Schein und Schuld

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Schein und Schuld
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Anna Katherine Green

Schein und Schuld

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel. Ein schwieriger Fall.

Zweites Kapitel. Die Untersuchung nimmt ihren Anfang.

Drittes Kapitel. Das Verhör.

Viertes Kapitel. Ein Schwur.

Fünftes Kapitel. Die Aussage des Sachverständigen.

Sechstes Kapitel. Streiflichter.

Siebentes Kapitel. Mary Leavenworth.

Achtes Kapitel. Der Indizien-Beweis.

Neuntes Kapitel. Eine Entdeckung.

Zehntes Kapitel. Gryce empfängt eine neue Anregung.

Elftes Kapitel. Die Aufforderung.

Zwölftes Kapitel. Eleonore.

Dreizehntes Kapitel. Das Problem.

Vierzehntes Kapitel. Gryce in seiner Wohnung.

Fünfzehntes Kapitel. Henry Clavering.

Sechzehntes Kapitel. Das Vermächtnis eines Millionärs.

Siebenzehntes Kapitel. Große Ueberraschungen.

Achtzehntes Kapitel. Auf der Treppe.

Neunzehntes Kapitel. In meinem Bureau.

Zwanzigstes Kapitel. »Trueman! Trueman! Trueman!«

Einundzwanzigstes Kapitel. Ein Vorurteil.

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Flickwerk.

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Geschichte einer schönen Frau.

Vierundzwanzigstes Kapitel. Verhaltungsregeln.

Fünfundzwanzigstes Kapitel. Timothy Cook.

Sechsundzwanzigstes Kapitel. Gryce erklärt sich.

Siebenundzwanzigstes Kapitel. Amy Belden.

Achtundzwanzigstes Kapitel. Ein seltsames Begebnis.

Neunundzwanzigstes Kapitel. Die verschwundene Zeugin.

Dreißigstes Kapitel. Verbrannte Papiere.

Einunddreißigstes Kapitel. Frau Beldens Bedrängnis.

Zweiunddreißigstes Kapitel. Frau Beldens Erzählung.

Dreiunddreißigstes Kapitel. Ein unerwartetes Bekenntnis.

Vierunddreißigstes Kapitel. Gryce übernimmt wieder die Führung.

Fünfunddreißigstes Kapitel. Feine Arbeit.

Sechsunddreißigstes Kapitel. Die Fäden ziehen sich zusammen.

Siebenunddreißigstes Kapitel. Die Entscheidung.

Achtunddreißigstes Kapitel. Ein volles Bekenntnis.

Neununddreißigstes Kapitel. Die Folgen eines großen Verbrechens.

Impressum

Erstes Kapitel.
Ein schwieriger Fall.

Seit etwa einem Jahre war ich Teilhaber in der Anwaltsfirma Veeley, Carr und Raymond, als eines Morgens in Abwesenheit der Herren Veeley und Carr ein junger Mann in unser Bureau trat, dessen ganzes Aeußere eine solche Hast und Aufregung verriet, daß ich mich unwillkürlich erhob und ihm einige Schritte entgegenging.

»Was bringen Sie mir?« fragte ich, »hoffentlich nichts Schlimmes.«

»Ich möchte zu Herrn Veeley; kann ich ihn sprechen?«

»Nein,« antwortete ich, »er ist heute vormittag ganz unerwartet nach Washington gerufen worden und kann vor morgen nicht zurück sein. Wenn Sie mir aber Ihr Anliegen Mitteilen wollen –«

»Ihnen?« entgegnete er und maß mich mit kaltem, festem Blick; dann fuhr er, wie von seiner Musterung befriedigt, fort: »Ich sehe keinen Grund, warum ich es nicht thun sollte; ist doch der Zweck meines Hierseins kein Geheimnis. Ich komme, Sie zu benachrichtigen, daß Herr Leavenworth tot ist.«

»Herr Leavenworth?!« rief ich aus und trat einen Schritt zurück.

Herr Leavenworth war ein alter Klient unserer Firma und außerdem ein vertrauter Freund Veeleys.

