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Ludmila – 1939-1945
Tatjanas Familie lebte relativ gut bis zum Jahr 1939. Als sie im Radio hörte, dass England nach dem Einmarsch der Nazis in Polen und dem abgelaufenen Ultimatum Hitlerdeutschland den Krieg erklärt hatte, begriff sie intuitiv, dass dieser Krieg nicht nur England und Deutschland, sondern alle europäischen Länder erfassen würde.
Wenn sie mit Ivan darüber sprach, beruhigte er sie. »Du weißt doch, dass es den Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin gibt – und Hitler wird es nicht wagen, diesen zu brechen.«
Tatjana dachte anders. Der deutsche Tyrann, von dem sie nur die Stimme kannte, wirkte ganz und gar nicht vertrauenswürdig auf sie und sie konnte sich gut vorstellen, dass er seine Meinung von einem Tag auf den anderen ändern würde, wenn es in seine Machtpläne hineinpasste.
1941 war es dann so weit. Das Unfassbare – das, was viele Menschen nicht hatten glauben wollen –, geschah. Hitler erklärte Russland den Krieg. Die wolgadeutsche Republik, die 1918 gegründet worden war und etwa 600.000 Einwohner hatte, wovon etwa zwei Drittel deutscher Abstammung waren, wurde aufgelöst. Am 18. August 1941 wurden die im Wolgagebiet lebenden Deutschen zu Staatsfeinden erklärt. In den Monaten danach wurden die etwa 400.000 verbliebenen Wolgadeutschen der kollektiven Kollaboration beschuldigt und nach Sibirien und Zentralasien deportiert und dort in Arbeitslager gezwungen. Tausende von Menschen starben.
Auch Tatjana blieb dieses Schicksal nicht erspart. Sie wurde in ein Arbeitslager deportiert, Ivan wurde als Kulak erschossen, ihre Kinder – die drei erwachsenen Mädchen und die knapp fünfzehnjährige Ludmila – blieben sich selbst überlassen. Ihr Haus wurde kurz darauf beschlagnahmt, die vier Schwestern in den Wald gejagt. Dort bauten sie sich eine Erdhütte, in der sie notdürftig hausten. Es gab nichts zu essen. Aber für sie war all das besser, als nach Kasachstan oder Sibirien vertrieben zu werden. Stets lebten die Schwestern in der Angst, dass dieses Schicksal sie doch noch ereilen würde.
Es vergingen Monate, ohne von den Behörden behelligt zu werden. Sie waren den ganzen Tag damit beschäftigt, irgendwo Lebensmittel zu ergattern, obwohl dies unter strengster Strafandrohung verboten war. Und eines Tages passierte es dann. Ludmila war am Markttag im Dorf und kam an einem Obststand vorbei. Sie wollte unauffällig zwei Äpfel mitnehmen, aber die Besitzerin des Standes hatte sie gesehen und schrie: »Polizei, Diebstahl!«
Ludmila versuchte zu entkommen, aber es gelang ihr nicht. Zwei bis an die Zähne bewaffnete Soldaten ergriffen sie und steckten sie ins Gefängnis. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen, doch ihr entkräfteter, halb verhungerter Körper hatte nicht mehr genug Energie.
Als sie mit anderen Gefangenen zusammen in der dunklen, feuchten Zelle saß, dachte sie, dass ihr Leben nun zu Ende sei. Es war schrecklich, dort zu sein, aber dennoch war es wärmer als in dem Erdloch, in dem sie mit ihren Schwestern wohnte. Sie wusste nicht, wo ihre Mutter war, sie wusste nicht, welches Schicksal ihre Schwestern ereilt hatte und ob sie überhaupt noch lebten, sie wusste nur, dass sie diesen Tag überleben wollte und dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als lebend aus dem Gefängnis herauszukommen.
Nach ein paar Tagen ließ der Gefängniswärter alle deutschen Gefängnisinsassen aus ihren Zellen holen. Sie wurden auf einen Transporter verladen. Als Ludmila sich, eingezwängt zwischen zitternden und weinenden Menschen, auf dem Laster wiederfand, wusste sie genau, was das bedeutete: die Zwangsdeportation nach Sibirien oder Kasachstan – dorthin, wo sich wahrscheinlich auch ihre Mutter befand. Aber sie war noch nicht bereit aufzugeben. Sie dachte: »Wenn sich eine Gelegenheit bietet, verschwinde ich.«
Ein paar Minuten später setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Am ersten Tag waren sie stundenlang unterwegs. Es gab nur wenige und kurze Pausen, in denen sie von russischen Soldaten mit Maschinengewehren bewacht wurden. Ein Entkommen war unmöglich.
