Buddhismus. 100 Seiten

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Buddhismus. 100 Seiten
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Almut-Barbara Renger

Buddhismus. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

Für Klara, Johannes und Ferdinand

2020 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net

Infografiken: annodare GmbH, Agentur für Marketing

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961723-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020438-2

www.reclam.de

Inhalt

  Prolog: Innehalten im Wandel stetiger Veränderung

  Vom Bodhibaum zum modernen Buddhismus

  Buddhistische Praxis aus der Nähe

  Am Lotus-See – oder: Buddhismus, was ist das eigentlich?

  Im Tea House – oder: Leben und Legende des Buddha

  Auf den Kontext kommt es an

  Lektüretipps

  Bildnachweis

  Zur Autorin

  Über dieses Buch

  Leseprobe aus Zen. 100 Seiten


Prolog: Innehalten im Wandel stetiger Veränderung

Der Buddhismus ist ein lebendiger Teil der Weltkultur. Nachdem er über zwei Jahrtausende lang hauptsächlich in Asien verbreitet war, hat er am Beginn des 21. Jahrhunderts Fuß auf fast allen Kontinenten gefasst. In einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Welt, in der er sich, wie andere missionierende Religionen, an alle Menschen richtet, wird er auch im sogenannten Westen – insbesondere in Europa und Nordamerika, Australien und Neuseeland – immer beliebter. Die Zahl derer, die ihm weltweit folgen, wird auf rund eine halbe Milliarde geschätzt.

Dabei gibt es den Buddhismus, das sei vorausgeschickt, ebenso wenig wie das Christentum oder den Islam. Es handelt sich vielmehr um ein Gefüge von Bewegungen und Traditionen, das, in seinem beständigen Wandel, der Grundidee der buddhistischen Lehre entspricht: Nichts auf der Welt hat Bestand, alles ist veränderlich.

Die Veränderlichkeit, mit der sich der Buddhismus auseinandersetzt, zeigt sich auch in Europa, wo buddhistische Ideen und Philosophie seit über 300 Jahren bekannt sind. Die Europäer näherten sich dem Buddhismus zunächst über Textlektüren denkerisch-intellektuell an. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich seine Aneignung in eine erfahrungsbetont-pragmatische Richtung. Heute wird er in den Medien und der Breite der Gesellschaft vor allem mit Meditationsformen wie Zen und Vipassana oder der davon abgeleiteten Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) in Verbindung gebracht, die von Schulen bis in die Wirtschaft hinein Anwendung findet. Damit einher geht eine große Sichtbarkeit buddhistischer Bildsprache und -ästhetik in der Populär- und Alltagskultur. Buddha-Statuen in der Einrichtungs- und Wohnkultur zum Beispiel sind Teil des gesellschaftlichen Mainstreams geworden. Ihre Beliebtheit als exotisierender Dekor in privaten und öffentlichen Räumen verweist darauf, wie fließend die Grenzen zwischen Religion und Popkultur, Privatheit und Öffentlichkeit, Religiösem und Nichtreligiösem bisweilen sind.

