Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen

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Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen
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Arno Holz / Johannes Schlaf

Die Familie Selicke

Drama in drei Aufzügen

Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Ingo Stöckmann

Reclam

1966, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961977-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019655-7

www.reclam.de

Inhalt

  Die Familie Selicke

  Zu dieser Ausgabe

  Anmerkungen

  Literaturhinweise

  Nachwort

[5]Die Familie Selicke

[6]Personen

EDUARD SELICKE, Buchhalter

Seine FRAU

TONI, 22 Jahre alt

ALBERT, 18 ” ”

WALTER, 12 ” ” ihre Kinder

LINCHEN, 8 ” ”

GUSTAV WENDT, cand. theol., Chambregarnist bei ihnen

Der alte KOPELKE

ZEIT: Weihnachten

ORT: Berlin N

[7]Erster Aufzug

Das Wohnzimmer der Familie Selicke.

Es ist mäßig groß und sehr bescheiden eingerichtet. Im Vordergrunde rechts führt eine Tür in den Korridor, im Vordergrunde links eine in das Zimmer Wendts. Etwas weiter hinter dieser eine Küchentür mit Glasfenstern und Zwirngardinen. Die Rückwand nimmt ein altes, schwerfälliges, großgeblumtes Sofa ein, über welchem zwischen zwei kleinen, vergilbten Gipsstatuetten »Schiller und Goethe« der bekannte Kaulbach’sche Stahlstich »Lotte, Brot schneidend« hängt. Darunter im Halbkranze, symmetrisch angeordnet, eine Anzahl photographischer Familienporträts. Vor dem Sofa ein ovaler Tisch, auf welchem zwischen allerhand Kaffeegeschirr eine brennende weiße Glaslampe mit grünem Schirm steht. Rechts von ihm ein Fenster, links von ihm eine kleine Tapetentür, die in eine Kammer führt. Außerdem noch, zwischen den beiden Türen an der linken Seitenwand, ein Tischchen mit einem Kanarienvogel, über welchem ein Regulator tickt, und, hinten an der rechten Seitenwand, ein Bett, dessen Kopfende, dem Zuschauerraum zunächst, durch einen Wandschirm verdeckt wird. Über ihm zwei große, alte Lithographien in fingerdünnem Goldrahmen, der alte Kaiser und Bismarck. Am Fußende des Bettes, neben dem Fenster, schließlich noch ein kleines Nachttischchen mit Medizinflaschen. Zwischen Kammer- und Küchentür ein Ofen; Stühle.

Frau Selicke, etwas ältlich, vergrämt, sitzt vor dem Bett und strickt. Abgetragene Kleidung, lila Seelenwärmer , Hornbrille auf der Nase, ab und zu ein wenig fröstelnd. Pause.

[8]FRAU SELICKE (seufzend). Ach Gott ja!

WALTER (noch hinter der Szene, in der Kammer). Mamchen?!

FRAU SELICKE (hat in Gedanken ihren Strickstrumpf fallen lassen, zieht ihr Taschentuch halb aus der Tasche, bückt sich drüber und schnäuzt sich).

WALTER (steckt den Kopf durch die Kammertür. Pausbacken, Pudelmütze, rote, gestrickte Fausthandschuhe). Mamchen? Darf ich mir noch schnell ’ne Stulle schneiden?

FRAU SELICKE (ist zusammengefahren). Ach, geh, du ungezogner Junge! Erschrick einen doch nich immer so! (Ist aufgestanden und an den Tisch getreten.) Kannst du denn auch gar nich ’n bisschen Rücksicht nehmen?! Siehst du denn nich, dass das Kind krank ist?

WALTER (ist unterdessen aufs Sofa geklettert und trinkt nun nacheinander die verschiedenen Kaffeereste aus. Den Zucker holt er sich mit dem Löffel extra raus). Aber ich hab doch noch solchen Hunger, Mamchen?

ALBERT (ebenfalls noch hinter der Szene, in der Kammer, deren Tür jetzt weit aufsteht. Man sieht ihn vor einer kleinen Spiegelkommode, auf der ein Licht brennt. Knüpft sich grade seine Krawatte um. Hemdärmel). Ach was, Mutter! Jieb ihm lieber ’n Katzenkopp un denn is jut!

FRAU SELICKE (die jetzt Walter die Stulle schneidet). Na, du, Großer, sei doch man schon ganz still! Du verdienst ja noch alle Tage welche! Ich denk, ihr seid überhaupt schon lange weg?