»Jawohl, und zwar ermordet; von einer unbekannten Person, durch den Kopf geschossen, während er am Schreibtisch saß.«

»Ermordet? – Erschossen?« wiederholte ich und vermochte das Ungeheure kaum zu fassen.

Der joviale, herzensgute, alte Herr, der noch vor acht Tagen hier im Bureau gewesen war, mich gehänselt hatte, daß ich noch Junggeselle sei und hinzugefügt, er könne mir etwas Schönes zeigen, ich solle ihn doch besuchen – er ermordet!

Halb ungläubig starrte ich den Mann vor mir an. »Wie – wann?« brachte ich endlich hervor.

»In der verflossenen Nacht, so nehmen wir wenigstens an; erst heute morgen wurde die Leiche gefunden. Ich bin Herrn Leavenworths Privat-Sekretär und lebe mit der Familie zusammen. Es war ein furchtbarer Schlag,« fügte er hinzu, »besonders für die jungen Damen.«

»Furchtbar, in der That! Herr Veeley wird vollständig überwältigt davon werden.«

»Sie sind ganz allein,« fuhr er in leisem, geschäftsmäßigem Tone fort, der, wie ich später fand, eine Eigentümlichkeit des Mannes war, ohne die man sich ihn gar nicht denken konnte; »die Damen Leavenworth meine ich, die Nichten des Ermordeten. Da nun heute eine amtliche Untersuchung abgehalten werden wird, so ist es sehr wünschenswert, daß die beiden Fräulein nicht ohne Rechtsbeistand sind, und weil Herr Veeley der beste Freund ihres Onkels war, so schickten sie mich selbstverständlich ab, ihn zu holen. Leider muß er gerade verreist sein, und ich weiß wirklich nicht, was ich anfangen soll.«

»Ich bin den Damen zwar fremd,« erwiderte ich, »wenn ich ihnen aber von irgend welchem Nutzen sein kann, so gebietet mir die Achtung vor ihrem Oheim – –«

Der Ausdruck im Auge des Sekretärs machte mich verstummen. Sein Blick wich nicht von meinem Antlitz, aber sein Augapfel schien sich plötzlich zu erweitern, so daß es mir vorkam, als umfasse er meine Gestalt ganz. »Ich weiß nicht,« bemerkte er endlich, und ein leichtes Stirnrunzeln bewies, daß er nicht so ganz zufrieden mit der Wendung war, welche die Angelegenheit nahm, »indessen, – vielleicht ist es das beste, die Damen dürfen sich nicht selbst überlassen bleiben, und –«

»Es ist gut!« unterbrach ich ihn, »ich komme.« Ich setzte mich nieder, schrieb sofort eine Depesche an Herrn Veeley, traf rasch noch einige Vorbereitungen und ging mit dem Sekretär auf die Straße. »Jetzt,« forderte ich ihn auf, »erzählen Sie mir alles, was Sie von dem entsetzlichen Ereignis wissen.«

»Alles, was ich weiß? Das ist mit wenigen Worten abgethan. Als ich gestern abend meinen Chef verließ, saß er wie gewöhnlich an seinem Schreibtisch und heute morgen fand ich ihn an dem nämlichen Platze und fast in derselben Stellung, doch mit einem Loch im Kopfe, das so groß war wie die Spitze meines kleinen Fingers und von einer Pistolenkugel herrührte.«

»Tot?«

»Ganz tot.«

»Schrecklich!« rief ich aus; dann fragte ich nach kurzer Pause: »Kann es nicht Selbstmord gewesen sein?«

»Nein: das Pistol, mit welchem die That begangen wurde, ist nicht aufgefunden worden.«

»Wenn aber ein Mord vorliegt, so muß auch ein Beweggrund zu demselben nachgewiesen werden können. Deuten die Umstände vielleicht auf einen Raubmord hin?«

»Keinesfalls, es wird nicht das Mindeste vermißt; die Sache ist ein vollständiges Rätsel.«