Sehr viel weniger sichtbar dagegen ist die gelebte Religiosität des Buddhismus mit ihren kultischen Handlungen und Glaubensgeschichten, die sich um den Buddha und andere buddhistische Heilsgestalten ranken: Zwar sind Reliquienverehrung, Bilderkult und Pilgerwesen, Rituale zwecks Heilung und Schadensabwehr, Bitt- und Dankgebete für Ahnen und der reiche buddhistische Schatz an Mythen und Legenden das, was bis heute in Asien das Gesicht des Buddhismus prägt. Doch außerhalb dieses Kontinents, in der Bundesrepublik Deutschland etwa, werden sie in Medien und Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in der Geschichte des Buddhismus im Kontext europäischer Entdeckungsreisen und des Kolonialismus. Durch die Erschließung buddhistischer Texte, die im 19. Jahrhundert zum Beispiel aus Tibet, Nepal und Ceylon nach Europa gelangten, entwickelte sich im Austausch zwischen den Kontinenten ein Diskurs, in dem sich ›der‹ Buddhismus als Gegenstand herausbildete. Dabei versuchten asiatische Mönche und gebildete Laien, buddhistische Lehrinhalte und Praxiselemente in Einklang mit westlichen, modernen Konzepten zu bringen. Zugleich begaben sich europäische Gelehrte, ähnlich wie die historisch-kritische Jesusforschung in Schriften des Urchristentums nach Jesus von Nazareth forscht, auf die Suche nach dem historischen Buddha und den Anfängen des Buddhismus. Philip C. Almond beschreibt in The British Discovery of Buddhism (1988) ausführlich, wie die neu entdeckte Religion im Laufe dieser Suche immer mehr in frühen Texten verortet wurde, die in der Kolonialzeit gesammelt, herausgegeben und übersetzt wurden: Unter Bezug auf Inhalte, die als Worte des »Stifters« galten, wurde ein »wahrer Kern«, eine »ursprüngliche« Form des Buddhismus konstruiert. Ihr gegenüber galten die meisten Glaubens- und Praxisformen in Asien als verfälscht.

Diese Konstruktion des Buddhismus mit ihrer Marginalisierung zentraler asiatischer Erscheinungsformen ist bis heute wirkmächtig – und erschwert den Zugang zu dem, was den Buddhismus ausmacht: Vielfalt durch Veränderlichkeit. Wollen wir den Buddhismus verstehen, ist es von Vorteil, den Blick auch auf Formen gelebter Religiosität zu richten, die auf den ersten Blick befremdlich anmuten mögen, anstatt sie auszublenden oder gar aus einer ›modern-säkularen‹ Perspektive als rückständig abzutun. Dies gilt zumal dann, wenn wir in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft leben, die vor der Aufgabe steht, Andersheit anzuerkennen und Diskriminierung entgegenzuwirken. Der weltweite numerische Zuwachs des Buddhismus beruht zu einem Großteil auf Eingewanderten und Geflüchteten, die in asiatischen Kult- und Glaubensimporten Sinn und Identität finden.

Mit dem Folgenden möchte ich dazu anregen, einseitige westliche Ansichten über ›den‹ Buddhismus als »Religion, die eigentlich keine Religion« ist, zu hinterfragen. Dabei bieten die 100 Seiten lediglich eine kleine, durch persönliche Interessen und Erlebnisse bedingte Auswahl: Momentaufnahmen und Stationen des Innehaltens im dynamischen Wandel steter Veränderung dessen, was heute unter dem Sammelbegriff »Buddhismus« zusammengefasst wird.

Zur Schreib- und Zitierweise

Über den Buddhismus lässt sich in einer europäischen Sprache nicht ohne zentrale buddhistische Begriffe schreiben. Dies geschieht im vorliegenden Text in international üblicher wissenschaftlicher Umschrift. Dabei werden die kursivierten Fachausdrücke, sofern sie nicht eindeutig chinesischer, japanischer oder tibetischer Herkunft sind, in ihrer Sanskritform wiedergegeben. Schreibweisen in anderen Sprachen werden alternativ oder zusätzlich angeführt, wenn ein jeweiliger Bezug gegeben ist.

Da die 26 Buchstaben des deutschen Alphabets zur Wiedergabe der größeren Zahl von Schriftzeichen in den asiatischen Sprachen nicht ausreichen, erscheinen die Begriffe mit Diakritika: Ein Querbalken über einem Vokal dient zum Beispiel als Dehnungszeichen. Ausnahmen bilden Namen von Göttern, Personen und Orten sowie Begriffe wie ›Sutra‹, ›Karma‹ und ›Nirwana‹, die inzwischen Teil der deutschen Sprache sind oder im Text zuvor eingeführt wurden: Sie sind in der im Deutschen geläufigen vereinfachten Sanskrit-Schreibweise ohne angefügte Zeichen belassen.