Nach ein paar Tagen Fahrt änderten sich Landschaft und Temperatur zusehends. Es wurde viel kälter, obwohl es erst September war, und es sah immer eintöniger aus. Die Menschen wurden stiller und stiller. Drei hatten sie bereits verloren. Schwerkranke und Sterbende wurden einfach aus dem Laster geworfen, am Straßenrand liegen gelassen und ihrem Schicksal überlassen.
Es gab einige unter den Deportierten, die husteten oder völlig in sich zusammengefallen waren. Ludmila hatte zwar großes Mitgefühl mit den Erkrankten, die ohne Medikamente, Nahrung und Zuwendung auskommen mussten, gleichzeitig hoffte sie aber inständig, dass sie sich nicht anstecken würde. Angesichts der herrschenden Temperaturen, die sich immer mehr in Richtung Null-Grad-Marke bewegten, war sie nur spärlich bekleidet.
Einige Tage später machten sie wieder Pause. Die russischen Soldaten, die sie bewachten, waren in ein nahegelegenes Wirtshaus eingekehrt, aus dem Ludmila lautes Lachen und Zuprosten hörte. Sie wusste, dass der Wodka in Strömen floss. Nahe dem Tross stand zwar noch ein Wächter, aber dieser war in eine Unterhaltung mit einem Kollegen aus dem Ort vertieft und sie dachte: »Jetzt oder nie.«
Die Dämmerung nutzend, entfernte sie sich langsam vom Tross. Vorsichtig tat sie einen Schritt nach dem anderen, immer in der Erwartung, im nächsten Moment den Lauf eines Maschinengewehrs auf sich gerichtet zu sehen, aber nichts geschah. Mit laut klopfendem Herzen schaffte sie es bis in das nahe gelegene Wäldchen. Dann begann sie zu rennen, bis sie nicht mehr konnte. Sie lehnte sich an einen Baum und hielt sich die Seite. In ihrem Inneren wechselten sich Angst und Hoffnung in schneller Reihenfolge ab. Als sie nichts hörte außer dem kalten Wind, der ihr um die Ohren pfiff, begann sie langsam zu begreifen, dass sie entkommen war.
Sie hoffte, ihr Verschwinden würde erst am nächsten Morgen bemerkt werden oder vielleicht sogar erst am darauffolgenden Tag, und sie dachte bei sich, dass es am besten wäre, unsichtbar zu sein. Gleichzeitig wusste sie, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Es war eisig, aber sie spürte die Kälte nicht. Sie war ganz von dem Gedanken beherrscht: »Ich muss überleben.«
Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand, aber der Winter stand kurz bevor und sie musste wieder zurück in südliche Richtung. Als sie so schnell es ihr ausgezehrter Körper zuließ in Richtung Wald rannte, schwankte sie wieder zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Sie lief etwa zwei Stunden, dann war es völlig dunkel. Sie suchte sich einen Platz zum Schlafen im Schutz eines großen Baumes. Trotz der Kälte schaffte sie es einzuschlafen. Erst am nächsten Morgen wachte sie mit steif gefrorenen Knochen wieder auf.
Sie setzte ihre Wanderung fort und nach weiteren zwei Stunden sah sie aus der Ferne Männer, die aussahen wie deutsche Soldaten. Sie hielt sich versteckt und beobachtete, was vor sich ging. Die Männer brachten verletzte Kameraden zu einem Zelt mit einem großen roten Kreuz. Es musste sich wohl um ein deutsches Lazarett handeln. Sie blieb noch eine Weile auf ihrem Beobachtungsposten und plötzlich wusste sie: »Das ist meine Chance.«
Ihre Mutter hatte Nachbarn und Verwandten oft mit krankenschwesterlicher Hilfe zur Seite gestanden und Ludmila hatte immer zugeschaut. Außerdem sprach sie akzentfreies Deutsch. Wenn sie es schaffte, den Leiter des Lazaretts davon zu überzeugen, dass sie Deutsche war, die sich auf der Flucht vor der russischen Miliz befand, und dass ihre Dienste in dem Lazarett gebraucht werden könnten, war ihr Überleben für die nächsten Wochen gesichert.
