Der vertauschte Sohn

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Andrea Camilleri

Der vertauschte Sohn

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel

Biografia del figlio cambiato bei Rizzoli in Mailand.

E-Book-Ausgabe 2015

© 2000 RCS Libri S.p.A., Milano

© 2001 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4172 9

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3159 6

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König Zosimo Roman

Ein vergnüglicher Roman über den Bauern Zosimo, der im Jahre 1718 in Agrigent nach dem Willen des sizilianischen Volkes zum König gekrönt wird. Komisch, fantasievoll, verschroben, deftig, spannend wie nur Camilleri erzählen kann.

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Camilleris Sizilien ist auch die Heimat eines der bedeutendsten italienischen Autoren des 20. Jahrhunderts: Luigi Pirandello, der Erneuerer des Theaters und große Erzähler, war wie Camilleri in Porto Empedocle zu Hause.

Kunstvoll ineinandergefügt erzählt Andrea Camilleri von Pirandellos und seiner eigenen Kindheit und Jugend zwischen Agrigent und Porto Empedocle, von schrulligen Verwandten, komischen Dorfbewohnern, sizilianischen Märchen.

»Ich schreibe über das Leben von Luigi Pirandello von einem durch und durch persönlichen Standpunkt aus«, sagt Camilleri. Auf höchst unterhaltsame Weise erfahren wir bislang Unbekanntes über Pirandellos Leben und Werk und natürlich viel über Andrea Camilleri, der erst bei den Recherchen zum Buch von seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Pirandello erfuhr.

»Ein Schriftsteller, der seine Leser verzaubert.«

Giuseppe Conte, Il Giornale

ERSTER TEIL

Ein Ort Die Geburt Die Milch

Der Vater, die Mutter

Die Erinnerung an das Dunkel

Porto Empedocle, Girgenti

Über das Verriegeln von Fenstern

Maria Stella Der vertauschte Sohn

Luigi, der vertauschte Sohn Das Sakrileg

Die Kirche als Familie Die Frage

Die Übertretung Das Brandmal

Schulwechsel Die imaginierte Flucht

Eine Variante »Barbar«

Palermo – Porta di Castro Giovanna

Ende der Ferien Die tödliche Krankheit

Die Fundamentierung Die Gekränkte

Der Zweikampf

Der Wahnsinn im richtigen Augenblick

ZWEITER TEIL

Sizilianische Freundschaft Lina

Der Schwefel Die Loslösung Rom

Die Universität Die beiden Krankheiten

Como Bonn Jenny

Ein Altar im Herzen Die Promotion

Rückkehr und Abreise

Ich bin nicht klein geboren

Das Geschäft Kurz, das glückliche Leben

Der Sommer 1899 Herr Professor

Das verfluchte Jahr 1903

Ich hieß Mattia Pascal

DRITTER TEIL

Der grauenvolle Abgrund

Das Schlafzimmer

Der Wahnsinn meiner Frau bin ich

Der stechende Verdacht Warum?

Stefano, Lietta, Fausto 1915

Noch einmal Krieg Lietta will heiraten

Don Stefano kommt Der Vergleich

Das große Puzzle

Der Abend der Uraufführung Viele Tränen

Der wiedergefundene Vater

Die griechische Vase Die Veränderung

Die Wiederholung: Lietta

Die Wiederholung: Fausto

 

Die Wiederholung: Stefano

Kurze Geschichte des »Märchens«

Lächelnde Glückseligkeit

Was ist denn wahr? Doch nichts

Ich muß um Entschuldigung bitten

Der Sarazenen-Ölbaum

Anmerkungen

»Luigi schreibt nur ziemlich selten, und ich finde keinen Frieden, weil ich weiß, daß sein Lebensweg mit Dornen gesät ist, aber ich sehe auch, daß es kein Hilfsmittel gibt, denn so ist nun einmal sein Wesen. Wieviel zufriedener wäre ich, wenn er weniger intelligent wäre und ein Leben der Lebenden führen könnte!«

Aus einem Brief der Mutter Luigi Pirandellos an die Tochter Lina, datiert »Porto Empedocle, 21. Januar 1889«.