»Ein Rätsel?«

»Bis jetzt ein undurchdringliches.«

Ich blickte dem Unglücksboten forschend ins Gesicht. Der Mitbewohner eines Hauses, in welchem ein geheimnisvoller Mord begangen worden, war für mich ein interessanter Gegenstand der Beobachtung. Aber das harmlose, wenig ausdrucksvolle Gesicht des Mannes rechtfertigte meine Neugier durchaus nicht, und indem ich meine rasche Musterung sofort wieder abbrach, fragte ich: »Die Damen sind wohl sehr aufgeregt?«

 

»Es würde ja ganz widernatürlich erscheinen, wenn es nicht der Fall wäre,« antwortete er; und war es nun der auffallende Wechsel seiner Mienen oder die Art und Weise meiner Fragestellung, – genug, ich fühlte, daß ich diesem unbedeutenden und doch selbstbewußten Sekretär gegenüber die Damen nicht erwähnen durfte, ohne – wie soll ich sagen? – ein heikles Thema zu berühren. Da ich schon früher gehört hatte, daß Herrn Leavenworths Nichten hochgebildet seien und sich in den ersten Kreisen der Gesellschaft bewegten, so berührte mich diese Entdeckung einigermaßen peinlich. Es überkam mich daher ein Gefühl der Erleichterung, als ich einen Omnibus herannahen sah.

»Wir wollen jetzt unsere Unterredung abbrechen,« sagte ich, »hier ist der Omnibus.«

Sobald wir erst einmal in demselben saßen, war jede Unterhaltung über einen derartigen Gegenstand unmöglich. Ich benutzte deshalb die Zeit, darüber nachzudenken, was ich von Herrn Leavenworth wußte, und fand meine ganze Kenntnis der Verhältnisse auf die Thatsache beschränkt, daß er ein Kaufmann war, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, außergewöhnlichen Reichtum und eine hohe gesellschaftliche Stellung besaß, daß er ferner in Ermangelung eigener Kinder zwei Nichten in sein Haus aufgenommen hatte, von denen die eine bereits seine erklärte Erbin war. Veeley hatte zuweilen von Leavenworths Ueberspanntheit gesprochen und als Beispiel den Umstand erwähnt, daß er ein Testament zu Gunsten der einen Nichte mit gänzlichem Ausschluß der anderen aufgesetzt habe. Von seinen sonstigen Lebensgewohnheiten und seinen Verbindungen mit der Welt im allgemeinen wußte ich wenig oder nichts.

Als wir vor dem Hause ankamen, fanden wir es von einer großen Menschenmenge umdrängt. Ich hatte kaum Zeit zu bemerken, daß es ein Eckhaus von ungewöhnlicher Breite und Tiefe war, als mich das Gewühl auch schon erfaßte und mich bis an die unterste Stufe der breiten steinernen Freitreppe trug. Nachdem ich mich mit einiger Schwierigkeit aus dem Gedränge befreit hatte, da ein Stiefelputzer und ein Fleischerjunge sich an meine Arme klammerten in dem Glauben, sie würden auf diese Weise sich mit Leichtigkeit auf die Stätte des Trauerspiels schmuggeln können, sprang ich die Steinstufen hinauf, sah, daß mein gutes Glück den Sekretär an meiner Seite festgehalten hatte, und zog rasch die Glocke.

Gleich darauf öffnete sich die Thüre, und in derselben erschien ein Gesicht, welches ich als einem unserer städtischen Geheimpolizisten angehörig erkannte.

»Herr Gryce?« rief ich.

»Derselbe,« antwortete er; »treten Sie ein, Herr Raymond.« Ohne sich weiter um die draußen harrende Menge zu kümmern, über die er nur ein spöttisches Lächeln gleiten ließ, welches eine allgemeine Enttäuschung hervorrief, zog er uns in das Haus hinein und schloß die Thür hinter sich zu. »Ich denke, Sie werden sich über meine Anwesenheit hier nicht wundern,« sagte er mit einem Seitenblick auf meinen Begleiter, indem er mir die Hand reichte.