Bei näheren Angaben zu Passagen aus dem Pali-Kanon sind die Abteilungen (nikāya), in denen die Texte kompiliert sind, abgekürzt in runden Klammern angegeben.

Abkürzungen


DN: Dīgha Nikāya chin.: Chinesisch
MN: Majjhima Nikāya jap.: Japanisch
SN: Saṃyutta Nikāya p.: Pali
Lv.: Lalitavistara skt.: Sanskrit
tib.: Tibetisch


Vom Bodhibaum zum modernen Buddhismus
Das Erwachen des Buddha

Seinen Anfang nahm alles, so wird erzählt, vor etwa 2500 Jahren im nordostindischen Uruvela (heute Bodhgaya). Es geschah unter einer Pappelfeige, mit botanischem Namen Ficus religiosa: Siddhartha Gautama, der ›Prinz‹ aus dem Clan der Shakya, damals 35 Jahre alt, erlangte das große »Erwachen« (bodhi) und damit seine Befreiung aus dem leidhaften Dasein im »Kreislauf der Wiedergeburten« (saṃsāra). Er wurde zum Buddha, zum »Erwachten« – und war fortan im Besitz vollkommener Erkenntnis des Weltgesetzes oder Dharma (dharma; p. dhamma), in dessen Zentrum die Möglichkeit des Übergangs von Samsara zu Nirwana steht. Bald darauf hielt er in einem Gazellenhain in Sarnath bei Benares seine erste Lehrrede, mit der er »das Rad der Lehre« (dharmacakra; p. dhammacakka) in Gang setzte, und legte mit der Gründung des Sangha den Grundstein für die Geschichte des Buddhismus.

 

Buddha-Statue aus der Kunstschule von Sarnath, Sandstein, 155 × 87 × 27 cm, Gupta-Zeit (ca. 500 n. Chr.). Sarnath Museum, Sarnath (Indien). Der Buddha setzt das »Rad der Lehre« in Gang. Darauf verweisen die beidhändige Geste (mudrā; p. muddā) und das Rad in zentraler Position unterhalb des Thronsitzes, das von den ersten fünf Schülern, einer Frau mit Kind und, als Hinweis auf den Ort, zwei Gazellen flankiert wird.

Es ist dieses Stiftungs- und Gründungsnarrativ, das die Wurzel des Buddhismus bildet. Buddhistinnen und Buddhisten aus aller Welt – Mönche, Nonnen und Nicht-Ordensmitglieder des Sangha, für die auch der Begriff »Laien« üblich ist – beziehen sich darauf, wenn sie »Dreifache Zuflucht« (triśaraṇa; p. tisaraṇa) nehmen zu den »Drei Juwelen« (triratna; p. tiratana). Damit gemeint ist, Bekenntnis davon abzulegen, dass sie sich auf Buddha, Dharma und Sangha verlassen, um zu Befreiung aus dem leidhaften Dasein zu gelangen. Dieses Narrativ ist über zweieinhalbtausend Jahre auf viele verschiedene Weisen erzählt und mit religiösen Handlungen verbunden worden – in kulturell so unterschiedlichen Ländern und Teilen der Welt wie Indien und Thailand, Korea und Tibet, Südamerika und Südafrika.