ERSTER TEIL

An einem farbigen Morgen des Monats September 1866 wurden der Adel, die Wohlhabenden, die Bürgerlichen, die Groß- und die Einzelhändler, die Herren mit Hut und die mit Schiebermütze, die Garnisonen und ihre Kommandanten, die Angestellten in den Büros, den Nebenbüros und Unterbüros der Behörden, die nach der Einigung Italiens wütender über Sizilien hereingebrochen waren als ein Heuschreckenschwarm, plötzlich und ziemlich unwirsch von einem grauenhaften Stimmengewirr, von Schüssen, Wagengerassel, schnaubenden Tieren, Laufschritten und Hilferufen aufgescheucht.

Drei- bis viertausend bewaffnete Bauern der Landstriche um Palermo, die zum großen Teil von ehemaligen Anführern militärischer Abteilungen des Garibaldinischen Feldzugs kommandiert wurden, stürmten die Stadt. Im Handumdrehen kapitulierte Palermo, fast ohne Widerstand: den Bauern schloß sich dann noch das einfache Volk an, und gemeinsam brachen sie einen Aufstand los, der zunächst unbezähmbar schien.

Doch nicht alle Bewohner von Palermo waren überrascht. Die ganze Nacht über waren diejenigen aufgeblieben und hatten Wache gehalten, die darauf warteten, daß sich ereignen würde, was sich ereignen mußte: die Priester in den Sakristeien, die Mönche und Nonnen in den Klöstern, ein paar nostalgische, reaktionäre Herren von Adel in ihren reichen Stadtpalais. Sie waren es, die diesen Aufstand ausgelöst hatten, den sie »republikanisch« nannten. Die Sizilianer aber nannten den Aufstand, mit der Ironie, die oft auch noch ihre tragischsten Geschichten salzt, den der »Siebeneinhalb«, weil diese Erhebung siebeneinhalb Tage gedauert hatte. Und es soll daran erinnert werden, daß »Siebeneinhalb« auch ein harmloses, vergnügliches Kartenspiel ist, das sogar die Kleinen bei den weihnachtlichen Spielrunden mitspielen dürfen.

General Raffaele Cadorna – mit einer Kugel an langer Leine auf die Insel geschossen – schreibt an seine Vorgesetzten, daß der Aufstand unter anderem aufgrund »der beinahe völligen Versiegung der Ressourcen des Öffentlichen Vermögens« entstehe, wobei dieses »beinahe« eine warme Windel ist, ein winziges bißchen Vaseline, um das grundlegende, das stillschweigend gemeinte Konzept einzuführen, daß, wenn die Ressourcen versiegt sind, dies ganz gewiß nicht die Schuld der Ureinwohner sei, sondern die einer unsinnigen Wirtschaftspolitik gegenüber dem Mezzogiorno Italiens.

Für Marchese Torrearsa hingegen, einen Mann der gemäßigten Rechten, sind die Gründe »in der gründlichen Demoralisierung der Massen« zu suchen.

Mazzini, der diese Revolte zwar als »republikanisch« bezeichnete, war zu ihr bereits auf Distanz gegangen: ausgestattet mit einem feinen Gespür für alles, was nach Kirche und Klöstern roch, hatte er seit langem die Überzeugung gewonnen, daß es besser sei, sich von jedem Aufruhr fernzuhalten, der von Weihrauch umwölkt wird.

Aber »du kannst ihn drehen, wie du willst, es bleibt doch immer derselbe Kürbis«, sagt man bei uns in Sizilien. Und tatsächlich antwortet die Regierung mit dem einzigen Wort, das sie seit der Einigung für jeden Aufruhr im Süden anwendet, sei er gerechtfertigt oder nicht: Unterdrückung.

So kommen, wenn auch mit einiger Verspätung, die Truppen, um die Revolte zu unterdrücken. Zwar waren sie mit vernünftigen Waffen ausgestattet, das schon, aber ohne es zu wissen, schleppten sie eine Waffe mit sich, die furchtbarer war als Gewehre und Kanonen, eine schreckliche, eine unsichtbare Waffe.

Mit den Soldaten ging auf der Insel die Cholera an Land, die ihre Ansteckungsherde bereits in anderen Teilen Italiens hatte.

Bis zu diesem Augenblick war man in der Lage gewesen, durch strenge Hafenkontrollen die Übertragungsgefahr fernzuhalten, doch militärische Notwendigkeiten machten diese Kontrollen weniger unerbittlich. Tatsache ist, daß die Cholera im Gleichschritt mit den Truppen vorwärtsdrängte, und auf der Insel fand sie Gelegenheit, sich spannen- und ellenweise auszubreiten: von Oktober 1866 bis August 1867 fanden ungefähr fünfundfünfzigtausend Menschen den Tod.