ALBERT (ärgerlich). Ja doch! Gleich! Aber ich wer’ mir doch wohl noch erst den Rock abbürschten können?

FRAU SELICKE. Na ja, gewiss doch! Steh du man immer recht vorm Spiegel und vertrödle recht viel Zeit! Da [9]werd’t ihr ja euern lieben Vater sicher noch finden! Der wird heute grade noch auf ’m Kontor sitzen!

ALBERT. Ach Jott! Nu tu doch man nicht wieder so! Vor sechs kann er ja doch heute sowieso nich aus ’m Geschäft!

FRAU SELICKE. So! Na! Und wie spät denkste denn, dass es jetz’ is? (Hat während des Streichens der Stulle einen Augenblick innegehalten, den Schirm von der Lampe gerückt, die Brille auf die Stirn gerückt und nach dem Regulator gesehen.) Jetz’ is gleich drei Viertel!

ALBERT. Ach, Unsinn? Die jeht ja vor!

FRAU SELICKE (für sich, fast weinend). Hach nee! Ich sag schon! Sicher is er nu wieder weg, und vor morgen früh wer’n wir ’n ja dann natürlich nich wieder zu sehn kriegen! Nein, so ein Mann! So ein Mann! …

ALBERT (noch immer in der Kammer und vorm Spiegel). Hurrjott, Mutter! Räsonier doch nicht immer so! Du weißt ja noch gar nich!

FRAU SELICKE. Ach was! Lass mich zufrieden! Beruf mich nich immer! Ich weiß schon, was ich weiß! (Unwirsch zu Walter.) Da – haste! Klapp se dir zusammen und dann macht, dass ihr endlich fortkommt! Aus euch wird auch nischt!

(Es klingelt.)

(Einen Augenblick lang horchen beide. Frau Selicke ist zusammengefahren, Walter starrt, die Stulle in der Hand, mit offenem Munde über die Lampe weg nach der Tür, die ins Entree führt.)

FRAU SELICKE (endlich). Na? Machste nu auf, oder nich?

(Walter hat die Stulle liegen lassen und läuft auf die Tür zu. Er klinkt diese auf und verschwindet im Entree.)

[10]ALBERT (der eben aus der Kammer getreten ist, in der er das Licht ausgelöscht hat. Zieht sich noch gerade seinen Überzieher an. Aus der Brusttasche stecken Glacés, zwischen den Zähnen hält er eine brennende Zigarette, an einem breiten, schwarzen Bande baumelt ihm ein Kneifer herab. Modern gescheitelt. Hut und Stöckchen hat er einstweilen auf den Stuhl neben dem Sofa platziert. Zu Frau Selicke, indem er mit dem Fuße die Tür hinter sich zudrückt). Nanu? Das kann doch unmöglich schon der Vater sein?

FRAU SELICKE (die sich wieder mit dem Kaffeegeschirr zu tun macht, unruhig). Ach wo!

(Unterdessen ist draußen die Flurtür aufgegangen, und man hört die Stimme des alten Kopelke: »Brrr … is det heit ’n Schweinewetter!?« – Die Tür klappt wieder zu, und jetzt schreit Walter laut auf, ausgelassen: »Ach! Olle Kopelke! Olle Kopelke!« – »Nich doch, Kind, nich doch; du tust mir ja weh! Du drickst mir ja! Du musst doch abber ooch heern! Da – nimm mir mal lieber hier ’n bissken det Menneken ab! … Brrr … nee … äh!«)

ALBERT (zu Frau Selicke, sich die Handschuhe zuknöpfend).

Ach, der alte Quacksalber?!

FRAU SELICKE. Na, du Großmaul, wirst doch nich immer gleich das Geld geb’n für ’n Dokter!

ALBERT (aufgebracht). Ach, Blech! Nich wahr? Nu fang wieder davon an! …

WALTER (noch halb im Entree). Au, Mamchen, sieh mal! ’n Hampelmann! Mamchen, ’n Hampelmann! (Er kommt mit ihm ins Zimmer getanzt. Zum alten Kopelke zurück.) Wah? Den schenken Se mir?

KOPELKE (behutsam hinter ihm drein. Klein, kugelrund, [11]freundlich. Vollmondsgesicht, glattrasiert. Sammetjoppe, Pelzkappe, Wollschal). Sachteken! Sachteken!

ALBERT (hat sich den Stock schnell unter den Arm geklemmt und sich den Kneifer aufgesetzt, affektiert). Ah, gut’n Abend, Herr Kopelke!

