, I think …“, überlegte er. „Maybe twenty minutes. I guess.“ Wir erreichten ein weiteres Gatter. Auf ihm stand auf einem Schild geschrieben: „10 Kilometers.“ McKenzie lag mit seiner Vermutung gar nicht mal so falsch. Zwanzig Minuten konnte bei dem Tempo gut hinkommen. Wir fuhren mit vielleicht zwanzig Stundenkilometer zwischen den beiden Zäunen her. Die Straße war an einigen Stellen nicht allzu breit. Aufgeregt zählte ich die Minuten runter und versuchte mich an die Folge zu erinnern, in der Volontäre mit einem etwas kleineren, robusteren Bus die Farm erreichten und von den anderen empfangen wurden. Ich meinte, dass in der Folge ein grünes Haus vorkam.
„Leute, ich glaube, wir sind da“, sagte Marlene plötzlich. „Guckt mal: Da steht so ein grünes Haus. Da zwischen den Bäumen.“
„Wo?“ Gespannt schaute ich aus dem Fenster. Leider verdeckte gerade ein Dornenbusch die Sicht. „Ich sehe nichts.“
„Ich auch nicht.“
„Ja, wartet. Gleich müsstet ihr es sehen. Da …“ Jetzt sah ich es auch. Ohne Brille konnte man das gut getarnte Haus gar nicht erkennen. Kein Wunder, dass Marlene im Vorteil war und es zuerst sah. Umringt von Büschen stand es direkt unter einem großen Baum, dessen Äste fast bis zum Boden hingen. Es sah wirklich genauso aus wie in der Serie. Wir parkten wenige Meter vom Gebäude entfernt. Erst von Nahem fiel mir auf, dass das Gebäude keine Türen und Fenster hatte. „Hey Rico.“ McKenzie schien es nicht großartig zu interessieren, dass das Haus keine Fenster hatte. Wie aus dem Nichts sprang er plötzlich von seinem Platz auf und hämmerte seine Faust gegen die Fensterscheibe. Es fehlten nur Millimeter und er wäre volle Kanne gegen die niedrige Decke des Busses gedonnert.
„Hey Rico. Rico. What´s up, määäään? Hey Rico, haha.“ Euphorisch griff er im Stehen nach seinem Rucksack und sprang wie ein energiegeladener Flummi über die 1080 Eier. „Yeah. Rico haha.“
Er hörte gar nicht mehr auf mit seinen Rico-Rufen. Vielleicht war er bei einem großen Schlagloch doch gegen die Decke gekommen. Wir stiegen über die Eier-Kartons und folgten ihm nach draußen.
„Silas, schau, der Strauß dahinten.“ Jessi hatte zuerst herausgefunden, wen McKenzie so überschwänglich begrüßte. Sie zeigte auf einen Strauß, der gerade über die Wiese an zwei grasenden Gnus vorbei sprintete.
„Hey Rico. Why are you running? Stop it!“ Bei McKenzies Rufen hätte ich wahrscheinlich auch die Flucht ergriffen. Neugierig schaute ich mich in der Gegend um. Bis auf den panisch, flüchtenden Strauß hatte sie noch viel mehr zu bieten. Vom grünen Gebäude aus hatte man einen super Blick auf eine Wasserstelle, die gute zweihundert Meter von uns entfernt in der grünen Graslandschaft lag. An ihr versammelten sich gerade mehre Antilopen und Springböcke, die vom Lärm irritiert in unsere Richtung starrten. Mein Blick fiel auf einen Pool, der mir beim Aussteigen noch gar nicht aufgefallen war. Auf seiner Wasseroberfläche schwammen mehrere tote Motten, wenn sie nicht im Kies neben dem Pool lagen. Um den Pool standen mehrere Holzliegen bereit, wobei eine ziemlich kaputt und ramponiert aussah.
„Ich weiß schon, wo ich meine Freizeit in den nächsten vier Wochen verbringen werde.“
„Ich weiß es auch“, grinste Marlene.
„Wir brauchen nur so was wie einen Kescher. Ich sehe das Wasser vor lauter Motten nicht.“ Glücklicherweise lag direkt neben den Treppenstufen einer.
„Hey, guckt mal, Leute, da kommen zwei auf uns zu.“ Jessi hatte ein Mädchen und ein Junge entdeckt, die hinter einem Dornenbusch aufgetaucht waren. Auf einem schmalen Weg, der vorbei am Dornenbusch mitten aus dem Busch zum Gebäude führte, liefen sie in unsere Richtung. Sie lächelten von Weitem.