Sie hatte allerdings keine Papiere dabei. Diese waren ihr von den russischen Soldaten, die sie auf den Transporter verladen hatten, abgenommen worden. Ludmila straffte sich und dachte: »Ich muss es einfach versuchen.«
Vorsichtig näherte sie sich dem Lazarett. Dort herrschte reges Treiben. Gerade trat ein Offizier in Naziuniform aus dem Zelt. Ludmila stellte sich vor ihn hin. Sie zitterte, denn sie wusste, sie wäre verloren, wenn etwas schiefginge.
Der Mann blickte die abgemagerte Gestalt überrascht an. Bevor er auch nur einen Ton sagen oder sie wegschicken konnte, stieß sie mit gepresster Stimme hervor: »Sie müssen mir helfen. Bitte schicken Sie mich nicht weg. Ich bin Wolgadeutsche. Ich sollte nach Sibirien deportiert werden, aber ich bin unterwegs geflohen. Ich bin Krankenschwester und kann Ihnen im Lazarett helfen.«
Sie hatte schnell und abgehackt gesprochen. Ihr Herz pochte wild, als sie auf die Antwort des Offiziers wartete.
Der Mann musterte sie kalt. »Papiere?«, fragte er knapp. Ludmila schüttelte den Kopf. »Unsere Papiere haben die russischen Soldaten konfisziert, die uns abtransportiert haben.«
Sie konnte sehen, wie der Uniformierte abwog, ob Ludmila ihnen nützlich sein könnte oder Ärger bringen würde. Er stand wohl sehr unter Druck und sie sah, wie gerade wieder einige Schwerverletzte in das Zelt gebracht wurden. Hier konnte jede helfende Hand gebraucht werden. Er zögerte noch eine Minute, dann sagte er: »Gehen Sie zu Dr. Schmidt und teilen Sie ihm mit, dass sie ab sofort als Krankenschwester hier arbeiten. Wenn er Fragen hat, soll er zu mir kommen.«
Ludmila schlug das Herz vor Aufregung und vor Freude bis zum Hals. »Danke«, erwiderte sie leise, »Sie sollen Ihre Entscheidung nicht bereuen.«
Dann betrat sie das Zelt. Als sie im Innenraum war, konnte sie das Ausmaß des Schreckens erst richtig sehen. Es roch nach Blut, Eiter und Krankheit und überall war das leise Stöhnen der Verwundeten und Schwerverwundeten zu hören. Sie hatte zwar schon einige kranke Menschen in ihrem Leben gesehen, aber das überwältigende Leid dieser Männer ließ sie fast erstarren.
Es gab nur zwei Krankenschwestern und einen Arzt für etwa dreißig Verwundete. Sie sah sich um. Am anderen Ende des Raumes erblickte sie einen erschöpft aussehenden Mann, der wohl Dr. Schmidt sein musste. Sie näherte sich ihm mit vorsichtigen Schritten. Je näher sie kam, desto mehr nahm sie wahr, wie müde der Mann war. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und sie dachte, dass er wahrscheinlich schon mehr Leid gesehen hatte, als ein Mensch ertragen konnte.
Sie trat zu ihm und sagte: »Ich bin Deutsche und heiße Ludmila Wagner. Ich werde ab sofort als Krankenschwester für Sie arbeiten.«
Sie sah, wie ihm Fragen durch den Kopf schossen, die in dieser Situation aber einfach keinerlei Relevanz mehr hatten. Er nickte und sagte: »Gehen Sie zu Schwester Hildegard, sie soll Ihnen die wichtigsten Dinge zeigen.« Mit diesen Worten wies er auf eine robust und energisch wirkende Schwester, die gerade dabei war, sich um einen Mann mit einer Kopfverletzung zu kümmern, der leise vor sich hin wimmerte.
Die Schwester zeigte ihr, wo die Medikamente und das Verbandsmaterial waren, erklärte ihr in wenigen Worten die Verletzungen der einzelnen Männer und wie sie versorgt werden mussten. Ludmila hörte aufmerksam zu und dachte: »Ich muss mir alles merken und ich darf keinen Fehler machen. Sie dürfen auf keinen Fall merken, dass ich gar keine ausgebildete Krankenschwester bin.«
Sie versuchte sich alle Kenntnisse und Handgriffe, die sie von ihrer Mutter abgeschaut hatte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, während sie sich die Uniform, die Schwester Hildegard ihr gegeben hatte, anzog.