 

KOPELKE. ’n Abend! ’n Abend, junger Herr! (Reicht Frau Selicke die Hand.) ’n Abend! (Nach dem Bett hin.) Na? Und meene kleene Patientin? Ick muss doch mal sehn kommen?

FRAU SELICKE (weinerlich). Ach Gott ja! Na, ich kann wohl schon sagen!

KOPELKE (sie beruhigend). Ach wat, wissen Se! Det … det … e …

WALTER(hat sich unterdessen mit seinem Hampelmann abgegeben, ihm die Zunge gezeigt, »Bah!« zu ihm gemacht und tänzelt nun mit ihm um den alten Kopelke rum, diesen unterbrechend). Olle Kopelke! Olle Kopelke!

KOPELKE (sanft abwehrend). Ach, nich doch, Kind! Det ’s jo unjezogen! Du musst nich immer Olle Kopelke sagen! Det jeheert sick nich!

WALTER (Rübchen schabend). Oh …! Olle Kopelke! …

ALBERT (wütend). Hörst du denn nich, du Schafskopp? Du sollst still sein!

WALTER (den Ellbogen gegen ihn vor). Nanu? Du hast mir doch jar nischt zu sagen?

ALBERT (holt mit der Hand aus).

FRAU SELICKE (mit dem Strickstrumpf, den sie unterdessen wieder aufgenommen hat, dazwischen). Nein! Nein! Nun sehn Sie doch bloß! Die reinen Banditen! Das Kind! Das Kind! Nehmt doch wenigstens auf das Kind Rücksicht!

[12]ALBERT (der sich achselzuckend wieder abgewandt hat). Natürlich! So is recht! Bestärk ihn man noch immer! Dem lässt du ja alles durchgehn! Der kann ja machen, was er will! Aus dem Bürschchen erziehst du ja schon was Rechtes! Vater hat janz recht!

FRAU SELICKE. Nein! Nein! Nu hören Se doch bloß! Und da soll man sich nich gleich schlagrührend ärgern?

KOPELKE (zu Albert). Sachteken, werter junger Herr, sachteken … (Zu Frau Selicke.) Immer in Jiete, Mutter! Det ville Jehaue un det ville Jeschumpfe nutzt zu janischt, zu reen janischt! … Ibrijens … (Er hat sich mitten in die Stube gestellt und schnuppert nun nach allen Seiten in der Luft rum.) … wat ick doch jleich noch sagen wollte … det … det … riecht jo hier so anjenehm nach Kaffee? … Hm! Pf! Brrr! … Nee, dieset Schweinewetter?! Ick bin – wahrhaftijen Jott – janz aus de Puste! (Er hat sich seinen großen, dicken Wollschal abgezerrt und schlenkert ihn nun nach allen Seiten um sich rum.) Kopp wech! (Zu Walter, den er dabei getroffen hat.) He? Wah det deine Neese?

WALTER (der sich den Schnee von den Backen wischt, vergnügt lachend). Hohohoo!

ALBERT (bereits äußerst ungeduldig, den Hut in der Hand). Na, jedenfalls ich jeh jetzt! Wir kommen ja sonst wahrhaftig noch zu spät!

FRAU SELICKE. Ja, ja! Macht man, dass ihr fortkommt!

KOPELKE (zu Albert). Aha! Wol zu Papa’n uf ’t Kontor?

ALBERT (ausweichend). Ach! Ja! Das heißt … eh … wir wollten so … bloß ’n bisschen vorbeijehn!

KOPELKE (ihm mit einer Handbewegung gutmütig zublinzelnd, verschmitzt). Weeß schon! (Zu Frau Selicke, [13]halb ins Ohr.) Edewachten kenn ick doch? … (Wieder zu Albert.) Na, denn … eh … denn beeilen sick man! So wat looft weg!

ALBERT (schon unter der Tür stehend zu Walter, der sich eben seinen Hampelmann an die Jacke knöpft). Na, willst nu so jut sein oder nich?

WALTER (gibt dem alten Kopelke die Hand). Atchee!

KOPELKE. Atchee, mein Sohn, Atchee! Un jrieß ooch Vatern!

FRAU SELICKE. Na, und die Stulle? (Reicht sie ihm noch schnell nach, Walter beißt sofort in sie hinein.) Und dann, sagt, er soll gleich hierherkommen! Sagt, Toni is auch schon da! Wir warten schon!

ALBERT (hat die Tür bereits aufgeklinkt und macht nun zum alten Kopelke hin eine stumme, zeremonielle Verbeugung).