Der Sangha – Mönche, Nonnen und Nicht-Ordensmitglieder

Laut Überlieferung erlangten in Sarnath die ersten fünf Hörer die vollkommene Erkenntnis, und der Buddha ›ordinierte sie als Mönche (bhikṣu; p. bhikkhu), womit der buddhistische »Orden« (saṃgha; p. saṅgha) gegründet war. In einem engeren Sinne bezeichnete der Begriff Sangha (›Versammlung, Gemeinschaft‹) zunächst nur die Mönche und später Nonnen (bhikṣuṇī; p. bhikkhunī). Im weiten Verständnis umfasst er auch die Laienanhänger (upāsaka) und Laienanhängerinnen (upāsikā), die Zuflucht zu den »Drei Juwelen« genommen und sich verpflichtet haben, ein ethisches Leben auf Basis der »Fünf Gebote« (pañcaśīla; p. pañcasīla) zu führen: nicht zu töten, nicht zu stehlen, sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden, nicht zu lügen und keine berauschenden Getränke zu sich zu nehmen. Novizen und Novizinnen befolgen zehn Regeln, Mönche je nach Tradition 227, 250 oder 253 Regeln, Nonnen 311, 348 oder 364 Regeln.

Dabei haben sich seit jeher an Gautama (p. Gotama), der aufgrund seiner Herkunft auch als »der Weise der Shakyas« (Śākyamuni; p. Sakyamuni) bekannt ist, ungezählte Geschichten geheftet; und es entstanden Lebensgemeinschaften und »Schulen« (vāda) mit jeweils spezifischen Lehren und Kultpraktiken. An sie knüpfen sich wiederum verschiedene Buddha-Vorstellungen, Gautama ebenso wie andere Figuren betreffend. Nach buddhistischer Ansicht ist der Buddha keine singuläre Erscheinung, sondern es gibt viele Buddhas. Darunter sind Vorläufer von Shakyamuni, vorzeitliche, nicht historisch belegte Buddhas, von denen er als der historische Buddha, der letzte, der auf der Welt erschien, unterschieden wird, und solche, die ihm in Zukunft folgen, als nächster der Buddha Maitreya (p. Metteyya). Sie alle weisen den Weg aus dem Daseinskreislauf, der buddhistischem Verständnis nach deshalb leidhaft ist, da der unaufhörliche Wandel, den er beinhaltet, nicht als positiv, sondern als zutiefst unbefriedigend empfunden wird: Glück ist nie beständig, alle schönen Phasen im Leben vergehen, jeder Mensch wird alt, erkrankt und stirbt.

Wer sich dem Buddhismus zugehörig fühlt, glaubt, dass ein Buddha den Menschen in der Überwindung dieser leidhaften Existenz Vorbild und Beispiel ist. ›Buddha‹ bedeutet ›erwacht‹ und ist, wie die Überlieferung zu Gautama veranschaulicht, sowohl eine Beschreibung als auch ein Ehrentitel. Er bezieht sich bei Gautama auf die Zeit nach dem, was mit bodhi (dem Verbalnomen zu buddha) bildhaft als ›Erwachen‹ bezeichnet wird, um zu vermitteln, dass ihm die Erkenntnis ›die Augen geöffnet hat. Buddhistischem Glauben nach ist Gautama in der Nacht unter dem Ficus, später Bodhibaum (›Baum des Erwachens‹) genannt, in drei Schritten die richtige Perspektive auf die Welt und ihre Wirklichkeit aufgegangen: Erst wurde er seiner eigenen früheren Leben gewahr. Dann durchschaute er alle Existenzen infolge des überall wirksamen Gesetzes der Tatvergeltung (Karma). Und schließlich erkannte er die Wurzeln des menschlichen Verhängnisses und verstand, wie man dem Leiden (duḥkha; p. dukkha), das im welthaften Dasein unausweichlich ist, letztlich doch – endgültig – entfliehen kann.

Die Details dieser Erkenntnisse variieren in den Quellentexten. Mal werden sie als die vier »Edlen Wahrheiten« über das Leiden geschildert, die auch Gegenstand seiner ersten Lehrrede sind (siehe S. 37). Mal ist es das Wissen darüber, wie die unheilvollen »Einströmungen« (āśrava; p. āsava), die auf den Geist einwirken, ausgelöscht werden können. Mal wird die zwölfteilige Reihe des »Entstehens in Abhängigkeit« (siehe S. 77) angeführt. Entscheidend ist das Ergebnis: Gautama ist erlöst vom Unheilszusammenhang der drei »Geistesgifte« beziehungsweise unheilsamen »Wurzeln« (mūla) Gier, Hass und Unwissenheit, die als die hauptsächlichen »Befleckungen« (kleśa; p. kilesa) des Geistes gelten und das Rad der Wiedergeburt in Bewegung halten. Er ruht frei von jedwedem Begehren in der inneren Gewissheit, mit dem Tod endgültig zu vergehen. Eine neue Geburt wird nicht mehr stattfinden.