Dann begann sie langsam mit der Versorgung der Kranken, so wie die Schwester es ihr gesagt hatte. Es ging alles gut und stündlich kamen neue Verwundete im Lazarett an. Am Abend sagte Dr. Schmidt zu ihr: »Gute Arbeit, Schwester Ludmila. Essen Sie etwas und ruhen Sie sich aus.«
Erst in dem Moment bemerkte Ludmila den quälenden Hunger, den sie den ganzen Tag nicht gespürt hatte. Sie zog sich um, wusch sich und ließ sich dann an dem Tisch nieder, an dem bereits der Arzt, die zwei Schwestern und zwei Soldaten Platz genommen hatten.
Der Offizier, der ihr das Leben gerettet hatte, betrat soeben das Zelt und nahm ebenfalls am Tisch Platz. Ludmilas Herz klopfte und sie hoffte, er würde ihr keine Fragen stellen. Aber er schien andere Sorgen zu haben. Schweigend aß er die Suppe und das Brot. Dann stand er wieder auf und verließ mit einem Gute-Nacht-Gruß das Zelt. Sie atmete erleichtert auf.
Auch am nächsten Tag kamen noch mehr Verwundete in das Lazarett. Sie hatten alle Hände voll zu tun. Ludmila tat, was sie konnte, und Dr. Schmidts Blicke verrieten ihr, dass er mit ihrer Arbeit zufrieden war.
In den nächsten Wochen wurde sie zu einer unentbehrlichen Stütze für den Arzt. Manchmal, wenn sie abends nach dem Essen noch ein wenig zusammensaßen, war sie versucht, ihm ihre Geschichte zu erzählen, aber irgendetwas hielt sie immer davon ab. Sie war froh, dass sie überlebt hatte, und sie fühlte eine solch tiefe Dankbarkeit dem Offizier und dem Arzt gegenüber, dass sie über sich selbst hinauswuchs.
Sarah – Juli 1972
Sie stand am Fuß der Treppe ihres Elternhauses. Es war ein Sonntag. Ihre Adoptivmutter hatte an dem Tag viel getrunken und diverse Tabletten geschluckt. Sie war im Ausnahmezustand. Sarah wusste, dass es besser war, ihr in diesem Zustand so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Ihr Adoptivvater war zu Hause. Er lief hilflos treppauf, treppab und frönte seinem Zwang, Flusen vom Teppich aufzulesen und diese in den Mülleimer zu werfen. Wenn er alle Teppiche ›entflust‹ hatte, fing er wieder von vorne an. So konnte er Stunden zubringen. Die kleine Sarah hatte das schon oft gesehen, ohne wirklich zu verstehen, was in ihrem Vater vorging.
Er murmelte ab und zu etwas wie: »Was soll ich nur mit der Liselotte machen? Warum regt sie sich immer so auf?« Sarah versuchte, sich möglichst still und unauffällig zu verhalten, denn wenn sie ihm im Weg war, konnte er durchaus einmal ausrasten und die wohl latent in ihm vorhandene Wut entlud sich auf ihr. Das war nicht spaßig. Er schlug sie zwar nicht, aber er schrie sie dermaßen aggressiv an, dass sich seine Worte wie Schläge anfühlten.
In solchen Situationen versuchte sie stets, sich ganz klein zu machen. Sie bewegte sich dann möglichst lautlos und wünschte sich die ganze Zeit über inständig, bloß nicht von ihnen gesehen zu werden. Gesehen zu werden konnte in diesen Momenten äußerst unangenehme Folgen haben wobei das Angeschrienwerden noch zu den geringsten zählte.
Voller Angst ging sie in ihr Zimmer. Am liebsten hätte sie ihre Ohren verschlossen, denn sie konnte das Weinen und Schreien ihrer Adoptivmutter nicht mehr ertragen und auch nicht mehr das hilflose Treppauf-Treppab ihres Vaters. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie mit ihren Puppen spielte, aber es gelang ihr nicht. Dann hörte sie den Schrei ihrer Mutter: »Heiner, bring das Kind um oder ich bringe mich um!« Sie erstarrte.
Sie nahm wahr, wie Heiner auf Liselotte einredete: »So beruhige dich doch, das Kind hört doch alles mit.« Dies war ihrer Mutter egal. Wenn sie sich im Ausnahmezustand befand, gab es kein ›Kind‹ mehr für sie. Dann war sie ganz in ihrer eigenen, verrückten Welt.