Dieses Zusammentreffen inspirierte den einen und anderen genialen antiunitarischen Aktivisten auf goebbelsche Weise. Man erfand das gleich für bare Münze gehaltene Gerücht, die Regierung selbst habe diese Ansteckung verbreitet, und zwar in der eindeutigen Absicht, die Sizilianer umzubringen, die den hohen Herren mit ihren Revolten und Forderungen gehörig auf den Geist gingen, und auch, weil, wenn die Erbschaftssteuer nur ein ganz klein wenig angehoben würde, diese Herren mit all diesen Toten einen schönen Batzen Steuergelder einnehmen könnten.

Ein Gutteil der Bevölkerung, die seit der Einigung eine gehörige Unzufriedenheit mit sich herumschleppte, glaubte an diese Version so fest, daß Nino Martoglio sich verpflichtet fühlte, eine zauberhafte Dialektkomödie zu schreiben, ‘U Contra (Das Gegengift), mit einer genialen erfundenen Figur, Don Cosimo Ballaccheri, der hingegen erklärte, warum die Regierung überhaupt nichts damit zu tun habe und seine eigene schrullige Theorie über diese Angelegenheit darlegte.

Die Reichen, die Wohlhabenden, die Adeligen verschwanden innerhalb von so kurzer Zeit von der Insel, wie es einundfünfzig Jahre später nicht einmal die Revolution in Rußland fertig gebracht hatte: einige von ihnen landeten gar in London oder in Konstantinopel. Wer nicht das nötige Kleingeld hatte, um sich davonzumachen, mußte gezwungenermaßen zurückbleiben und sich durch Dörfer und Städte schlagen, unter der ständigen Bedrohung einer Ansteckung.

Wer Bekannte hatte, brachte Frau und Kinder in Häuser von Bauern oder Freunden auf dem Land. Wer dagegen das Glück hatte, ein Landhaus sein eigen zu nennen, war dort verhältnismäßig sicher.

EIN ORT

An der Südküste Siziliens gibt es eine Ortschaft, die heißt Porto Empedocle. Bevor sie eine eigenständige Gemeinde wurde, war sie ein Ortsteil von Girgenti (Agrigent): die sogenannte »Borgata Molo« (Mole-Vorstadt) mit annähernd dreitausend Einwohnern, die allesamt von den blühenden, lautstarken Handelsgeschäften im Hafen mit Schwefel, Salz, Weizen und anderem Getreide lebten, Erzeugnissen, die aus dem Inneren der Insel kamen.

»Unterort Molo«, so nannten ihn die Girgentaner, die die Autonomiebestrebungen dieses kleinen Ortsteils belächelten. Welcher, um es ganz offen zu sagen, sich von Girgenti einigermaßen unterschied, denn Girgenti hatte über sechzehntausend Einwohner, davon 237 Priester, 211 Mönche und 203 Nonnen. Die »Borgata Molo« hatte lediglich zwei Priester, keinen Mönch und keine Nonne.

Das letzte Wort in diesem ständigen Streit zwischen »Girgentanern« und »Marinisern« (das heißt den Bewohnern der Meeresortschaft) sprach Ferdinand II. in Person, welcher, per Königlichem Dekret, erlassen auf Ischia am 18. August 1852, festlegte, daß »mit dem 1sten Januar 1853 die Borgata del Molo von Girgenti von der Gemeindeverwaltung dieser Stadt losgelöst und ein eigenständiges Gemeinwesen mit eigener und unabhängiger Verwaltung bilden wird«. Dadurch wurde es notwendig, eine Liste der wählbaren Männer aufzustellen. Diese mußten mindestens zwei unverzichtbare Erfordernisse erfüllen: sie mußten lesen und schreiben können und in der Liste der Steuerzahler aufgeführt sein. Auf dreitausend Einwohner kamen siebzig Namen zusammen.

Und so entstand Porto Empedocle, zu Ehren des Philosophen und Arztes Empedokles, des Ruhms und des Stolzes von Akragas, wie Girgenti damals, in der griechischen Antike, genannt wurde.