In diesem Sinne steht der Buddha sowohl für die Einsicht in den Leidzusammenhang der Welt, seine Ursache und seine Auflösung als auch für den Weg, der aus dem Leiden herausführt. Das Vertrauen, das Buddhistinnen und Buddhisten in ihn setzen, speist sich daraus, dass sich sein Erkennen nicht nur auf intellektueller Ebene vollzog, sondern ihm zur Erfahrung wurde – und er hernach aus dieser Erfahrung lebte, was er lehrte. Lehrer und Lehre sind im Buddhismus eins. Gautama selbst formulierte diesen Grundsatz am Ende seines Lebens, als er erklärte, nach seinem Dahinscheiden seien seine Lehre und die Ordensregeln als Lehrer anzusehen.

Diese Anweisung, die das Mahāparinibbāṇa Sutta des Pali-Kanon (DN 16,6,1) überliefert, ist für Buddhistinnen und Buddhisten höchst bedeutsam: Für sie lebt der Buddha in der Überlieferung weiter. Aus ihr geht klar hervor, was förderlich, ja was zu tun und was zu lassen ist, um zum grundlegenden Perspektivenwechsel eines Buddhas zu erwachen. Buddhistisches Streben gilt dem Ziel, diese klare Sicht zu erlangen und mit ihrer Hilfe jedwedes Geistesgift zu überwinden, Karma auszulöschen und die Wanderung durch die Existenzen zu beenden.

In diesseitiger Ausrichtung beinhaltet diese Vision ein Leben in dem stillen, leuchtenden Gleichmut, den wir mit dem typischen, in sich gekehrten Gesichtsausdruck von Buddha-Darstellungen (die Augenlider halb geschlossen) verknüpfen: Während der unerlöste Mensch leidet, weil er mit Unliebem vereint ist, von Geliebtem getrennt wird und Begehrtes nicht erlangt, ist der verwirklichte »Erwachte« von alledem frei. Welchen Herausforderungen auch immer er begegnet: Er ruht in einem Zustand absoluten Friedens und absoluter Wunschlosigkeit, in dem Gier, Hass und Unwissenheit, die den Nährboden für alle unheilsamen Handlungen auf geistiger, verbaler und körperlicher Ebene bilden, überwunden sind.

Buddhismus und Moderne

Wenn auch Erlösungsbedürftigkeit in diesem Sinne der gemeinsame Nenner aller Traditionen ist, die sich seit dem Wirken des Buddha gebildet haben, sind doch ihre Unterschiede so groß, dass die Forschung angeregt hat, man solle von Buddhismen sprechen. In den 2500 Jahren, in denen buddhistische Vorstellungen und Glaubensinhalte in immer neue Gesellschaften und Kulturen fanden, hat sich die Überlieferung ständig verändert. Vieles davon ist wiederum selbst Tradition geworden. Es hat einen Platz in Glaubenssätzen und Philosophien erhalten, ist zu Regeln und Vorschriften geronnen, hat Ausdruck in Architekturen und Artefakten gefunden und sich zu Gebeten und Gesängen verschiedener Strömungen, Schulrichtungen und Traditionslinien verdichtet. Sie alle gehen mit dem Problem der Leidhaftigkeit menschlicher Existenz und seiner Lösung jeweils unterschiedlich um.

