Читать книгу: «Karmische Rose», страница 4

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Sarah – April 2007

In diesem Moment erwachte sie aus der Trance und öffnete die Augen.

Geneviève sagte: »Lass die Augen noch einen Moment lang geschlossen, Sarah. Und dann geh mal mit deinem Bewusstsein zu dem Mädchen auf der Bank. Was würdest du ihr sagen, um sie zu trösten?«

Sarah ging in ihrer Vorstellung zu dem Kind, nahm es ganz behutsam in den Arm und sagte ihm leise, liebevolle Worte. Nach ein paar Sekunden merkte sie, wie das Mädchen begann, sich zu entspannen.

Die Supervisorin fragte: »Willst du das Kind dort lassen oder möchtest du es aus dieser Situation herausholen?«

»Ich möchte es mitnehmen.«

Nachdem Sarah dem Kind vermittelt hatte, dass sie gekommen war, um es aus der unerträglichen Situation herauszuholen, nahm sie wahr, wie in dem Mädchen wieder ein Funke Hoffnung aufkeimte, dass es doch noch ein anderes Leben geben könnte als das, was es im Hause seiner Adoptiveltern erlebte.

In der Nachbesprechung fragte Genevève: »Wie geht es dir jetzt, Sarah?«

»Ich fühle mich sehr müde und gleichzeitig auf eine gute Art und Weise getröstet, so als wäre dieses Kind jetzt wieder bei mir.«

Die Supervisorin nickte. »Ja, das ist auch so. Dieses Mädchen ist jetzt wieder in deinem Energiefeld. Wenn du dich gut um es kümmerst, dann kann diese tiefe Wunde heilen und du ›brauchst‹ dann nicht immer wieder Personen wie deine Anwältin, um dich an die Verletzung zu erinnern. Es kann dann endlich mal unterstützende Menschen – auch Frauen – um dich herum geben, die sich so verhalten, wie sie sich verhalten sollten.«

Sarah nickte. Sie fühlte eine tiefe Zuneigung zu dem zehnjährigen Mädchen und den großen Wunsch, für es da zu sein. Gleichzeitig war sie traurig, aber die Erleichterung und die Liebe waren stärker.

Loredana – April 1990

Es war ein herrlicher Frühlingstag und das Wochenende stand bevor. Loredana liebte diese Tage in Madrid, in denen die Straßencafés von Einheimischen und Touristen bevölkert waren. Sie war zum Mittagessen mit ihrer Freundin Marisa im Restaurant Zalacaín verabredet und freute sich darauf. Während sie langsam die Gran Vía in Richtung Plaza España hinaufging, um von dort aus ein Taxi zu nehmen, atmete sie die Frühlingsluft ein und merkte, wie die Anspannung der harten Arbeitswoche von ihr abfiel.

Als sie im Restaurant angekommen war, ließ sie sich von dem Kellner an einen freien Tisch führen, bestellte einen Martini und hing ihren Gedanken nach. Marisa war noch nicht da.

Loredana arbeitete in einer Anwaltskanzlei im Herzen der spanischen Hauptstadt. Sie hatte oft einen zwölfstündigen Arbeitstag und konnte sich nicht so um ihren Sohn Alejandro kümmern, wie sie es gerne gewollt hätte. Das Leben in der Metropole war teuer und ihr Ehemann gab gerne Geld aus. Sie verdiente zwar recht gut, aber immer wenn sie Sergio gegenüber erwähnte, dass sie lieber zu Hause bleiben und sich um ihr Kind kümmern würde, kam von seiner Seite aus nur ein barsches Nein und er erwiderte: »Wir brauchen das Geld.«

Loredana war nicht in der Lage, sich gegen ihren dominanten Mann durchzusetzen und ihre eigenen Interessen zu behaupten. Wie sollte sie auch? Sie war jung, hatte keine eigene Familie in Madrid und fühlte sich in der riesigen Stadt völlig auf sich gestellt. Sich als junge Anwältin in der Kanzlei gegenüber den männlichen Kollegen zu behaupten, war Herausforderung genug, zumal sie als Katalanin in der spanischen Hauptstadt nicht gerade einen leichten Stand hatte.