KOPELKE. Wah mich sehr anjenehm, werter junger Herr! Wah mich sehr anjenehm! (Die beiden verschwinden. Draußen im Entree schlägt Walter hin. Schreit. Albert: »Na, du Ochse!«)

FRAU SELICKE. Ei Herrgott! Was is denn nu schon wieder … (Will auf die Korridortür zu, draußen schlägt die Flurtür zu.) Hach! Gott sei Dank, dass man die Gesellschaft endlich los ist!

KOPELKE (sich die Hände reibend, schmunzelnd). Jo! Wah is’t! ’n bissken wiewe sind se! Abber – Jotteken doch! Det is doch nu mal nich anders! Det …

(Vom Bett Geräusch und Husten.)

FRAU SELICKE (wirft ihr Strickzeug in das Kaffeegeschirr und eilt auf das Bett zu). Ach, nein! Ich sag schon! Nu haben sie ja das arme Kind glücklich wieder [14]wachkrakeelt … Na, mein liebes Herzchen? … Wie ist dir, mein liebes Linchen, he? (Kleine Pause. Frau Selicke hatte sich übers Bett gebeugt, leises Stöhnen.) Hast du Schmerzen, mein liebes Puttchen?

LINCHEN (feines, rührendes Stimmchen). Ma – ma – chen?

FRAU SELICKE. Ja, mein Herzchen? Hm?

LINCHEN. Ma – ma – chen?

FRAU SELICKE. Hast du Appetit, mein Schäfchen? … Nein? Ach, du mein Mäuschen!

LINCHEN. Ich – bin – so – müde …

FRAU SELICKE. Ach, mein Herzchen! Aber, nicht wahr? Du willst jetzt noch einnehmen?! Onkel Kopelke ist ja da!

LINCHEN. On – kel – Ko – pel – ke?

KOPELKE (hat sein rotbaumwollenes Schnupftuch gezogen und schnäuzt sich).

FRAU SELICKE (halb zu ihm zurückgewandt). Wollen Sie se mal sehn? Ich misch solange die Tropfen! (Lässt ihn ans Kopfende treten und mischt während des Folgenden am Fußende des Bettes, auf dem Nachttischchen, die Medizin.)

KOPELKE (hat sich jetzt ebenfalls über das Bett gebeugt. Täppisch-zärtlich). Na, Lin’ken? Kennste mir noch? Ach Jotteken doch, die Ärmken! Nich wah? Det – watt doch mal, Kind, ’n Oogenblickchen! – Det … tut doch nich weh? … Na, sehste!! Ick sag ja! Det … det is allens man auswendig! Det ’s janich so schlimm! Uf de Woche kannst all dreist widder ufstehn! Denn jehste for Mama’n bei’n Koofmann! Denn jehste mit ihr uf ’n Marcht! Inholen! He? Weeßte noch? Uf ’n Pappelplatz? Der mit ’t Schielooge? »Jungens«, sag ick, »Bande! Wer’t ihr [15]wol det Meechen sind lassen?« Abber da!! Heidi! Wat haste, wat kannste! … Nich wah? Nu nehmste abber ooch sauber in? (Zu Frau Selicke, während er diese ans Bett treten lässt.) Wat det Kind bloß for ’n Schwitz hat?!

FRAU SELICKE (besorgt). Nich wahr? Ach Gott ja!

KOPELKE (beruhigend). Abber det … eh … wissen Se! … Det … det is immer so! Det is nu mal nich anders! Det … (Schnäuzt sich abermals.)

FRAU SELICKE (kommt mit dem Löffel). Na, Linchen? Ist dir wieder besser?

LINCHEN. Ach – ich – will – nicht – einnehmen!

FRAU SELICKE. O ja, meine Kleine! Du willst doch wieder gesund werden!

LINCHEN. Es – schmeckt – so – bitter!

FRAU SELICKE. Nicht weinen, mein Schäfchen! … Komm! … Sonst zankt der Herr Doktor wieder! Nicht wahr, Onkel Kopelke?

KOPELKE (eifrig nickend). Ja, ja, Kindken! Det muss nu mal so sind! Det jeheert sick!

FRAU SELICKE. Nicht wahr? Hörst du? Komm mein Liebling! Ja?

LINCHEN. Es – schmeckt – so – bitter!

FRAU SELICKE. Aber nachher kannst du ja wieder spazieren gehn, mein Mäuschen?! Und Emmchen zeigt dir auch ihre Bilderbücher! Ja? … Komm! … Na, nu mach doch, Linchen! … Du musst doch aber auch folgen! … Gucke doch! … Ich verschütte ja das ganze Einnehmen? … (Sie hat ihr leise die Hand unters Köpfchen geschoben.)