»Durchaus nicht,« entgegnete ich; dann fiel mir ein, daß ich ihm den jungen Mann, mit dem ich gekommen war, doch vorstellen müsse. »Erlauben Sie mir, daß ich Sie mit Herrn – Herrn – entschuldigen Sie, aber ich weiß Ihren Namen nicht,« sagte ich, zu meinem Begleiter gewendet; »der Herr ist der Privat-Sekretär des verstorbenen Leavenworth.«

»O, der Sekretär! der Coroner hat schon nach ihm gefragt.«

»Der Coroner ist bereits hier?«

»Jawohl, die Jury hat sich soeben hinaufbegeben, um den Leichnam in Augenschein zu nehmen; möchten Sie sich nicht den Geschworenen anschließen?«

»Nein,« erwiderte ich, »das ist nicht nötig; ich habe mich nur in der Hoffnung hier eingefunden, den jungen Damen vielleicht von einigem Nutzen sein zu können. Herr Veeley ist verreist.«

»Und da ist Ihnen die Gelegenheit, eine interessante Bekanntschaft zu machen, nicht unwillkommen, wie mir scheint,« bemerkte der Detektiv. »Nun Sie aber einmal hier sind, und der Fall sehr merkwürdig zu werden verspricht, sollte ich meinen, daß Sie als junger Advokat den Wunsch hegen müßten, sich mit demselben in allen seinen Einzelheiten bekannt zu machen. Doch folgen Sie nur Ihrem eigenen Urteile.«

Ich bemühte mich, meinen Widerwillen gegen eine persönliche Beteiligung an diesem Fall zu überwinden. »Ich werde mit Ihnen gehen,« versetzte ich.

Aber gerade als ich den Fuß auf die Treppe setzte, hörte ich die Jury herabkommen. Ich zog mich deshalb mit Herrn Gryce in eine Nische zwischen dem Empfangssalon und dem Wohnzimmer zurück, wo wir unser Gespräch fortsetzten.

»Der junge Mann behauptet, es könne unmöglich das Werk eines Einbrechers gewesen sein,« bemerkte ich.

»So –?« erwiderte er, das Auge auf die Thürklinke heftend.

»Man habe heute morgen nichts, gar nichts vermißt und –«

»Die Schlösser am Hause seien in der Frühe samt und sonders in Ordnung gewesen, nicht wahr?«

»Das hat er mir nicht mitgeteilt; wenn dem aber so ist, so muß sich ja der Mörder die ganze Nacht über im Hause aufgehalten haben.«

Gryce schielte wieder finster nach der Thürklinke hin.

»Das ist ja eine ganz fürchterliche Geschichte!« rief ich.

Gryce faßte die Klinke noch schärfer ins Auge. Und hier, geneigter Leser, gestatte mir zu erwähnen, daß Gryce kein langes hageres Individuum ist, dessen stechender Blick sich bis in das Mark Deines Wesens zu bohren und jedes dort verborgene Geheimnis zu lesen scheint, wie Du wahrscheinlich erwartet hast. Im Gegenteil! Gryce ist eine stattliche, wohlgenährte Persönlichkeit mit einem Auge, welches Dich niemals durchbohrt, das überhaupt niemals auf Dir ruht. Es verweilt überhaupt nur auf irgend einem gleichgültigen Gegenstand in der Umgebung, einer Vase, einem Tintenfaß, einem Buch oder etwas dergleichen. Diese Dinge scheint er in sein Vertrauen zu ziehen, sie zu Repositorien seiner Schlüsse zu machen, während Du selbst die Spitze eines Kirchturms sein könntest, so wenig scheinst du in den Zusammenhang seines Denkens zu gehören. Gegenwärtig war Gryce, wie schon bemerkt, in die andächtige Beobachtung der Thürklinke versunken.

»Eine furchtbare Geschichte,« wiederholte ich.

»Kommen Sie!« forderte er mich auf und musterte einen meiner Manschettenknöpfe.