Der Chef der Kanzlei, Enrique Martín, war ein smarter Madrilene, der schon vom ersten Tag an einen Blick auf die hübsche, blonde Loredana geworfen hatte. Es war anstrengend, ihn in seinen Grenzen zu halten. Wenn seine Mitarbeiter Katalanenwitze erzählten oder frauenfeindliche Kommentare abgaben, wies er sie nicht etwa zurecht, sondern beschränkte sich darauf, Loredana genüsslich und mit süffisantem Lächeln zu betrachten. Sie wusste genau, was er in solchen Momenten dachte. »Wenn du mir gefällig wärst, meine Liebe, dann würde ich dafür sorgen, dass die Kommentare ein Ende haben. So aber musst du dich schon selbst verteidigen.«

Auch Sergio, obgleich Katalane, gab ihr keine wirkliche Unterstützung. Wie auch – er war ja selten genug zu Hause. Er behauptete zwar, sie und Alejandro zu lieben, aber seine Worte standen in krassem Gegensatz zu seinem Handeln. Was sie immer wieder faszinierend und erschreckend zugleich fand, war, wie einfach es für einen Mann zu sein schien, als ›guter Vater‹ betrachtet zu werden, während es für eine Frau ungleich schwieriger war, als ›gute Mutter‹ angesehen zu werden.

Wenn die Nachbarn Sergio am Sonntag mit Alejandro im Park spazieren gehen und die Enten füttern sahen, bogen sie sich schon vor Begeisterung, wenn sie allerdings Loredana einmal mit etwas lauterer Stimme mit Alejandro reden oder ihn zurechtweisen hörten, tuschelten sie bereits. Dabei ließen sie völlig außer Acht, dass die gesamte Erziehungsverantwortung bei ihr lag.

Sie hatte den Kindergarten für Alejandro ausgesucht, sie hatte das Au-pair-Mädchen organisiert, das sich den ganzen Tag um Alejandro kümmerte, sie bezahlte die Rechnungen für beides, sie kaufte seine Kleidung, sie ging mit ihm zum Arzt, wenn er krank war, sie wurde auf der Arbeit angerufen, wenn im Kindergarten etwas vorgefallen war. Aber das war alles selbstverständlich und nebenbei sollte sie auch noch ihre Kompetenz in der Kanzlei Enrique Martín unter Beweis stellen und das Vorurteil widerlegen, dass blonde, hübsche Frauen nun mal dumm seien.

Manchmal kam sie abends total erschöpft nach Hause. Kaum hatte sie die Türe aufgeschlossen, sprang ihr Alejandro entgegen, der sich riesig freute, dass seine Mutter endlich wieder zu Hause war. Er wollte mit ihr spielen, aber Loredana war oft einfach zu müde dazu. Sie dachte dann nur daran, ihr elegantes, aber unbequemes Kostüm auszuziehen, ein heißes Bad zu nehmen und in einen Hausanzug zu schlüpfen. Allerdings musste in ein bis zwei Stunden das Abendessen auf dem Tisch stehen und keiner wusste genau, ob und wann Sergio nach Hause kommen würde. Sie schwankte dann zwischen der Wut auf ihren Mann, Erschöpfung und Schuldgefühlen Alejandro gegenüber, weil sie ihm nicht so gerecht werden konnte, wie sie es gerne wollte. Oft spielte sie trotzdem mit ihm und nach einer Weile fühlte sie sich besser.

An guten Tagen trudelte Sergio irgendwann am frühen Abend zu Hause mit einem niedrigen Alkoholpegel ein und an ganz guten Tagen war es dann sogar noch früh genug, um einkaufen zu gehen. Wenn er dazu in der Stimmung war, nahm er Alejandro mit, was für Loredana bedeutete, dass sie sich eine Weile ausruhen konnte. An schlechten Tagen kam Sergio gar nicht und Loredana wurde immer ungeduldiger, da sie nicht wusste, ob sie mit dem Essen warten sollte oder nicht. Irgendwann kochte sie dann, sie aßen mit dem Au-pair-Mädchen zu Abend und Alejandro versuchte, durch sein liebenswertes Geplapper die angespannte Stimmung zu überdecken.

Manchmal weinte sie an solchen Abenden. Wenn ihr Sohn sie fragte, warum sie weine, versuchte sie Ausflüchte zu finden. Eines Abends, als er sie wieder fragte, wollte sie ihn nicht länger belügen und sagte: »Ich weine, weil ich traurig bin, dass Papa wieder nicht bei uns ist.« Alejandro schaute sie mit seinen treuen, großen Augen an und sagte nichts. Danach fühlte sich Loredana wieder schuldig. War es richtig gewesen, ihrem Sohn den Grund ihrer Trauer mitzuteilen? Hätte sie es besser verschwiegen? Wie sie es auch drehte, es schien immer falsch zu sein, was sie tat.