LINCHEN. Au! Au! … Du – ziepst – mich!

FRAU SELICKE. Oh! … Na so! … Nicht wahr? … Fest! [16]Drück die Augen zu! … Schlucke! Tüchtig! … Siehst du? … Nicht weinen, nicht weinen! … So! Nicht wahr? Nu is alles wieder gut! Nu is alles vorbei!

LINCHEN (dreht sich jetzt unruhig in ihren Kissen rum und hustet gequält).

FRAU SELICKE. Mein armes, armes Herzchen! Der alte, böse Husten! … So! … Nu rücken wir bloß noch ’n bisschen das Kissen höher, nicht wahr? Und dann schläfst du schön wieder ein! (Bückt sich über sie und küsst sie.) Ach, du mein süßes Puttchen! (Nachdem sie den Wandschirm jetzt noch näher ans Bett gerückt, zum alten Kopelke.) Ach, Gott nein! Nu sagen Se doch bloß? Muss man da nich rein verzweifeln? Das geht nu schon tagelang so! Sie wacht geradezu nur noch auf Minuten auf!

KOPELKE (die Hände in den Taschen seiner Joppe, nachdenklich vor sich hin). Hm! …

FRAU SELICKE. Und aus dem Doktor wird man auch nicht mehr klug! Der sagt einem ja nichts! Der kommt kaum noch! Und … und … na ja, wenn wir Sie nicht noch hätten …

KOPELKE (leichthin). Jo! … na! … Wissen Se: Det kommt jo bei mir nich so druf an! (Begütigend.) Det verseimt mir jo weiter nich! Det’s jo man immer so in Vorbeijehn! Det – ach wat! Det hat jo janischt zu sagen! Det’s jo Mumpitz!! … Abber det, wissen Se, det mit die Dokters, verstehn Se, da hab’n Se eejentlich woll nich so janz unrecht! Ick … nu ja! Se wissen ja! Ick bin man sozusagen ’n janz eenfacher Mann … Abber det kann ’k Ihn’ versichern: jeholfen hab ’k schon manchen! … Jott! Ick kennt jo wat bei verdienen! Wat meen’n Se woll! Abber sehn Se … will ’k denn? Ick … nu ja! Ick bin nu mal so! [17](Eifrig.) Wissen Se? De Hauptsach is jetz’: man immer scheen warm halten! Det Ibrije, verstehn Se, det Ibrije jibt sick denn janz von alleene! Janz von alleene! Ick sag: man bloß nich immer so ville mang der Natur fuschen, sag ick! … Det mit die olle Medizin da zum Beispiel …

(Es klopft an Wendts Tür.)

FRAU SELICKE. Bitte, Herr Wendt, bitte! Treten Sie nur ein!

WENDT (ist mehr als mittelgroß und sehr schlank. Feine, bleiche Gesichtszüge, das halblange, schwarze Haar einfach hintenübergekämmt. Dunkle, peinlich saubere Kleidung, kein Pastoralschnitt. Die Tür hinter sich schließend zu Frau Selicke). Verzeihen Sie! Ich dachte … (Zum alten Kopelke, ihm die Hand reichend.) Ah! ’n Abend, Herr Kopelke! Wie geht’s?

KOPELKE (geschmeichelt). ’n Abend, werter junger Herr! Och, ick danke! Immer noch uf een langet un een kurzet Been! … Is mich sehr anjenehm … is mich sehr anjenehm … (Hört nicht auf, Wendts Hand zu schütteln.)

WENDT (zu Frau Selicke rüber). Fräulein Toni wollte doch heute etwas früher kommen?

FRAU SELICKE (die Achseln zuckend). Ja! Na – Sie wissen ja! Wie das so is!

KOPELKE (Wendt zublinzelnd und ihm scherzhaft mit dem Finger drohend). Freilein Toni? Na, wachten Se man, Sie kleener Scheeker! … Frau Selicken? Ick sage: passen Se mir ja uf die beeden jungen Leite uf! (Wieder zu Wendt.) Det is mich doch schon lange so? … he? Sie?

FRAU SELICKE (lächelnd). Ach, lieber Gott, ja!

WENDT (der ebenfalls gelächelt hat, zum alten Kopelke). Na, aber Scherz beiseite! Ich wollte ihr mal – da sehn Sie [18]mal! – das da zeigen! (Er hat ein großes, zusammengeknifftes Papier aus der inneren Brusttasche gezogen und es dem alten Kopelke überreicht.)