Einmal mehr befördert wurde die komplexe Gemengelage durch Entwicklungen in der Moderne. Zwar sind wohl bereits in der Antike und Spätantike buddhistische Anschauungen vereinzelt auf Wegen von Indien über Baktrien bis nach Alexandrien gelangt – und später durch Handelsreisende wie Marco Polo (1254–1324) und Missionare wie Matteo Ricci (1552–1610) nach Europa. Doch in der westlichen Hemisphäre Fuß gefasst hat der Buddhismus erst durch kolonialistisch bedingte Begegnungsszenarien des 19. Jahrhunderts.

Infolgedessen ist der Buddhismus im 21. Jahrhundert aus der religiös-weltanschaulichen Landschaft Europas nicht mehr wegzudenken. Dabei fällt sein Erscheinungsbild mitunter vielfältiger aus als in asiatischen Ländern. Ist er doch, anders als in Asien, in Europa innerhalb eines Landes, ja einer Stadt, oft in seiner ganzen Bandbreite süd- und ostasiatischer wie tibetisch-mongolischer Traditionen vertreten. In dieser Pluralität am stärksten präsent ist er in Frankreich. In Österreich genießt er seit über 30 Jahren Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, und auch in Deutschland bildet der Buddhismus die erklärte Religion von, je nach Statistik, 200 000 bis 300 000 Menschen. Ihr Dachverband ist die Deutsche Buddhistische Union (DBU). Sie ist wiederum Mitglied der Europäischen Buddhistischen Union (EBU), die 1975 als Dachorganisation nationaler, später auch anderer buddhistischer Organisationen, Zentren und Gruppen in Europa gegründet wurde.


Besondere Anziehungskraft hatte der Buddhismus in Europa zunächst für Intellektuelle, namentlich Künstler und Philosophen verschiedenster Richtungen, die in ihm eine Alternative zum Christentum sahen. Zu den frühesten Befürwortern zählen etwa der Dichter Friedrich Schlegel (1772–1829), der meinte, in Sanskrittexten die verlorene, authentische Spiritualität Indiens wiederentdecken zu können; der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860), der in der buddhistischen Lehre – er sprach von »Buddhaismus« – eine Bestätigung seiner eigenen Philosophie fand; der Pali-Forscher Thomas W. Rhys Davids (1843–1922), der 1881 die Pali Text Society gründete und so substantiell zur wissenschaftlichen Erschließung des Buddhismus beitrug; und der Musiker Anton W. F. Gueth (1878–1957), der von Ceylon, heute Sri Lanka, aus maßgeblich die sich in Deutschland formierende buddhistische Bewegung beeinflusste.

Gueth gehörte zu den ersten buddhistischen Ordinierten europäischer Herkunft. Nach seiner Mönchsweihe 1904 in Birma übersetzte er unter seinem Ordensnamen Nyanatiloka wichtige buddhistische Texte ins Deutsche und gründete 1911 in Südceylon das Kloster »Island Hermitage«, das zu einem Zentrum für europäische Buddhisten in Südasien wurde. Ebenfalls von Ceylon aus wirkte der singhalesische Buddhismus-Reformer David Hewavitarne (1864–1933), der sich selbst Dharmapala (›Dharmaschützer‹) nannte und zu einer Führungsfigur der geistigen Erneuerung des Buddhismus mit Einfluss weit über Asien hinaus wurde.

 

In diesen Verflechtungsdynamiken, die David L. McMahan in The Making of Buddhist Modernism (2008) beschrieben hat, ist ein moderner Buddhismus rationalen Zuschnitts entstanden. Er ist heute – nicht zuletzt dank Zeitungen und Zeitschriften, Film und Fernsehen, Internet und Social Media – weltweit verbreitet. Sein Buddhabild ist das eines rationalen Analytikers, sein Verständnis des Buddhismus das einer Philosophie oder Vernunftreligion.

Diese Sichtweise entstand im Zusammenwirken europäischer Indologen wie Eugène Burnouf (1801–1852) und Hermann Oldenberg (1854–1920), deren Namen für die Entmythologisierung des Buddhismus in der Moderne stehen, mit asiatischen Mönchen und Intellektuellen, denen die populären Formen buddhistischer Religiosität als reformbedürftig erschienen.