Im nächsten Moment hörte sie, wie ihre Mutter ihren Vater erneut anbrüllte: »Du bist an allem schuld! Würdest du mehr Geld verdienen, dann hätten wir ein besseres Leben und ich müsste nicht dauernd sparen und mich vor den Nachbarn schämen!«
Sarah hörte, wie ihr Vater nun schneller treppauf und treppab lief und die Flusen immer hektischer aufhob – ein Zeichen dafür, dass sich seine Aufregung und seine Hilflosigkeit steigerten. Dann betrat er vorsichtig ihr Zimmer. Er scharrte mit den Füßen, um den Teppich gerade zu legen und begann dann langsam, Fluse für Fluse aufzulesen. Sie fühlte in solchen Momenten eine Mischung aus Mitleid, Scham und Ärger. Und an diesem Tag kam noch die Angst hinzu. Ihr Bauch krampfte. Er sagte leise zu ihr: »Sarah, kannst du bitte etwas tun, um die Mama wieder zu beruhigen?«
Sie sah die Hilflosigkeit in seinen Augen und in dem Moment riss sie sich zusammen und merkte, wie etwas mit ihr passierte. Ihr Vater sah so bemitleidenswert aus, dass sie sich bemühte, erwachsen zu sein, während er immer mehr in sich zusammenfiel. Es war so, als wäre er plötzlich das Kind und sie die Mutter. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, denn eigentlich hatte sie sehr große Angst, aber irgendwie schaffte sie es, diese Angst tief in ihrem Bauch einzuschließen. Sie straffte sich und ging langsam aus dem Zimmer.
Als sie die Treppe herunterkam, sah sie ihre Mutter mit rotem, verweintem Gesicht und einer Packung Tabletten in der Hand. Als sie Sarah erblickte, schrie sie: »Die nehme ich jetzt alle. Ich will nicht mehr leben und ich will euch nicht mehr sehen. Ich hasse euch!« Sarah begann zu zittern, aber sie bemühte sich dennoch, stark zu bleiben. Hinter sich hörte sie ihren Vater. Er sagte leise: »Tu was, Sarah, damit sich deine Mutter nicht umbringt. Bettele sie an, dass sie es nicht tut.«
Sie war verwirrt. Jedes falsche Wort konnte die Katastrophe auslösen. Schließlich sagte sie: »Mama, bitte tu es nicht«, woraufhin Liselotte laut aufschluchzte. Sie schaute Sarah an und schrie: »Wenn dein Vater mehr Geld verdienen würde, hätten wir diese Probleme nicht. Er ist an allem schuld!« Sie hatte einen irren Blick in jenem Moment und Sarah erschauerte. Dann sagte sie, immer noch mit demselben Blick in den Augen: »Ich nehme jetzt die Tabletten. Mir reicht es. Ich will euch nicht mehr.«
Sarah spürte einen leichten Schmerz in der Herzgegend und hörte ihren Vater sagen: »Sarah, knie nieder vor deiner Mutter, sonst nimmt sie die Tabletten.« Wie ferngesteuert und ohne es wirklich zu wollen, ging Sarah auf die Knie. Sie sagte: »Mama, bitte tu es nicht, wir brauchen dich doch.« Daraufhin schluchzte Liselotte nochmals laut auf. Dann ging sie in die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Die Tablettenschachtel hatte sie achtlos auf den Boden geworfen.
Heiner begann erneut damit, Flusen aufzusammeln. Sarah war wie erstarrt. Es war so demütigend. Sie erhob sich mechanisch und ging langsam mit staksenden Schritten die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Dort ließ sie sich auf ihr Bett sinken und nahm ihre Lieblingspuppe in den Arm. Sie sagte zu ihr: »Dora, hier ist es schrecklich. Sobald ich groß bin, will ich hier weg. Es ist nicht zum Aushalten.« Sie klammerte sich an die Puppe und lag so eine geraume Weile, bis die Starre, die sich über sie gelegt hatte, ganz langsam abflaute.
Draußen war es jetzt still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Es war gespenstisch und sie fragte sich, was besser sei, das Geschrei ihrer Mutter oder diese bedrohliche Stille. Zwischen diesen beiden Extremen bewegte sich normalerweise die Geräuschkulisse im Hause Mager. Sarah hatte Hunger, aber sie wagte es nicht, ihr Zimmer zu verlassen. Zu groß war die Angst, dass sie dadurch einen erneuten Anfall ihrer Mutter auslösen könne.