Die Ankunft ihrer Freundin riss sie aus ihren Gedanken. Sie umarmten sich herzlich. Als sie sich gegenübersaßen, fragte Marisa: »Was ist denn mit dir los, meine Liebe? Du wirkst ja ganz in Gedanken versunken? Draußen ist so ein schöner Tag! Der Frühling beginnt.«

Loredana seufzte tief. Dann antwortete sie: »Ja, es ist total schön draußen. Aber ich fühl mich nicht so gut. Gestern ist es wieder mal zwischen Sergio und mir eskaliert.«

Marisa fragte erschrocken: »Was ist passiert?«

»Er kam gestern wieder spät und alkoholisiert nach Hause. Er war bester Stimmung – sofern man bei seinem Alkoholpegel davon sprechen konnte.« Sie nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Auf meine kühle Begrüßung reagierte er mit einem saloppen ›Ach komm, Süße, hab dich doch nicht so, no pasa nada‹.«

Das war sein Standardspruch in diesen Jahren: ›No pasa nada – alles halb so schlimm.‹ Er benutzte ihn bei jeder Gelegenheit und wie eine Beschwörung.

Sie fuhr fort: »Ich weiß nicht genau, was er eigentlich damit sagen will, aber ich kann es nicht mehr hören. Es kommt mir vor wie eine Beruhigungspille, die ich nicht mehr schlucken will. Gestern habe ich ihn zur Rede gestellt und ihm gesagt, dass ich dieses Leben nicht mehr lange mitmachen würde. Ich habe gedroht, ihn mit Alejandro zu verlassen. Er wurde wütend und kam mit funkelnden Augen auf mich zu. Ich konnte seine Alkoholfahne riechen und habe mich vor ihm geekelt.«

Loredana strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und atmete schwer. »Daraufhin erwiderte er: ›Du wirst Alejandro nie mitnehmen. Er gehört mir.‹ Ich war empört und entgegnete ihm: ›Er gehört dir nicht. Ein Kind gehört niemandem. Und außerdem solltest du ein zuverlässiger Vater und Ehemann sein. Und du bist nichts von alledem. Im Gegenteil, du bist unberechenbar und kannst nicht für ein Kind sorgen.‹«

Marisa schaute sie betroffen an und nahm ihre Hand. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Wie lange willst du das noch mitmachen?«

»Als ich ihm sagte, dass er nicht für ein Kind sorgen könne, trat er auf mich zu und packte meinen Arm. Er funkelte mich an und presste zwischen den Zähnen hervor: ›Ich brech dir den Arm.‹ Ich erschauerte, denn so hasserfüllt habe ich ihn noch nie gesehen, und ich hatte große Angst. Dann riss ich mich los und rannte weg. Der einzige Raum in der Wohnung, den man von innen abschließen kann, ist Alejandros Zimmer.«

Sie schluckte, als würde sie nun vollends von der schrecklichen Erinnerung überwältigt. »Ich öffnete die Tür, ging in das Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Dann brach ich in Tränen aus. Alejandro lag im Bett und schlief. Ich hörte seine gleichmäßigen Atemzüge, während ich weinte, und wusste, dass ich von diesem Mann wegmusste.

In dem Moment sah ich eine Vision von mir selbst in zehn Jahren, wenn ich mit Sergio zusammenbleiben würde. Ich sah mich krank und verbittert und nahm mir vor, dafür zu sorgen, dass das nicht geschehen würde. Ich spürte, dass ich bereit war, alles zu tun, um mir und meinem Sohn dieses Schicksal zu ersparen.«

Marisa nickte und erwiderte mit leiser Stimme: »Ja, das verstehe ich voll und ganz.«

»Ich setzte mich auf Alejandros Bettrand. Dann legte ich mich neben ihn, um zu schlafen. Ich versuchte, leise zu sein, aber das Bett war schmal und er wachte auf. Er sagte: ›Mama, was ist los? Warum weinst du?‹ Ich schluchzte erneut. ›Ich habe Angst vor Papa. Er hat mir wehgetan.‹ Schon als ich mich selbst reden hörte, fühlte ich mich schlecht und schuldbewusst.