An einer unvorteilhaften Stelle in die Welt zu treten, ist kein ausschließliches Vorrecht der Menschen. Auch ein Ortsteil entsteht nicht wie oder wo er es gerne hätte, sondern dort, wo aus dem einen oder anderen natürlichen Bedürfnis das Leben es verlangt. Und wenn zu viele Menschen, von derlei Bedürfnissen gezwungen, sich an dieser Stelle zusammenfinden und zu viele dort geboren werden und die Stelle zu eng ist, muß ein Ortsteil mit vielen Nachteilen entstehen. Wenn Nisia sich ausdehnen wollte, mußte es in die Höhe klettern, ein Haus über dem anderen, an den Mergelhängen des angrenzenden Hochplateaus, das, nur wenig hinter dem Ortskern, bedrohlich zum Meer hin abfällt. Frei und uneingeschränkt hätte der Ortsteil sich auf diesem weiten luftigen Hochplateau ausdehnen können; aber damit hätte er sich auch vom Meeresufer entfernt. Vielleicht würde man ja eines Tages ein Haus, notgedrungen dort oben hingebaut, unter dem Hut seiner Dachziegel und eingehüllt in den Schal seines Verputzes wie eine Ente zum Ufer hinunterwatscheln sehen. Denn da unten, am Ufer, da pulsierte das Leben.

So erzählt Pirandello in einer Novelle das Entstehen von Porto Empedocle, das er hier Nisia nennt. Und wirklich pulsierte hier das Leben, wenn der kleine Ort, wie man im Dizionario topografico della Sicilia von 1859 nachlesen kann, eine große Schwefelraffinerie und einen Telegrafen besaß, der Sitz zahlreicher ausländischer Konsulate war, sehr fortschrittlich wirkte und in ständiger Ausdehnung begriffen war.

Die Grenzlinie zwischen beiden Gemeinden längs der Küstenstraße wurde in Höhe der Mündung eines seit Urzeiten ausgetrockneten Flußbetts festgelegt, das ein Gemeindegebiet in zwei Teile zertrennte, das »‘u Càvusu« oder auch »‘u Càusu« hieß und so dicht von Bäumen bewachsen war, daß man denken konnte, es sei ein Wald.

Nun bedeutet im sizilianischen Dialekt sowohl »càvusu« als auch »càusu« das gleiche, nämlich: Hose. Und tatsächlich mußte diese durch das ausgetrocknete, ausgedörrte Flußbett in zwei Teile gespaltene Hochebene auf jemanden, der sich vom Meer her näherte, wie eine Hose gewirkt haben.

Und nun gehörte eine Hälfte dieses Càvusu zur neuen Gemeinde von Porto Empedocle und die andere zur Gemeinde von Girgenti.

Eines schönen Tages sagte sich ein Beamter des Einwohnermeldeamtes, es könne nicht angehen, ins Geburtsregister zu schreiben, daß das Kind eines Bauern in einer Hose zur Welt gekommen sei, und änderte das volkssprachliche »Càusu« in »Caos«.

Und seitdem heißt dieses Gemeindegebiet Caos.

DIE GEBURT

Signora Caterina Ricci Gramitto, verheiratet mit Stefano Pirandello, Schwefelhändler, bewohnt das große Haus in Porto Empedocle mit ihrer Erstgeborenen Rosolina (so getauft zu Ehren von Rosolino Pilo, dem General unter Garibaldi), kurz Lina genannt.

Als die Cholera ausbricht, ist Signora Caterina wieder schwanger und hat das Zimmer herrichten lassen, in dem schon Lina zur Welt gekommen ist und in dem nun auch das neue Kind das Licht der Welt erblicken soll.

Doch die Angst vor einer Ansteckung ist groß. Der Gatte bringt sie zusammen mit der Tochter in ein kleines Haus auf dem Land, das fast am Abhang des ausgetrockneten Flußbettes steht, und von wo aus man das Meer sehen kann. Das Haus befindet sich genau an der Stelle, wo das Gemeindegebiet von Girgenti beginnt. Don Stefano ist kein häuslicher Typ: zum einen, weil er wirklich viel zwischen Palermo und den Schwefelminen im Inneren der Insel zu tun hat; zum anderen, weil er ein richtiger Mann ist, und ein richtiger Mann hält sich nicht in den Wänden seines Hauses bei Frau und Kindern auf.

Caterina leistet er vor allem abends und in der Nacht Gesellschaft, allerdings nur, wenn er kann. Einer seiner Brüder ist Junggeselle und hat keine familiären Verpflichtungen.

 

An schönen Vormittagen, wenn die Hausdienerin, eine Bäuerin aus der Umgebung, das Haus reinigt oder die Wäsche wäscht, geht Signora Caterina langsam die achthundert Meter, die das Haus von dem Steilhang trennen, unterhalb dessen sich der wie Kupfer schimmernde Strand und das Blau des Meeres ausdehnen.