Schließlich hielt sie es jedoch nicht mehr aus. Sie musste etwas essen, auch wenn es nur ein Stück trockenes Brot war. Sie ging möglichst leise die Treppe hinunter. Als sie unten angekommen war, bemerkte sie, dass aus dem Keller Licht und Musik nach oben drangen. Ihre Adoptivmutter war anscheinend im Keller, wo sie trank und Musik hörte. Sie ging vorsichtig in die Küche. Ihr Vater saß am Küchentisch und las Zeitung. Als er Sarah erblickte, sah er sie kurz an und lächelte. »Mein Schatz, du schaffst das schon«, sagte er.
Wie oft schon hatte Sarah diesen Satz von ihrem Vater gehört und nie hatte sie genau verstanden, was er damit eigentlich sagen wollte. Dass sie ihn nicht behelligen solle? Dass er ihr nicht helfen könne? Dass sie alles alleine schaffen müsse? Dass er hilflos war und als Vater völlig ungeeignet? Sie wusste es nicht genau.
Er las einfach weiter Zeitung. Sie schaute in den Obstkorb hinein und sah, dass zwei Bananen darin lagen. Sie nahm die beiden Bananen heraus und ging wieder in ihr Zimmer. Dort aß sie sie langsam auf.
Ludmila – Februar-März 1945
Die nächsten dreieinhalb Jahre vergingen mit der Pflege und Betreuung der verwundeten Soldaten. Ab und zu hörte Ludmila Neuigkeiten von der Front und es wurde immer wieder gemunkelt, dass Deutschland auf dem Rückzug sei und das Ende des Krieges bevorstünde.
Im Februar 1945 erfuhr sie schließlich, dass das Lazarett aufgelöst werden sollte. Es war inzwischen allen klar, dass Deutschland den Krieg verloren hatte, auch wenn der Führer immer noch seine wahnsinnigen Parolen ausgab, unterstützt von seinem Propagandaminister, der nur heimlich in sein Tagebuch schrieb, dass er den Krieg für verloren hielt.
An einem kalten, aber sonnigen Tag Anfang März 1945 nahm Dr. Schmidt sie beiseite mit den Worten: »Ludmila, Sie sind mir ans Herz gewachsen wegen Ihres unermüdlichen Einsatzes für die Kranken, die wir hier in den letzten Jahren gemeinsam gepflegt haben. Das Lazarett wird nun aufgelöst. Alle gehen nach Deutschland zurück. Wo gehen Sie hin? Wo kommen Sie her? Wo ist Ihre Familie?«
Ludmila spürte, wie die Angst wieder begann, in ihr hochzukriechen, und sie dachte: »Oh nein, bitte jetzt nicht.« Sie wünschte sich, unsichtbar zu sein, doch die bekannten Symptome hatten schon von ihrem Körper Besitz ergriffen. Ihr Herz raste, der Schweiß brach ihr aus, Hitze stieg in ihren Kopf und ihr Bauch fing an sich zusammenzukrampfen. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und fing an zu weinen.
Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie dem Arzt die Wahrheit sagen? Oder irgendeine Geschichte auftischen? Sie schätzte ihn sehr, sowohl fachlich als auch menschlich. Ihn zu belügen, wäre ihr wie Verrat vorgekommen. Er verhielt sich ruhig, während er sie weinen ließ, denn er hatte genügend Menschenkenntnis, um zu vermuten, dass sich hinter ihrer Verzweiflung eine lange, traurige Geschichte verbarg.
Und dann brach es plötzlich aus ihr heraus, all das, was sie die ganzen Jahre in ihrem Herzen verborgen hatte. Es war so, als ob sie es nicht mehr länger zurückhalten könne. Sie putzte sich die Nase, sah Dr. Schmidt direkt in die Augen und begann zu sprechen: »Ich stamme aus einer Familie von russischen Deutschen. Ich und meine Geschwister wurden in Russland geboren. Aber meine Vorfahren stammen aus Deutschland.«
Sie machte eine kurze Pause, um die Wirkung ihrer Worte auf den Arzt zu überprüfen.
Er fragte: »Sind Sie Wolgadeutsche?« Sie nickte.