KOPELKE. Oh! … He! … Na – ick … eh … Se meen’n, ick soll det hier – lesen, meen’n Se?

WENDT (aufmunternd). Gewiss, gewiss, Herr Kopelke! Ich bitte Sie sogar darum!

KOPELKE. Oh! … He! … Na, ick – bin so frei! (Ist mit dem Papier zur Lampe getreten. Zu Frau Selicke.) Man … eh … Hab’n Se da nich wo Ihre Brille, Frau Selicken?

FRAU SELICKE (umhersuchend). Meine Brille? Ach Gott ja! Ich …

KOPELKE (sie ihr von der Stirn nehmend). Lassen Se man, ick hab ihr schon! (Setzt sie sich auf.) So! Na! Nu kann’t losjehn! (Hat das Papier sorgfältig entfaltet und liest es nun, die Arme weit von sich weg. Nach einer kleinen Pause, über die Brille zu Wendt hinüberschielend.) Nanu?

WENDT (der ihn lächelnd beobachtet). Na?

FRAU SELICKE (neugierig). Was denn?

WENDT (lächelnd). Ja, ja, Frau Selicke!

FRAU SELICKE (wie ungläubig). Ach?

KOPELKE (hat das Papier unterdessen wieder sorgfältig zusammengefaltet und gibt es nun wieder an Wendt zurück. In komischem Pathos). Nee, wissen Se! Det kennen Se von mir nich verlangen! Dazu jratulieren Se sick man alleene!

 

WENDT (lachend, das Papier wieder einsteckend). Na, na!

FRAU SELICKE (zum alten Kopelke). Was denn? Was denn, Herr Kopelke?

KOPELKE (zu Frau Selicke, komisch). Paster! Landpaster! Mit ’ne Bienenzucht un ’ne lange Feife! (Wieder zu [19]Wendt.) Nee, wissen Se! Da kennen Se sagen, wat Se wollen, verstehn Se, abber for die Brieder sind Se ville zu schade!

FRAU SELICKE (die Hände zusammenschlagend). Aber Herr Kopelke?!

KOPELKE. Ach wat! (Hat sich wieder sein Schnupftuch hervorgezogen und schnäuzt sich.)

WENDT (ihm vergnügt auf die Schulter klopfend). Na, lassen Sie man! ’n hübsches Weihnachtsgeschenk bleibt’s doch! Was, Frau Selicke?

FRAU SELICKE (immer noch ganz erstaunt). Ach, nein! … wahrhaftig? Also Sie sollen jetzt wirklich Pastor werden?

WENDT. Nun ja! Und … wie Sie sehn! Ich freue mich sogar von Herzen drüber!

FRAU SELICKE. Ach ja! Und Sie waren ja auch immer so fleißig! Ich habe Sie wahrhaftig manchmal recht bedauert! Wenn ich so denke, so die ganzen letzten Wochen, Tag und Nacht, immer hinter den Büchern …

WENDT. Ach, ich bitte Sie! Was hing aber auch nicht alles davon ab? Alles! Alles! Geradezu alles! – Und dann, was ich Ihnen noch gleich sagen muss, ich reise jetzt natürlich nicht erst Drittfeiertag, sondern schon morgen!

FRAU SELICKE. Schon morgen?

WENDT. Ja! Na, die Sachen sind ja schon alle so gut wie gepackt, und … e … aber ich vergesse ganz! (Zum alten Kopelke.) Sie sprachen vorhin von Linchen?

KOPELKE. Ick? Nu ja! Ick … det heest … ick … e … (Sieht zu Frau Selicke hinüber.)

FRAU SELICKE. Aber setzen Sie sich doch, Herr Kopelke! Woll’n Se sich nicht setzen? Ich mach Ihnen noch schnell ’ne Tasse Kaffee!

[20]KOPELKE (zu Wendt). Hm … ja … sehn Se, ick … (Plötzlich zu Frau Selicke.) ’ne Tasse Kaffee? (In sich hineinschmunzelnd, sich vergnügt die Hände reibend.) Hm! … ’ne Tasse Kaffee is jo wat sehr wat Scheenet! Wat sehr wat Scheenet! … Abber … Nee, Frau Selicken! Nee! Heite nich! Det verlohnt sick nich! Wahhaftijen Jott! Abber ick muss heite noch unjelogen hinten in de Druckerei! … Se wissen ja! Det mit de ollen, deemlichen Krankenkassen! …

FRAU SELICKE (nach der Küche hin). Na, denn werd ich wenigstens noch ’n paar Kohlen unterlegen! (Mit einem Blick auf die Uhr.) Toni muss ja jeden Augenblick kommen! (Verschwindet durch die Küchentür, hinter der bald darauf Licht aufblitzt.) ’n Augenblickchen!