Ich fragte mich, ob es richtig war, meinem schlaftrunkenen Sohn das zu sagen. Aber sollte ich ihn etwa belügen? Das fühlte sich noch schlechter an. Wenigstens die Wahrheit wollte ich ihm sagen, auch wenn sie bitter und schwer war. Aber Lügen, das wusste ich ganz genau, würden das Kind nur verwirren.«

»Und dann?«, fragte Marisa gespannt.

»Du wirst es nicht glauben. Mein kleiner Sohn wandte sich mir zu und strich mir über den Arm, so als wäre er der Erwachsene und ich das Kind. ›Schlaf jetzt, Mama, es wird alles gut.‹ Daraufhin fing ich wieder an zu schluchzen. In dem Moment wusste ich, dass ich diesen Zustand nicht länger will.«

Sie atmete tief. »Alejandro soll als Kind aufwachsen dürfen und nicht als Puffer zwischen zwei Elternteilen, die sich bereits so weit voneinander entfernt hatten, dass es keinen Weg zurück mehr gibt.«

In dem Moment kam der Kellner und nahm die Bestellung auf.

Sarah – Mai 2007

Knapp fünf Wochen waren seit dem fürchterlichen Termin bei Gericht vergangen, als Sarah die hellen Stufen des Jugendstilhauses, in dem sich die Kanzlei Hartmann & Gebert befand, hinaufstieg. Sie sah der Besprechung mit ihrer Anwältin mit gemischten Gefühlen entgegen. Auf jeden Fall, so hatte sie entschieden, würde sie in dem heutigen Gespräch Frau Gebert gegenüber ihrer Enttäuschung über deren mangelndes Engagement vor Gericht Ausdruck verleihen. Allerdings wusste sie nicht, wie die Anwältin ihre Kritik aufnehmen würde.

Als sie sich in dem luxuriös eingerichteten Büro gegenübersaßen, gab sich Frau Gebert äußerst freundlich und zuvorkommend, als würde sie ahnen, mit welchen Überlegungen Sarah schwanger ging. Plötzlich sprach sie nur noch von ›Wir‹ statt wie bislang von ›Ich‹ und ›Sie‹ und verbreitete einen seltsam anmutenden Optimismus, der so gar nicht zu ihrer bisherigen Arroganz und Skepsis passte. Sie machte Sarah große Hoffnungen auf den zweiten Gerichtstermin, der im November stattfinden sollte und bei dem weitere Zeugen des Geldinstitutes gehört werden würden.

Als Sarah den Auftritt der Anwältin vor Gericht kommentierte und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck gab, veränderte sich deren Gesichtsausdruck. Sarah konnte sehen, wie es in ihr arbeitete und wie sie hin- und hergerissen war zwischen einer scharfen Erwiderung und der Angst, den Fall zu verlieren und ihrem Chef womöglich Rede und Antwort über die Gründe hierfür stehen zu müssen. Schließlich siegte aber doch wieder ihre Arroganz. »Frau Breuner, ich habe mein Möglichstes getan. Aber es ist eben einfach nicht gut gelaufen. Es wäre besser gewesen, wenn Sie sich an einige Sachen nicht mehr genau erinnert hätten.«

Sarah war irritiert. Nach einer kurzen Pause erwiderte sie: »Wie bitte? Sie haben mir doch vor dem Prozesstermin gesagt, ich solle die Geschichte einfach wahrheitsgemäß erzählen. Ich dachte, es wäre wichtig, die Erinnerungen so präzise wie möglich zu reproduzieren.«

Sie hielt einen Moment inne. »Frau Gebert, ich muss Ihnen sagen, dass ich mich nicht gut von Ihnen vorbereitet gefühlt habe.«

Die Anwältin ignorierte Sarahs Vorwurf und setzte stattdessen zum Gegenangriff an. »Ich weiß nicht genau warum, aber für den gegnerischen Anwalt scheinen Sie eine Reizperson zu sein.«

»Eine Reizperson? Was wollen Sie mir damit sagen?« Und dann setzte Sarah hinzu: »Selbst wenn es so sein sollte, wäre das kein Grund, mir dies entgegenzuhalten. Es ist Ihre Aufgabe, mich vor den Angriffen des cholerischen Anwalts zu beschützen.«