Er ging voran, blieb aber auf dem obersten Treppenabsatz stehen. »Herr Raymond,« sagte er, »ich pflege nicht eben viel über die Geheimnisse meines Berufes zu schwatzen; aber in diesem Falle hängt alles davon ab, gleich zu Anfang die richtige Fährte zu finden. Hier haben wir es mit keiner gemeinen Schurkerei zu thun, ohne Zweifel ist dabei Genie thätig gewesen. Nun kommt es zuweilen vor, daß ein gänzlich unvoreingenommener Geist unwillkürlich auf eine Spur trifft, während der Fachmann im Dunkeln tappt. Sollte sich derartiges ereignen, dann denken Sie daran, daß ich der Mann für Sie bin. Verlieren Sie kein Wort an andere, sondern kommen Sie unverzüglich zu mir; denn wir stehen vor einem bedeutenden Fall, sage ich Ihnen, vor einem bedeutenden Fall – und jetzt folgen Sie mir.«

»Aber die Damen!«

»Sie haben sich in eines der oberen Zimmer zurückgezogen. Ihr Schmerz ist natürlich groß; doch sollen sie ziemlich gefaßt sein, wie ich höre.« Er trat an eine Thür, öffnete dieselbe und winkte mir.

Sobald sich meine Augen an die in dem Gemache herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, daß wir uns im Bibliothekzimmer befanden.

»Hier genau auf derselben Stelle ist er ermordet worden,« bemerkte der Detektiv, indem er seine Hand auf den Rand eines mit Tuch überzogenen Tisches legte, der mit dem dazu gehörigen Stuhl die Mitte des Zimmers einnahm. »Sie sehen, daß sich der Schauplatz des Verbrechens direkt jener Thür gegenüber befindet,« fuhr er fort, schritt über den Fußboden und stand vor der Schwelle eines engen Ganges still, der in ein dahinter liegendes Gemach führte. »Da nun der Ermordete in seinem Stuhle sitzend angetroffen wurde, also mit dem Rücken dem Gange zugekehrt, so muß der Mörder durch jene Thür gekommen sein, um seinen Schuß abzugeben, und wird etwa hier Posto gefaßt haben.« Mit diesen Worten bezeichnte Gryce eine bestimmte Stelle auf dem Teppich, die etwa einen Fuß von der vorher erwähnten Stelle entfernt war.

»Aber –« warf ich ein.

»Hier giebt's gar kein Aber,« unterbrach er mich, »ich habe die ganze Situation aufs genaueste untersucht.« Und ohne sich weiter über diesen Gegenstand auszulassen, wandte er sich schnell um und schritt durch den Gang. »Hier stehen die Weinflaschen, da ist der Kleiderschrank und dort der Waschtisch nebst Zubehör,« setzte er mir auseinander, seine Erklärungen durch Handbewegungen erläuternd. »Leavenworths Schlafzimmer,« schloß er, als sich dieses Gemach vor uns in seiner ganzen Eleganz aufthat.

Wir näherten uns dem durch schwere Vorhänge verhüllten Bett; Gryce zog sie zurück, und auf den Kissen lag ein kaltes, ruhiges Gesicht, welches so ganz unentstellt war, daß ich einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken konnte.

»Sein Tod kam zu plötzlich, als daß er die Züge irgendwie hätte verändern können,« belehrte mich mein Begleiter, indem er das Haupt des Toten emporhob und mir eine Wunde im Hinterkopf zeigte. »Ein solches Loch befördert den Getroffenen aus der Welt, ohne daß er Zeit hat, davon Notiz zu nehmen. Der Arzt wird Ihnen beweisen, daß ein Selbstmord eine absolute Unmöglichkeit ist.«

Entsetzt fuhr ich zurück; da fiel mein Blick auf eine Thür, die mir gegenüber auf den Korridor führte. Mit Ausnahme des Ganges, den wir durchschritten hatten, schien dies der einzige Ausweg aus dem Bibliothekzimmer zu sein. »Sollte der Mörder nicht diese Thüre benutzt haben?« dachte ich bei mir.

Gryce hatte jedenfalls meinen Blick bemerkt, obwohl der seinige auf einem Armleuchter haftete; er beeilte sich, meine stumme Frage zu beantworten. »Jene Thür wurde von innen verschlossen gefunden, so daß es zweifelhaft bleibt, ob der Thäter durch sie eingedrungen ist.«

»Wen beargwöhnen Sie?« flüsterte ich.