KOPELKE (mit krummgezogenem Buckel, sich schmunzelnd die Hände reibend. Ihr nachsehend). Scheeniken! Scheeniken!

WENDT (langt seine Zigarrentasche vor). Aber ich darf Ihnen doch wenigstens ’ne Zigarre anbieten?

KOPELKE. Oh! … He! … Na! Ick bin so frei, von Ihr jietijet Anersuchen – mbf! – Jebrauch zu machen, werter, junger Herr! Abber … e … – (Winkt Wendt zu sich heran; dieser beugt sich ein wenig zu ihm hin, olle Kopelke hält ihm die hohle Hand ans Ohr.) – … ick meen man! Ick beraube Ihnen!

WENDT. Oh, ich bitte Sie!

KOPELKE. Na, wissen Se! So ’n junger Student hat det ooch nich immer so dicke! … Na, ick meen man!

WENDT. Junger Student?! Oho!

KOPELKE. Ach so! (Blinzelt ihm zu.) Na! Ibrijens bin ick darin durchaus keen Unmensch! (Kneift sich mit den Fingernägeln die Spitze von der Zigarre und bückt sich über [21]die Lampe.) Abber … nee, wissen Se! (Mit einem Blick zum Bett hin.) Ick weer’ ihr man doch lieber draußen roochen! Se nehmen mir det doch nich iebel?

WENDT. Bewahre, Herr Kopelke! Im Gegenteil! Hier hätten Sie sie ja doch sowieso nicht rauchen können! Selbstverständlich!

KOPELKE. Ja, um denn – na ja! Wat ick also noch sagen wollte! … Se meen’n mit det Kind, meen’n Se?

WENDT. Ja! Ich … e … Sie können sich ja denken, wie mich das unmöglich gleichgültig lassen kann! … Der Arzt scheint sich ja, wenigstens so viel ich darüber weiß, überhaupt nicht äußern zu wollen …

KOPELKE (klopft sich mit der Zigarre auf dem Daumen herum). Ja, wissen Se! Offen jestanden! Abber det kann ick den Mann eejentlich janich verdenken! Denn, Se könn’n sagen, wat Se wollen – ick bin man sozesagen ’n janz eenfacher Mann, verstehn Se! Abber det kann ’k Ihn’n sagen: mit det Kind is ’t retour jejangen! Schon wenn se een’n immer so anseht, verstehn Se! – wahhaft’jen Jott, abber so wat kann eenen durch un durch jehn!

WENDT (finster). Hm … Also Sie meinen, dass wirklich Gefahr vorliegt?

KOPELKE (ausweichend). Jott! Det nu jrade! Det will ick nu jrade nich jesagt haben! Abber, wie det so is, verstehn Se! Et mangelt hier den Leiten an’t Neetichste, wissen Se! (Macht die Bewegung des Geldzählens.) Die kennen ooch man nich immer so, wie se wollen!

WENDT (geht erregt ein paarmal auf und ab). Ach Gott, ja! … Na! Es wird ja mal … anders werden!

KOPELKE. Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat, wissen Se, denn mag’t ja wol noch jehn! Ja! Det liebe Jeld! … Neh’m [22]Se mir mal zun Beispiel! Ick wah ooch nich uff’n Kopp jefallen als Junge! Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat meen’n Se woll?! … Abber de Umstände, wissen Se! De Umstände! Et half nischt! Vater ließ mir Schuster weer’n! … Freilich, mit die Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage! Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken rujenieren den kleenen Mann! … Sehn Se! So bin ick eejentlich, wat man so ’ne verfehlte Existenz nennt! Nu bin ick sozesagen allens un janischt! … Ja! … Da bring ’k mal een’n durch ’n Prozess, da wird mal ’n bissken jeschustert, dann mal mit de Homöopathie und denn mit det Silewettenschneidern, wie det jrade so kommt, verstehn Se! Ja! … Freilich! Se haben alle nischt, die armen Deibels, den’n ick … (Die Uhr schlägt sechs.) Wat!? Sechsen schon?! Hurrjott! … (Wickelt sich schnell den Schal um.) … den’n ick jeholfen hab, meen ick! … (Umhersehend.) Hanschuh’n hat ick ja wol zufällig keene nich gehappt? … Na, abber man krepelt sick so durch! (Wendts Hand schüttelnd.) Wah mich sehr anjenehm, werter junger Herr, wah mich sehr anjenehm! … Dunnerwettstock, det wird ja die allerheechste Eisenbahn! (Macht ein paar eilige Schritte auf die Korridortür zu, besinnt sich dann aber wieder und kehrt um.) Na, ick kann ja denn ooch man jleich hintenrum! (Schon in der Küchentür.) Un denn, det ick det nich verjesse: Verjniegte Feierdage! Morjen frieh seh ick Ihn’ doch noch?