Sie fühlte Zorn in sich aufsteigen und dachte: »Wofür bezahle ich diese Frau eigentlich?« Laut sagte sie: »Frau Gebert, auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Ich kann nicht spüren, dass Sie hinter mir stehen. So können wir nicht weiterarbeiten. Wenn Sie von der Sache nicht überzeugt sind, sagen Sie es mir bitte jetzt. Dann werde ich mir einen anderen Anwalt suchen.«

Der Hieb hatte gesessen. Die Gesichtsfarbe der Anwältin nahm eine andere Tönung an und sie lenkte ein. »Nein, nein, Frau Breuner, davon kann doch gar keine Rede sein. Selbstverständlich stehe ich voll und ganz hinter der Sache.« Sarah bemerkte, dass die Frau hin- und hersprang und hätte gerne gewusst, was sie wirklich dachte. Wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht genau.

Nachdem dieser Teil des Gesprächs erledigt war, besprachen sie die Strategie für den November-Termin. Frau Gebert war der Meinung, dass die Zeugen der Bank sich in Widersprüche verwickeln würden, da sie logen. Sarah war derselben Meinung. Als sie nach knapp einer Stunde das Büro der Anwältin verließ, hatte sie wieder Hoffnung auf ein gerechtes Urteil.

Sarah – Mai 1974

Wie so oft hatte es heftigen Streit zwischen Liselotte und Heiner gegeben. Lilo hatte getrunken und sicher auch schon ein paar Beruhigungspillen geschluckt. Sarah saß am Küchentisch und sollte essen. Sie hatte zwar Hunger, aber die angespannte Stimmung in der Küche nahm ihr den Appetit. Jeder Bissen, den sie in ihren Magen brachte, fühlte sich an wie ein Stein. Schließlich schob sie ihren Teller weg. Dann wollte sie aufstehen und in ihr Zimmer gehen, aber Liselotte hielt sie fest. Sie schrie: »Du gehst jetzt nicht, du hörst mir jetzt zu!«

Sie versuchte, sich loszureißen, aber ihre Adoptivmutter war stärker als sie. Auf dem Herd stand ein Kessel, in dem das Wasser gerade eben zum Kochen kam. Als Sarah nicht nachgab, nahm ihre Mutter mit einem irren Blick den Kessel vom Herd und brüllte: »Dir werde ich's zeigen«, und schüttete dabei das heiße Wasser über Sarahs Arm.

Das Mädchen schrie vor Schmerz und begann zu weinen. Heiner erwachte aus seinem gelähmten Zustand und packte seine Frau am Arm. Schwer atmend nahm er ihr den Kessel aus der Hand. Liselotte riss sich von ihm los und rannte schreiend aus der Küche. »Ich verlasse euch sowieso. Das Leben hier mit euch gefällt mir nicht. Ich gehe nach Südamerika.«

Dann war sie verschwunden und ließ ihr schluchzendes Kind und ihren geschockten Mann in der Küche zurück. Gott sei Dank trug Sarah an diesem Tag einen langärmeligen Pullover und darunter ein ebenfalls langärmeliges Unterhemd. Aber ihre rechte Hand und das Handgelenk waren rot und schmerzten sehr.

Heiner nahm sie in den Arm. Er versuchte, sie zu trösten. »Es ist doch nicht so schlimm.« Die Worte erreichten Sarah nicht, denn es war schlimm.

Gleichzeitig spürte sie Heiners Hilflosigkeit. Wie immer in solchen Situationen versank er in seiner eigenen Lethargie, statt dafür zu sorgen, dass die Misshandlungen aufhörten. Trotzdem war es besser, von ihm im Arm gehalten und auf seine Art und Weise getröstet zu werden, als die Lieblosigkeit ihrer Mutter zu erleiden.

Als sie sich langsam wieder beruhigte, holte er ein Taschentuch und wischte Sarah die Tränen ab. Dann nahm er sie auf den Schoß. »Meine Kleine, ich hab dich doch so lieb. Wir beide könnten doch ein neues Leben anfangen. Was hältst du davon? Ich schließe den Lebensmittelladen und wir beide machen dann eine richtig schicke Parfümerie in der Innenstadt auf, im besten Geschäftsviertel. Du bist so hübsch und so talentiert. Du kannst die Kunden bedienen und ich mache den Rest.«

Sarah hörte ihm zu und es war ein irreales Gefühl. Ihr Arm schmerzte und wahrscheinlich wäre es gut gewesen, wenn ein Arzt einen Blick darauf geworfen hätte, aber ihr Vater erzählte ihr von seinen Träumen, in die er sie mit einbaute, als wäre sie schon erwachsen und als würden sie gerade gemütlich Kaffee trinken.