Das spirituelle Angebot für den modernen aufgeklärten Menschen, das daraus hervorging, bestimmt die Wahrnehmung des Buddhismus vor allem im Westen bis heute. Praktiken der gelebten Religiosität werden tendenziell als überholt, ja mitunter gar als Abirrungen einer vermeintlich ursprünglichen philosophischen Lehre abgetan. ›Reiner‹ Buddhismus, so heißt es gerne, beruhe nicht auf Glauben, sondern auf Erkenntnis und Erfahrung. Indem er Dogma und Ritual ablehne, ermögliche er jedem einzelnen Menschen, sich mit geeigneten Mitteln wie Meditation eigenverantwortlich zu verändern. Soziales Engagement und die Suche nach Lösungen für globale Probleme wie Umweltzerstörung, Überbevölkerung, Armut und Menschenrechtsverletzung gehören ebenfalls zum modernen Bild des Buddhismus.

Maßgebliche Faktoren dieser Entwicklung sind die gesellschaftlichen Megatrends Individualisierung, Säkularisierung und Kommerzialisierung. Meditationstechniken, wie sie in der globalen Achtsamkeitsbewegung vermittelt werden, legen den Akzent auf Individuum und Selbsterfahrung. Befürworter eines säkularen Buddhismus wie Stephen Batchelor (geb. 1953) treten für eine ›ursprünglich rationale Lehre des Buddha‹ ein und deuten Glaubensinhalte früher Lehrtexte als behelfsmäßige Zugeständnisse an die damalige Umwelt. Kommerzialisierte buddhistische Bilder und Gegenstände, die einstmals für Rituale gedacht waren, dienen, wie Bekleidung und Möblierung von Privatwohnungen über Bars bis zu Wellness-Oasen bezeugen, als Accessoire. Dadurch sind bestimmte Inhalte und Praktiken des Buddhismus (wie Buddha-Bilder und Meditationsformen) Teil einer »unsichtbaren Religion« im Sinne der Metapher von Thomas Luckmann (1927–2016) geworden. Zwar sind sie als solche durchaus sichtbar, ja erhalten mitunter gar besondere öffentliche, vor allem mediale Aufmerksamkeit. Ihre religiösen Funktionen werden aber zunehmend von nicht-religiösen Strukturen getragen. Aus herkömmlichen Organisationsformen des Buddhismus in andere Kontexte verschoben, treten sie in einer sozialen und kommunikativen Form auf, die nicht mehr als religiös erkennbar ist.

Fahren wir dagegen in buddhistische Länder, erleben wir etwas anderes. Zwar ist der Buddhismus auch dort, je nach Kontext auf andere Weise, Teil des Marktgeschehens, und es lassen sich Rückwirkungen der drei Megatrends beobachten, in denen herkömmlich institutionalisierte Formen des Buddhismus von neuen Formen der Religiosität durchsetzt und um diese ergänzt werden. Letztlich herrschen in Asien aber vom buddhistischen Orden getragene Organisationsformen vor, in denen die Vermittlung von Dogmen, gelebte Religiosität mit Altarpflege, Gebeten und Niederwerfungen, regelmäßige Morgen- und Abendzeremonien sowie öffentliche Feste im Vordergrund stehen. Sie sind integraler Bestandteil einer öffentlich sichtbaren Religion – und dies nicht nur in Ländern, in denen der Buddhismus (wie in Kambodscha, Thailand und Bhutan) Staatsreligion ist.