Er betrachtete aufmerksam meinen Ring. »Jeden und niemanden,« antwortete er, »es ist nicht meine Sache zu verdächtigen, sondern zu entdecken.« Darauf ließ er die Vorhänge in ihre frühere Lage zurückfallen und verließ mit mir das Zimmer.

Da die Untersuchung durch den Coroner Ein Beamter, welcher die Ursache plötzlicher Todesfälle unter Zuziehung von Geschworenen zu untersuchen hat. gerade jetzt im Gange war, konnte ich mich nicht enthalten, ihr beizuwohnen, und ersuchte Gryce, die Damen zu benachrichtigen, daß ich anstatt des abwesenden Herrn Veeley erschienen sei, um ihnen in dieser traurigen Angelegenheit jeden nur möglichen Beistand zu leisten.

Alsdann begab ich mich nach dem unteren Wohnzimmer und nahm einen Sitz unter den dort versammelten Personen ein.

Zweites Kapitel.
Die Untersuchung nimmt ihren Anfang.

Die Umgebung, in welcher die Untersuchung vorgenommen werden sollte, rief in ihren scharfen Kontrasten einen höchst eigentümlichen Eindruck bei dem Beschauer hervor. Der palastähnliche Bau, die fürstliche Einrichtung, die Erinnerungen an das friedliche Leben des gestrigen Tages, so z. B. der Anblick des offenen Pianos, das durch einen zierlichen Damenfächer am Notengestell festgehaltene Musikheft, – fesselten meine Aufmerksamkeit in gleichem Maße wie das düstere Bild der heute zusammengewürfelten und ungeduldigen Schar, die sich um mich drängte.

Ganz besonders zog mich auch ein lebenswahres Porträt an, welches an der Wand mir gegenüber hing; es war ein reizendes, von poetischem Duft überhauchtes Gemälde. Das Bild einer jungen, goldlockigen, blauäugigen Schönen im Kostüme des ersten Kaiserreichs. Sie stand auf einem Waldpfade und schaute über die Schulter zurück, als ob ihr jemand folge, mit so schelmischem Auge und so frischem Kindermunde, daß es mir wie eine getreue Nachahmung der Wirklichkeit erschien. Hätte sie nicht das ausgeschnittene Kleid mit der hohen Taille und die kurzgeschnittenen Löckchen auf der Stirn gehabt, ich würde das kleine Kunstwerk für das wohlgetroffene Porträt einer der Damen des Hauses gehalten haben.

Von dieser lieblichen Mädchengestalt glitt mein Blick auf das tiefernste, kluge und aufmerksame Gesicht des Coroners sowie auf die Gruppe der Geschworenen und auf die zitternden Gestalten der sich in einer Ecke zusammendrängenden Dienerschaft des Hauses, endlich auf den blassen, schäbig gekleideten Reporter, der an einem kleinen Tische saß und mit geschäftsmäßiger Hast seine Notizen machte.

 

Der Coroner Hammond war mir von früher her bekannt; er galt für einen Beamten von außergewöhnlichem Scharfsinn, der seines schwierigen Berufes mit großer Gewissenhaftigkeit, Gewandtheit und Umsicht waltete.

Was die Geschworenen anbelangt, so trugen sie im großen und ganzen das bei derartigen Gelegenheiten gewöhnliche Gepräge.

Wie es der Zufall brachte, waren sie von den Straßen aufgelesen, aber von solchen Straßen, in denen sich der Hauptverkehr regt; sie machten den Eindruck von intelligenten Geschäftsleuten, welche, voll Entrüstung über den Mord, im Begriff standen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen. Nur ein einziger von ihnen schien ein wirkliches Interesse an der Untersuchung selbst zu empfinden.