WENDT. Oh, danke, danke! Natürlich!

KOPELKE. Scheeniken! Atchee! (Klinkt die Küchentür auf.) ’n Abend, Frau Selicken!

FRAU SELICKE (hinter der Szene in der Küche). Was? Sie wollen schon gehn?

[23]KOPELKE (während er die Küchentür wieder hinter sich zudrückt). Na, wat meen’n Se woll? …

WENDT (einen Augenblick allein. Sieht sich zuerst aufatmend im Zimmer um und tritt dann vorsichtig an das Bett Linchens. Eine kleine Weile beobachtet er sie, dann klingelt es plötzlich im Korridor, und er geht hastig aufmachen). Ah, endlich!

TONI (tritt ein. Sie trägt ein großes, in ein schwarzes Tuch eingeschlagenes Bündel vor sich her. – Sie ist mittelgroß, schlank, aber nicht schwächlich. Blond. Schlichter, ein wenig ernster Gesichtsausdruck. Einfaches, dunkles Kleid, langer, braungelber Herbstmantel. Schwarze, gestrickte Wollhandschuhe).

WENDT (mit ihr zugleich eintretend und nach dem Bündel fassend). Geben Sie!

TONI (abwehrend). Ach, lassen Sie … ich kann ja …

WENDT (nimmt ihr das Paket ab). Geben Sie doch! (Indem er es aufs Sofa trägt.) Und das haben Sie vom Alexanderplatz bis hierher getragen?

TONI (sich die Handschuhe ausziehend, nickt lächelnd. Etwas scherzhaft-wichtig). Getragen! Ja!

WENDT. Bei der …?

TONI. Nun – ja! Es war etwas unbequem bei der Kälte! (Hat die Handschuhe auf den Tisch zwischen das Kaffeezeug gelegt und tritt nun, indem sie sich ihren Mantel aufknöpfelt, an das Bett Linchens.) Sie schläft? Ach, das arme Puttelchen! (Ist wieder etwas zurückgetreten.) Aber … nein! Ich will doch erst lieber – ich habe die Kälte noch so in den Kleidern! (Zu Wendt, der ihr jetzt behilflich ist, den Mantel abzulegen.) Danke, danke schön, Herr Wendt! Wollen Sie so gut sein, da an den Nagel? (Reicht ihm [24]auch noch ihren Hut hin und stellt sich nun an den Ofen.) Ach, ist der schön!

WENDT (der ihr unterdessen Hut und Mantel an die kleine Kleiderknagge zwischen der Korridortür und dem Wandschirm gehängt hat). Wissen Sie auch, Fräulein Toni, dass ich heute schon auf Sie gewartet habe?

TONI. Ach nein! Wirklich? Auf mich?

WENDT (hat sich, die Arme gekreuzt, mit dem Rücken gegen den Tisch, ihr gegenübergestellt, aber so, dass das Licht der Lampe noch auf sie fällt). Ja! Und … na? Raten Sie mal, weshalb.

TONI (lächelnd). Ach, das rat ich ja doch nicht! Sagen Sie’s mir lieber!

WENDT. Ja? Soll ich’s sagen?

TONI. Ja!

WENDT (zieht sich wieder das Papier aus der Tasche und reicht es ihr). Na … da! Lesen Sie mal!

TONI. Was denn? (Sie hat sich, noch immer am Ofen, mit dem Papier etwas gegen die Lampe gebückt und liest nun.) Ah! Grade heute zum Heil’gen Abend! (Hat das Papier sinken lassen und sieht einen kleinen Augenblick in die Lampe. Langsam, leise.) Ja! Das ist ja recht schön! Da können Sie sich recht freuen!

WENDT. Nicht wahr?

FRAU SELICKE (aus der Küche, deren Tür sie eben aufgemacht hat). Wo bleibst du denn solange? (Mit einem Blick auf das Bündel auf dem Sofa.) Ach, du hast wieder … Armes Mädchen! … Wart! Ich bring dir gleich noch ’n bisschen heißen Kaffee! (Sie will wieder in die Küche zurück.)

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