Auch in der Volksrepublik China etwa gibt es – bedingt durch die Reform- und Öffnungspolitik der Kommunistischen Partei seit 1978 – einen institutionell um den buddhistischen Orden herum organisierten Buddhismus, der von glaubensgeführten Aspekten und Formen religiösen Vollzugs bestimmt ist. Seine öffentliche Sichtbarkeit steigt in dem Maß, in dem er ausdrücklich dem Wohlergehen der Gesellschaft dient und im Einklang mit den Vorgaben und Sicherheitsbestrebungen des Staats steht. So gehört zu den besonders erfolgreichen Akteuren des Wieder- und Neuaufbaus des chinesischen Buddhismus nach der Kulturrevolution der Mönch Jinghui (1933–2013), der die in China traditionsgängige Synthese von Chan-Schule (chin. Chanzong) und Reines-Land-Schule (chin. Jingtu zong) mit dem Postulat eines lebensnahen, den politischen Gegebenheiten entsprechenden Buddhismus verband. Legitimationsgrundlage seines »Lebens-Chan« (chin. shenghuo chan) war das in China gängige Konzept des »humanistischen Buddhismus« (chin. renjian fojiao; ›Buddhismus für die Menschenwelt‹), das an reformorientierte Vorbilder des frühen 20. Jahrhunderts anknüpft und den Zweck hat, den Buddhismus an die Moderne anzupassen. Insbesondere lehnte sich Jinghui an die Forderung des Chan-Mönches Taixu (1890–1947) an, ein »Reines Land auf Erden« (chin. renjian jingtu) zu verwirklichen, indem er den gelebten »Sozialismus chinesischer Prägung« zu einem solchen erklärte.

Vergleichbare Formen erklärter Weltzugewandtheit sind im chinesischen Buddhismus der Volksrepublik keine Seltenheit, ohne dass dadurch die übliche Klosterpraxis beschnitten oder der Buddha eine rationale Deutung erfahren würde: Der Chan ist in einen devotionalen Tempelkult um den »Buddha des grenzenlosen Lichts« Amituofo (Buddha Amitābha) eingebettet, die Geschichte von Shijiamunifo (Buddha Śākyamuni) ein Akt im kosmischen Heilsdrama. Darin bemühen sich verschiedene »Erwachte«, die Lebewesen aus dem endlosen, leidvollen Kreislauf von Karma und Wiedergeburt mit seinen Himmeln und Höllen zu retten. Einige dieser Gestalten, wie der Medizin-Buddha Yaoshifo (skt. Bhaiṣajyaguru), der alle Krankheiten heilt, sind besonders populär, ihre Kultstatuen fehlen in keinem Tempel. Dazu gehören auch die drei, die regelmäßig um Shijiamunifo gruppiert sind: In seinem Rücken, am Ufer des Meeres meditierend, sieht man Guanyin (skt. Avalokiteśvara), Verkörperung des Mitgefühls; zu seiner Linken, auf einem Löwen reitend, Wenshu (skt. Mañjuśrī), der Weisheit und Gelehrsamkeit repräsentiert; zur Rechten, auf einem Elefanten, Puxian (skt. Samantabhadra), den geistigen Zwillingsbruder Wenshus. Eine weitere populäre Gestalt ist Dizang (skt. Kṣitigarbha), Oberherr der Höllenbereiche, der die Menschen aus Pein und Grauen errettet – erkennbar am langen Stab, den er hält. Alle vier werden in China mit einem der vier heiligen Berge identifiziert, die beliebte buddhistische Pilgerstätten bilden: Wenshu mit dem Wutaishan in der Provinz Shanxi, Dizang mit dem Jiuhuashan in Anhui, Puxian mit dem Emeishan in Sichuan und Guanyin mit dem Putuoshan, einer Insel der Provinz Zhejiang.

Zum Erscheinungsbild und der Haltung, in denen diese Kultfiguren dargestellt sind, gibt es überall in Asien, wo sie angerufen werden und Verehrung erfahren, zahllose Glaubensgeschichten. Wie auch die Andachten, rituellen Gesänge und Opfergaben auf Altären und in Räuchergefäßen dienen die Bildnisse dem tiefen menschlichen Anliegen, mit unserem kurzen und oft schmerzlichen Leben zurechtzukommen.

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