Als erster Zeuge wurde der Arzt aufgerufen, welcher von der Familie des Verstorbenen herbeigeholt worden war. Derselbe sagte hauptsächlich über die Wunde aus, die sich an dem Kopfe des Ermordeten befand. Er hatte den Toten, auf einem Bette im Vorderzimmer des zweiten Stockwerkes liegend, angetroffen, wohin man denselben offenbar aus einem anstoßenden Gemach einige Stunden nach seinem Ableben gebracht hatte. Die Wunde am Hinterkopfe war die einzige, die man am Körper entdeckte. Die Kugel hatte der Arzt herausgezogen und übergab sie jetzt den Geschworenen; sie war unten an der Basis der Schädeldecke in das Gehirn eingedrungen und hatte, einen augenblicklichen Tod herbeiführend, die medulla oblongata getroffen.

Die Beschaffenheit des Loches in der Schädeldecke sowie die Richtung, welche die Kugel genommen hatte, schlossen jede Möglichkeit eines Selbstmordes aus, zumal das Aussehen des die Wunde umgebenden Haares die Thatsache feststellte, daß der Schuß in einer Entfernung von drei bis vier Fuß abgefeuert sein mußte. Zog man ferner den Winkel in Betracht, in welchem die Kugel die Hirnschale durchbohrt hatte, so war es offenbar, daß der Entseelte zur Zeit der That nicht nur in seinem Stuhl gesessen hatte, sondern auch in einer Beschäftigung begriffen war, bei der er das Haupt vorwärts gesenkt hielt. Wäre nämlich die Kugel in den Kopf eines aufrecht sitzenden Mannes in einem Winkel von 45° wie hier eingedrungen, so hätte der Mörder das Pistol in einer eigentümlichen Lage und sehr niedrig halten müssen; hatte jedoch der Getroffene beim Schreiben den Kopf vornüber geneigt, so konnte der Mörder mit gekrümmtem Ellenbogen den Schuß sehr leicht in der erwähnten Richtung abgeben.

Als der Arzt über den Gesundheitszustand des Herrn Leavenworth befragt wurde, antwortete er, der Verstorbene habe sich, seiner Ansicht nach, zur Zeit seines Todes im besten körperlichen Wohlsein befunden; da er jedoch nicht Hausarzt gewesen sei, könne er sich ohne vorherige Untersuchung darüber nicht aussprechen. Eine Pistole habe er übrigens weder auf dem Fußboden des Zimmers, in welchem der Mord geschehen, noch in einer der anstoßenden Räumlichkeiten entdeckt. Aus den weiteren Aussagen des Arztes ging noch folgendes als unzweifelhaft hervor: Die Gruppierung des Tisches, des Stuhles und der dahinter liegenden Thür bewies, daß der Mörder unter den obwaltenden Umständen auf oder vor der Schwelle des Ganges gestanden haben mußte, der in das andere Zimmer führte. Da ferner die Kugel klein und aus einem gezogenen Lauf abgefeuert worden war und infolgedessen beim Durchdringen des Knochens leicht nach rechts oder links hätte abweichen können, erschien es dem Arzt als sicher, daß das Opfer keine Bewegung gemacht hatte, um aufzustehen oder den Kopf nach seinem Angreifer umzuwenden. Daraus ergab sich der zwingende Schluß, daß der Tritt des Thäters ein dem Ermordeten wohlbekannter, daß also die Anwesenheit des Meuchlers in dem Gemache keine ungewöhnliche oder unerwartete war.

Nachdem der Arzt seine Aussage beendigt hatte, nahm der Coroner die vor ihm auf dem Tisch liegende Kugel, rollte sie einen Moment überlegend zwischen den Fingern, zog dann einen Bleistift aus der Tasche, warf rasch einige Zeilen auf ein Blatt Papier, rief einen Polizisten zu sich herein und übergab ihm dasselbe, indem er ihm zugleich im Flüsterton einen Befehl erteilte.

Der Sicherheitsbeamte nahm das Billet in Empfang, sah mit einem verständnisvollen Aufblitzen des Auges die Adresse an, setzte sich den Hut auf und verließ den Saal. In der nächsten Minute verkündete ein lautschallendes ›Hurra‹ der Straßenjugend, daß er vor die Hausthür getreten war.

Von meinem Sitze aus hatte ich die volle Aussicht durch das Eckfenster. Ich bemerkte, daß der Polizist einen Fiaker anrief, schnell hineinsprang und in der Richtung nach dem Broadway hinwegfuhr.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»