„Hey, guys, nice to meet you. My name is Anna and that is Joschka.“
„Hi.“
„Can we help you with your baggage?“ Anna hatte blonde lange Haare und erinnerte mich vom Aussehen ein wenig an meine Schwester. Sie hatte einen richtigen Lockenkopf. Joschkas Haare waren dagegen ein wenig kürzer als ihre. Um einiges kürzer. Ich überlegte, ob mir sein Maschinenkurzhaarschnitt auch stehen würde, ließ den Gedanken jedoch schnell fallen, auch wenn kurz geschorene Haare bei den Temperaturen in Namibia sicherlich keine allzu schlechte Idee waren. Beide kamen wie ich aus Deutschland. Dankend nahmen wir ihre Hilfe an. Bei unseren ganzen Koffern, Taschen und Jacken konnten wir gut Hilfe beim Tragen gebrauchen. Vor allem McKenzie brauchte bei seinem XXL-Koffer Hilfe, den er kaum durch den ganzen Sand geschoben bekam. Voll bepackt folgten wir Anna und Joschka ins Gebäude. Im Inneren standen überall Holzbänke und Tische mit Soßen und Gewürzflaschen bereit.
„Hier essen wir immer zu Mittag und verbringen unsere Pausen. Wir haben hier sogar einen Kiosk, wo ihr Kaltgetränke und Chips kaufen könnt“, sagt Anna und deutete auf einen Tresen, hinter dem ein Kühlschrank mit Cola- und Fanta-Dosen stand.
„Is Hermän still the barkeepär?“, fragte McKenzie neugierig.
„Yes, haha“, lachte Joschka. „Why do you know him?“
„Well, it is my fourth time here. Last year I always ordered juice by him. What is with crazy Ädlin? Is he still coordinator on the farm?“
„Whaat, your fourth time?“ Joschka schaute ihn mit großen Augen an. „Sick. Yes he is …“ McKenzie grinste zufrieden. Wir setzten uns auf eine Bank, die direkt am Eingang stand. Von da aus ließ ich meinen Blick im Raum umherschweifen. Der Boden war mit Kieselsteinen bedeckt, während an den Wänden Bilder von ehemaligen Volontären hingen, die gemeinsam mit Affen auf den Schultern in die Kamera lachten. Oben an der Decke sah man mehrere Handabdrücke, die in den unterschiedlichsten Farben und Größen zu uns runterwinkten.
„Wie viele Volontäre sind momentan hier auf der Farm?“, fragte Jessi beim Anblick der Bilder.
Anna schaute Joschka fragend an, der bereits am Zählen war.
„Was meinst du? Wie viele sind wir momentan? Zwanzig, oder?“
„Kommt ungefähr hin. Neunzehn, zwanzig müssten wir etwa sein.“
„Und wo sind die alle?“, fragte Marlene. Bis auf Rico waren Anna und Joschka die einzigen Zweibeiner, die wir bisher gesehen hatten.
„Die sind auf der Farm und warten schon gespannt auf euch“, sagte Anna. „Ihr werdet sie beim Abendessen gleich alle kennenlernen.“ Abendessen klang gut, dachte ich mir und zwinkerte Marlene zu. „Wir warten jetzt hier noch auf Dossie. Dossie ist Headcoordinator auf der Farm und verantwortlich für alle Volontäre.“ McKenzies Augen fingen an zu leuchten.
„You know Dossie, right?“ McKenzie nickte.
„Ihr werdet sie auch mögen“, versprach uns Anna. „Genau, was ich euch noch sagen wollte. Dossie wird es euch wahrscheinlich gleich auch noch ans Herz legen. Die meisten Volontäre sprechen deutsch, jedoch gibt es auch ein paar, die kein Deutsch verstehen. Deswegen unterhaltet euch am besten auf Englisch, damit die anderen nicht ausgeschlossen werden.“ Sie schaute zu McKenzie. „I told them that we have to speak in English. Not all people understand German …“
„Oh, I know the rule, but in the last years the rule did not work very successful. The most people spoke German. I do not care.“ McKenzie zuckte lachend mit den Schultern. Wie sich in den nächsten Wochen herausstellte, mussten Anna und Dossie mehrmals die Englisch-Regeln vor allen wiederholen und uns ins Gewissen reden.
„Look, Dossie is coming.“ Wir schauten nach draußen zum Pool, an dem Dossie gerade vorbeiging. Mit einem großen Lächeln begrüßte sie uns wenig später herzlich in der Tür.