»Wann ist Ihre Familie nach Russland gekommen?«
»Meine Vorfahren sind 1764 aus Deutschland nach Russland übergesiedelt.« Sie hielt kurz inne und fragte dann: »Kennen Sie die Hintergründe der deutschen Auswanderung nach Russland?« Der Arzt schüttelte den Kopf »Nicht genau.«
»Hier herrschte damals Katharina die Zweite. Sie war eine deutsche Prinzessin, die aus einem verarmten Adelsgeschlecht stammte. Deshalb wurde entschieden, sie mit einem reichen russischen Thronfolger zu verheiraten.«
Ludmila machte eine kurze Pause und der Arzt forderte sie auf: »Sprechen Sie weiter.«
»Jahre später wurde ihr Mann, der bereits den Thron bestiegen hatte, ermordet. Damit wurde sie Zarin von Russland, das zur damaligen Zeit ein von patriarchalen Strukturen geprägtes, rückständiges Land war. Sie wollte aus ihrem Land ein großes und mächtiges Reich machen. Um diesen Plan umsetzen zu können, brauchte sie kluge, zuverlässige Menschen mit fleißigen Händen, die die Arbeit nicht scheuten. Als geborene Deutsche wusste sie, wo sie diese finden konnte – in ihrer Heimat, in Deutschland. Die Deutschen waren seit jeher bekannt für ihre Klugheit, ihren Fleiß, ihre Sorgfalt und ihre Verlässlichkeit.«
Dr. Schmidt nickte. Er hörte ihr sehr aufmerksam zu.
»Deshalb schloss sie mit deutschen Landesherren Verträge und erkaufte Tausende kluge und arbeitsame Menschen. Darunter waren auch meine Vorfahren. Die Zarin siedelte sie in den wilden, unbewohnten Weiten des Wolgagebietes an – entlang des breiten ungezähmten Stromes.«
Ludmila hielt kurz inne, um durchzuatmen und die Reaktion von Dr. Schmidt auf ihre Worte sehen zu können. Der Arzt blickte sie ruhig an und seine Augen sagten: »Du kannst mir alles erzählen, was auf deiner Seele lastet.«
So sprach sie weiter: »Meine Vorfahren hatten die neuesten Werkzeuge nach Russland mitgebracht, mit denen sie begannen, die wilden Böden des Wolgagebietes urbar zu machen und zu bearbeiten. Sie brauchten nicht lange, um die bis dahin unbewohnte Steppe in einen blühenden Garten zu verwandeln. Mit der Zeit wurde diese Gegend per Gesetz zur Deutschen Autonomen Republik erklärt. Es gab deutsche Schulen, Gymnasien, Universitäten, Theater und Museen. Die Deutsche Autonome Republik wurde ein fester Bestandteil des Wolgagebietes, ein Quell des Reichtums, der Kultur und hoch qualifizierter Arbeitskräfte für Russland.«
Sie machte eine kurze Pause, um den in ihr aufsteigenden Gefühlen von Schmerz, Wut und Trauer Raum zu geben. Dann fuhr sie fort: »Als Hitler im Jahr 1941 Russland den Krieg erklärte, liquidierten Stalin und seine Gefolgsleute unsere Republik und ihre Bewohner. Alle Deutschstämmigen wurden zu Feinden des russischen Volkes erklärt. In Listen des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, wurden wir erfasst und über jeden von uns wurde ein Dossier eröffnet.«
Ludmila spürte, wie die Erinnerung an die Repressalien ihr die Kehle zuschnürte und sich ihr Bauch wieder schmerzlich zusammenzog, aber die lange zurückgehaltenen Worte flossen nur so aus ihr heraus.
»Die Alten und die Kinder wurden in die verschiedensten Gegenden des riesigen Russlands zwangsumgesiedelt – nach Sibirien, Kasachstan, in den Norden des Ural und in andere Republiken. Mein Vater wurde erschossen, meine Mutter in ein Lager gebracht und ich bin bei der Deportation geflohen.«
Nach einer kurzen Pause fuhr sie mit leiser Stimme fort: »Und von meinen drei Schwestern weiß ich nichts.«
»Viele junge Frauen und Männer wurden in Stalins Konzentrationslager gebracht, wo sie hinter Stacheldraht eingesperrt wurden, von Hunden und Aufsehern bewacht. Sie müssen die schwierigsten Arbeiten machen. In Sibirien arbeiten die Deutschen beim Holzeinschlag, im Norden in Bergwerken, im Ural in den Aluminiumwerken und Förderstätten von Erdgas. Dort sterben sie wie die Fliegen vor Hunger, Kälte und durch die Folgen von Schlägen und Grausamkeiten der Aufseher. Viele werden einfach erschossen. Millionen Russlanddeutsche wurden und werden in diesen Lagern zu Tode gequält.«
Sie brach ab, weil sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Dr. Schmidt nahm ihre Hand. Sein Gesicht zeigte tiefste Betroffenheit. Ludmila spürte, dass ihm die Worte fehlten.