Da steht eine jahrhundertealte Pinie, in deren Schatten ein flacher Stein aufgestellt worden ist, der als Sitz dient. Da verbringt Signora Caterina ein paar Stunden, während Lina, die noch nicht laufen kann, zusammengekauert an ihrer Brust schläft. Um die Zeit zu verbringen, klöppelt sie, die Klöppelröllchen hat sie immer dabei. Wenn sie zurückkommt, hat das Hausmädchen schon den Tisch gedeckt und das Essen vorbereitet und möglicherweise auch bereits das Abendessen gekocht. Nach dem Mittagessen schläft sie ein bißchen. Dann kommt bei Einbruch der Dunkelheit, wenn sie die Lampen anzündet, der Bruder. Signora Caterina fühlt sich zuversichtlich: immerhin kann sie ein paar Worte wechseln. Die Schwangerschaft verläuft ruhig.

Sie weiß nicht, daß ihr Gatte Stefano sich aufgrund seines Herumreisens mit der Cholera angesteckt hat. Sie weiß es nicht, weil ihr Gatte es ihr nicht sagen will, und er hat auch alle Mitglieder der Familie seiner Frau schwören lassen, daß sie schweigen würden: er hat Angst vor dem Gefühlsausbruch seiner Frau, die ja zudem schwanger ist. Als er beim Ehemann einer ihrer Schwestern zu Gast ist, schickt Don Stefano ein paar kurze Zeilen an Caterina und gibt vor, in Palermo zu sein und von Geschäften völlig in Anspruch genommen zu werden.

Es mußte sich um eine leichtere Form der Erkrankung handeln, denn Don Stefano überlebte, und war nach etwas über einem Monat sogar in der Lage, sich wieder auf den Beinen zu halten.

So präsentierte er sich eines Tages seiner Gattin. Allerdings hatte er nicht bedacht, daß die Krankheit seinen Körper ausgetrocknet und Veränderungen in seinem Gesicht nach sich gezogen hatte: als er vor sie hintrat, hätte Donna Caterina fast der Schlag getroffen. Und so, wie er plötzlich aufgetaucht war, hatte Don Stefano sich gleich am folgenden Tag wieder seinen Geschäften gewidmet. Fünf Tage später, gegen zwei Uhr nachts, wurde Donna Caterina vor der Zeit von Geburtswehen befallen.

In dieser Nacht schlief der Bruder im Haus, der, notdürftig angezogen und mit einer Lampe in der Hand, über die Felder eilte, auf der verzweifelten Suche nach einer Bäuerin, die als Hebamme helfen konnte. Zu dieser Nachtzeit jedoch hatte niemand den Mut, ihm die Haustüre zu öffnen. Als er gegen halb vier völlig verzweifelt heimkehrte, hatte seine Schwester ganz alleine einen Jungen zur Welt gebracht, ein Siebenmonatskind, während Töchterchen Lina glücklicherweise ungestört weitergeschlafen hatte.

Dem Kleinen wurde der Name Luigi gegeben.

Sobald er in der Lage ist zu verstehen (und das ist er schon bald), was die Mutter ihm erzählt, begreift der kleine Luigi, daß er an einem Ort und an einem Tag zur Welt gekommen ist, die anders waren, als man ursprünglich geplant hatte. Eine doppelte Niete.

Die Tatsache, daß er im siebten Schwangerschaftsmonat geboren ist, müßte in gewisser Hinsicht, wenn man einer Bauernweisheit Glauben schenken will, ein eindeutiges signum individuationis darstellen, ein Brandmal, wie bei Pferden. »Figliu settiminu/o diavulu o parrinu«, heißt es im Sizilianischen: Alternativen gibt es keine für ein Siebenmonatskind, entweder gehört es dem Teufel oder der Kirche.

Der nicht geplante Ort wird für Luigi später einmal Anlaß zu besonderem Stolz sein.

In einem Brief an einen Freund wird er schreiben:

Ich bin nämlich ein Sohn des Chaos; und das nicht im allegorischen Sinne, sondern tatsächlich, denn ich bin auf einem Landgut geboren, das in der Nähe eines dichten Waldes liegt, den die Bewohner von Girgenti in ihrem Dialekt Càvusu, Chaos, nennen … eine dialektale Korrumpierung des ursprünglichen altgriechischen Wortes Xáos …

Von Càvusu zu Caos und von Caos zu Xáos wird die Nobilitierung des Ortsnamens notwendig: »Namen sind die Folge von Dingen, aber Dinge sind auch die Folge von Namen«, wird Leonardo Sciascia einmal bemerken.