Merkwürdig war allerdings, dass seine Worte in ihr nicht nur das irreale Gefühl auslösten, sondern auch etwas anderes. Nachdem sie seinen einlullenden Worten eine Weile zugehört hatte, fühlte sie plötzlich eine Art von Freude über ihre Wichtigkeit. Er fand sie hübsch und talentiert und er hielt sie für fähig, ein Geschäft zu führen. Er gab ihr mit seinen Worten eine Bedeutung, auch wenn ihr Arm noch immer vor Schmerz brannte.

Sarah merkte, wie sie zwischen drei Gefühlen hin- und herschwankte – das eine war Freude darüber, von ihrem Vater soviel Beachtung zu bekommen, das zweite war Verstörtheit über die Geschichte, die er ihr erzählte und in der sie eine Rolle hatte, die sie im wahren Leben nicht hatte, und das dritte war der brennende Schmerz im Arm, der nicht aufhörte.

Die Situation war irgendwie falsch. Aber gleichzeitig war diese falsche Situation um so vieles besser als die Schläge, die Grausamkeiten und die Unberechenbarkeit ihrer Mutter. Sarah hatte den Impuls, sich zu entziehen, aber sie konnte es nicht. Zu groß war ihr Bedürfnis nach Wärme und tröstenden Worten. Die Sätze ihres Vaters, so befremdlich sie auch waren, taten ihr trotzdem gut, einfach, weil es menschliche Worte waren, die in einem warmherzigen Ton gesprochen wurden und nicht mit der schneidenden Kälte, Ironie oder Verrücktheit ihrer Mutter.

Sie begann, sich zu entspannen. Ihr Vater redete weiter. Ab und zu streichelte er ihr über den Kopf. Kurz darauf merkte sie, dass seine Umarmung irgendwie anfing sich zu verändern. Auch die Art und Weise, wie er ihr übers Haar strich, war nicht mehr so wie vorher. Und sein Atem ging schneller.

Ihr Körper fing wieder an zu verkrampfen. Als Erstes spürte sie es im Bauch, dann in den Schultern. Heiner redete jetzt nicht mehr, sondern küsste ihre Wange auf eine merkwürdige Art und Weise. Im nächsten Moment begann er, ihren Körper zu streicheln – erst den Rücken, dann die Beine, die Arme und schließlich ihren Bauch. Sie erstarrte immer mehr und dachte: »Ich muss weg«, aber ihr Körper war wie gelähmt. Sie konnte ihre Arme und Beine nicht im Geringsten bewegen, so als würden die Impulse im Gehirn nicht weitergeleitet.

Eine Minute später wurde es noch unbehaglicher. Da, wo sie auf dem Schoß ihres Vaters saß, wurde es plötzlich hart und gleichzeitig ging Heiners Atem noch schwerer.

In diesem Moment geschah etwas. Ein Sog zog sie aus ihrem Körper heraus und im nächsten Augenblick sah sie die Szene von oben. Sie schwebte über ihrem Kinderkörper. Das Gute war, dass sie nichts mehr von diesen unangenehmen Körpergefühlen spürte – keine Hitze, keine Bauchkrämpfe, keine Enge im Brustkorb und keine Atemnot mehr. Da oben war sie sicher. Dann aber blickte sie auf den Körper herab und fragte sich: »Wem gehört dieser Körper?« Unbehagen stieg in ihr auf. Sie dachte: »Das ist ja mein Körper. Aber was macht er da unten? Warum ist er dort und ich bin hier? Und was passiert da gerade?«

Einerseits hatte sie das Bestreben, wieder nach unten in ihren Körper hineinzugehen, andererseits dachte sie: »Nein, niemals, ich will nicht wieder da unten hin.« Also blieb sie oben, unter der Zimmerdecke, wo sie in Sicherheit war. Aber es gefiel ihr nicht, was sie da unten sah. Ihr Körper wirkte verkrampft und schutzlos und das Gesicht ihres Adoptivvaters war gerötet. Sie sah, dass seine Hände nun überall auf ihrem Körper waren und dass er angefangen hatte, ihr den Pullover über den Kopf zu ziehen.