So ließ er sie einfach weinen. Von Zeit zu Zeit reichte er ihr ein frisches Taschentuch. Nach einigen Minuten räusperte er sich. »Ludmila, ich bin zutiefst erschüttert über das, was ich gerade von Ihnen gehört habe. Es gibt keine Worte, mit denen ich meine Betroffenheit und mein Mitgefühl ausdrücken kann.«
Er atmete tief durch und fuhr dann fort: »Ich kenne Sie seit dreieinhalb Jahren. Sie haben hier hervorragende Dienste geleistet. Ich werde Ihnen helfen. Wenn Sie nach Deutschland wollen, werde ich Ihnen falsche Papiere besorgen.«
Ludmila schniefte nochmals und sah ihn ungläubig an, bevor sie antwortete: »Das würden Sie für mich tun?« Sie sprang auf, umarmte ihn und rief: »Damit retten Sie mir das Leben. Denn hier in Russland bin ich verloren. Wenn ich in die Hände der Behörden komme, werde ich wegen Hochverrats zum Tode verurteilt.«
Dr. Schmidt nickte. »Ich weiß. Aber das wird nicht geschehen. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit.« Ludmila nickte. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Der Arzt lächelte und erwiderte dann: »Danken Sie sich selbst, für Ihre Kraft, Ihren Mut und Ihren Überlebenswillen.«
Nach fünf Tagen rief er sie zu sich. Er gab ihr einen deutschen Pass, ausgestellt auf den Namen María Gundula Steiner, dazu eine Geburtsurkunde, aus der hervorging, dass sie am 17.11.1927 in Bayreuth als Tochter der Eheleute Rolf und Magda Steiner das Licht der Welt erblickt hatte. Außerdem erhielt sie eine Bescheinigung, die besagte, dass Gundula Steiner in den Jahren 1941 bis 1945 hervorragende Dienste für ihr Vaterland im Lazarett in Astrakhan geleistet hatte und dass man sie als Krankenschwester wärmstens empfehlen konnte.
Sie drückte die Papiere an ihr Herz und sagte: »Dr. Schmidt, ich werde Ihnen das nie zurückzahlen können, was Sie für mich getan haben.« Der Arzt lächelte warm und erwiderte: »Ludmila, das haben Sie schon längst getan.«
Ein paar Tage später reiste sie mit ihren neuen Papieren in einem Zug, der vollgestopft war mit verwundeten Soldaten und Frontpersonal, das den Dienst quittiert hatte, nach Deutschland. Dr. Schmidt musste noch ein paar Tage bleiben, um die Schließung des Lazaretts bis zum letzten Moment zu überwachen, aber ihre Dienste wurden nicht mehr gebraucht. Der Abschied war herzlich, aber auch traurig.
Das Lazarett war in den letzten dreieinhalb Jahren für Ludmila so etwas wie ihre Heimat geworden. Sie identifizierte sich mit ihrer Arbeit, sie wusste, dass sie gut war, und der Umstand, gebraucht zu werden, hatte viele andere Gefühle in ihr wie Heimatlosigkeit und die Erniedrigungen, die sie erlebt hatte, kompensiert.
Jetzt war sie wieder unterwegs und sie war wieder ein unbeschriebenes Blatt, das ein neues Zuhause suchen musste. Als sie die russische Landschaft am Zugfenster vorbeigleiten sah, dachte sie an ihre Familie. Sie wusste nichts von ihnen, nichts von ihrer Mutter und nichts von ihren drei Schwestern. Wehmut stieg in ihr auf. Dann dachte sie: »Jetzt schaue ich, dass ich die Verwandten meines Vaters in Deutschland finde, dann warte ich ab, bis der Krieg zu Ende ist, und dann mache ich mich auf die Suche nach meiner Familie.«
Nachdem sie das entschieden hatte, fühlte sie sich ruhiger.