Die räumliche Niete dagegen verursacht bei ihm einige Sprach- und Ratlosigkeit, auch einige Zweifel, und das nicht aus dem lokalpatriotischen Grund, zufällig auf dem Gebiet von Girgenti geboren zu sein, statt auf dem von Porto Empedocle. Nein, keineswegs! Das Problem ist ein ganz anderes.

Es handelt sich um allgemein bekannte Beschreibungen, die wir hier aber durchaus noch einmal lesen wollen.

In einer Nacht im Juni stürzte ich wie ein Glühwürmchen unter eine große einsame Pinie in einem Landstrich mit sarazenischen Olivenbäumen, am Rande einer Hochfläche aus bläulichem Lehm, die sich über dem afrikanischen Meer erhebt. Man weiß ja, wie Glühwürmchen so sind. Die Nacht, scheint ihr Schwarz gerade für sie auszubreiten, wenn sie, weiß Gott wohin fliegend, da und dort für einen Augenblick ihre sehnsüchtig blitzende grüne Lichtspur durch sie ziehen. Immer wieder fällt eines herab, und dann sieht man gerade so ein bißchen diesen seinen grünen Lichtseufzer zur Erde huschen, der so unerreichbar fern erscheint. So bin ich auch in dieser Juninacht herabgefallen

Und daher:

Ich glaube jedoch, für die anderen wird es eine Gewißheit gewesen sein, daß ich dort und nicht anderswo zur Welt kommen mußte und daß ich weder früher noch später geboren werden konnte; aber ich gestehe offen, von all diesen Dingen habe ich mir noch keinen Begriff gemacht und werde mir wohl auch nie einen machen können.

Ehrlich gesagt, glauben wir nicht, daß sich die Dinge so verhalten, wie Pirandello sie uns mitteilt: eine Vorstellung davon, weshalb sein unfreiwilliger Aufenthalt auf Erden von einer zweifachen Spur gekennzeichnet worden ist, hatte er sich ganz fraglos gemacht.

Und wenn schon keine klare Vorstellung, dann doch wenigstens die Feststellung eines Unbehagens.

Aufgeschreckt aus dem Schlaf, vielleicht auf Grund eines Irrtums, und in einem Durchgangsbahnhof aus dem Zug gezerrt. Nachtzeit; und ich ohne alles Gepäck.

Ich habe Mühe, mich von meiner Betäubung zu erholen

Ich stehe auf dem Bahnsteig, allein, in der Finsternis einer einsamen Station; und weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, um zu erfahren, was mit mir geschehen ist, wo ich bin.

Und dann: Warum als Mensch geboren werden, als fröstelnder, verlorener Transitreisender?

Man wird auf viele Weisen und in vielen Formen zum Leben geboren: Baum oder Stein, Wasser oder Falter … oder Frau, und nur ein einziges Mal und in dieser bestimmten Form, denn niemals waren zwei Formen identisch, und so für eine geringe Zeit, manchmal nur für einen Tag und auf einem äußerst kleinen Raum, während man um sich herum und unbekannt die ganze weite Welt hat, die riesige, undurchdringliche Leere der Existenz. Als Ameise wird man geboren, als Schnake, als Grashalm.

Tja. Und wieso nicht Vierbeiner?

Ich weiß, welche Anstrengung ich in manchen Augenblicken auf mich nehme, um mich lediglich auf zwei Pfoten zu halten. Glaub mir, mein Freund: wenn es der Natur nachginge, wären wir alle aus Neigung Vierbeiner. Das wäre das Beste! Bequemer, angenehm bedächtig, immer ausgeglichen … Wie oft würde ich mich hinwerfen und auf der Erde gehen wollen, so, mit aufgestützten Fingern, auf allen Vieren! Diese verdammte Zivilisation ruiniert uns! Vierbeiner, ich würde ein schönes wildes Tier sein; Vierbeiner, ich würde dir ein paar Tritte in den Bauch versetzen, wegen der Grobheiten und Ungereimtheiten, die du von dir gegeben hast; Vierbeiner, ich hätte keine Frau, keine Schulden, keine Sorgen.

Aber nun ist er eben als Mensch geboren, er ist klein, ein Junge, der den Namen Luigi trägt.

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