Es war ein groteskes Bild von der Zimmerdecke aus. Sarah sah ihr gerötetes Handgelenk und die rote Hand und sie erinnerte sich an das, was Minuten vorher passiert war. Inzwischen war ihr Körper da unten halbnackt und ihr Adoptivvater atmete immer heftiger. Gleichzeitig hörte sie seine Worte. »Du bist doch meine Süße. Du bist meine Beste. Meine kleine Sarah. Deine Haut ist so weich. Das tut mir so gut.« Die Worte hörten sich an wie süßes Gift. Sie waren falsch und es waren nicht die Worte, die zwischen einem Vater und seiner Tochter gesprochen werden sollten.

Dann sah sie, wie Heiner sein Geschlechtsteil entblößte. Es war erigiert und es sah irgendwie dick und bedrohlich aus. »Wie hässlich«, dachte sie. Dann rieb er dieses Teil an ihrem entblößten Hinterteil. Dabei wurde sein Gesicht immer röter und sein Atem ging immer schneller. Ihr Körper da unten sah aus wie der Körper einer Puppe. Er bewegte sich hin und her, im selben Rhythmus, wie der Mann sich bewegte. Es war so, als ob alles Lebendige aus dem Körper gewichen wäre.

Wieder spürte Sarah da oben den Impuls, in ihren Körper hineinzugehen, um ihm zu helfen, und wieder merkte sie, dass die Angst zu groß war. Dann fühlte sie plötzlich ein überwältigendes Schuldgefühl darüber, dass sie ihren Körper verlassen und da unten schutzlos zurückgelassen hatte.

Das Gefühl verstärkte zunehmend – es war wie eine graue Wolke, die sich ausbreitete. Sie wusste nicht mehr, ob es ihr Schuldgefühl war oder das des Mannes, der dort unten mit ihrem Körper etwas tat, was er niemals hätte tun sollen. Die graue Wolke breitete sich immer mehr über das Geschehen aus, so als ob sie es ganz erfasste. Dann fiel der Mann mit einem Aufstöhnen in sich zusammen. Sarah sah von oben die klebrige Flüssigkeit, die an dem Mädchenkörper haftete und ein paar Sekunden später war sie wieder in ihrem Körper.

Als Erstes spürte sie Ekel, verursacht durch die Flüssigkeit, die ihre Beine herunterkann, als Nächstes ihren Bauch, der sich wie ein Klumpen anfühlte, so als hätte sie einen großen, schweren Stein verschluckt. Dazu kamen Atemnot und Beklemmung. Am liebsten wäre sie sofort wieder aus ihrem Körper herausgegangen, aber es ging nicht mehr.

Heiner zog ein Taschentuch hervor und entfernte sich damit den Schweiß von der Stirn. Dann wischte er Sarah die Beine ab. Er zog seine Hose hoch und streifte ihr den Pullover und den Rock wieder über. Plötzlich spürte sie erneut die Schmerzen am Handgelenk und sie sah ihre gerötete Hand. Da erinnerte sie sich, wie die ganze Situation angefangen hatte, und sie wollte weinen. Aber auch das ging nicht. Die Tränen blieben ihr im Hals stecken. Sie nahm einen tiefen Atemzug, stand auf, rannte aus der Küche und in ihr Zimmer. Als sie die Türe hinter sich abgeschlossen hatte, warf sie sich aufs Bett und endlich kamen die erlösenden Tränen.

Sie weinte und weinte und es war so, als könne sie nicht mehr aufhören. Sie fühlte sich so unendlich verlassen wie noch niemals zuvor. Selbst nach den brutalen Prügelattacken ihrer Mutter hatte sie sich nicht so einsam gefühlt wie in diesem Moment. Auf Lilo konnte sie wenigstens wütend sein und denken: »Ich gehe hier weg, sobald ich alt genug bin.« Dann spürte sie ihre Kraft wieder und eine Zukunftsperspektive für ihr Leben, die jenseits dieses Elternhauses lag.

Jetzt aber war es anders. Ihre Welt oder das, was sie für ihre Welt gehalten hatte, war zusammengebrochen. Da, wo eigentlich ihr Herz war, war Leere. Die restlichen Teile ihres Körpers waren von Trauer und Schmerz überflutet. Sie fühlte sich wie in den Weltraum geworfen, nach Luft schnappend und nicht wissend, ob sie diesen Tag überleben würde und ob es danach noch einen anderen Tag gäbe.

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