Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache

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Allerdings lassen sich unterschiedliche Realisierungen von Diskurstraditionen nicht vollständig durch eine Variation der Parameter und ihrer Werte erklären:

Diskursregeln sind nicht die Summe der kommunikativen Parameter, sondern es treten gesellschaftliche Funktionalisierungen und Normen des jeweiligen Diskursuniversums hinzu (Schlieben-Lange 1983: 140).4

Oesterreicher geht in seiner Definition der DiskurstraditionDiskurstradition nicht nur auf die kommunikativen Bedingungen von Diskurstraditionen ein, sondern stellt auch deren Prägung durch gesellschaftliche und kulturelle Normen heraus. Diskurstraditionen sind nach Oesterreicher:

konventionalisierte Kristallisationskerne von bestimmten Parameterwerten der oben skizzierten Kommunikationsbedingungen und mehr oder minder strikt vorgeprägten Versprachlichungsanforderungen einerseits sowie von bestimmten gesellschaftlich determinierten inhaltlich-thematischen Wissenskomplexen andererseits (Oesterreicher 1997: 25).

Dabei ist eine Diskurstradition durch die ParameterwerteParameterwert der jeweiligen Kommunikationssituation geprägt, wobei diese in der jeweiligen Diskurstradition eine kulturspezifische Umsetzung erfahren:

So ist etwa der Sprecherwechsel im Dialog ein universelles Prinzip, das in einzelnen Dialogkulturen in unterschiedlicher Weise umgesetzt wird (Schrott 2015: 123).

Nach Fix ist deswegen nicht mehr von ‚Textsorten an sich‘ auszugehen, sondern es ist eine „spezifische kulturelle Prägung von Textsorten anzunehmen“ (Fix/Habscheid/Klein 2001: 7). In Diskurstraditionen sind folglich gesellschaftlich-kulturelle Normengesellschaftlich-kulturelle Norm gespeichert. Diese enthalten Wissen über die Angebrachtheit oder Nichtangebrachtheit eines kommunikativen Verhaltens (cf. Fix/Habscheid/Klein 2001: 7; Fix 2008d: 116), über die übliche Art der Versprachlichung, das kulturelle Prestige der Diskurstradition oder den Wert des Mediums. Zusätzlich ist in den kulturellen Normen sowohl Alltagswissen der jeweiligen Gemeinschaft als auch Wissen enthalten, das dem kulturellen Gedächtniskulturelles Gedächtnis nach AssmannAssmann, Jan zugeordnet werden kann. Kultur kann als „Gesamtheit der Formen und Muster, die zur Deutung der Welt zur Verfügung stehen“ (Warnke 2001: 253) definiert werden und Diskurstraditionen leisten einen kulturspezifischen Zugriff auf die Wirklichkeit. Dabei kann sich die KulturspezifikKulturspezifikum auch darin äußern, dass in einigen Gemeinschaften ganze Diskurstraditionen fehlen. Zudem muss eine Diskurstradition nicht unbedingt kontinuierlich vorhanden sein. Anders als eine historische Einzelsprache, die in der Regel von einer Sprachgemeinschaft kontinuierlich gepflegt wird oder ganz ausstirbt, können Diskurstraditionen diskontinuierlich genutzt werden:

Während Sprachgemeinschaften sich durch die Kontinuität idiomatischer Traditionalität stets als durchgängig existierende Gemeinschaft manifestieren, können die kulturellen Gruppierungen, die Diskurstraditionen tragen und vermitteln, sich diskontinuierlich über zeitliche Unterbrechungen hinweg konstituieren. So können etwa Gelehrte und Dichter der Antike und deren „Wiederentdecker“ in der Renaissance als eine kulturelle Gruppierung aufgefasst werden, die über Zeit und Raum hinweg kulturell-literarische Traditionen der Textgestaltung praktiziert (Lebsanft/Schrott 2015: 38).

Als eine ähnlich diskontinuierliche Gruppierung könnten die Enzyklopädisten der französischen Aufklärung und sämtliche Nachfolger, die sich auf diese berufen, wie beispielsweise die Wikipedianer, aufgefasst werden.

Existiert eine Diskurstradition in mehreren Gemeinschaften, so können Unterschiede hinsichtlich „Stil, Art der Themenentfaltung, Argumentationsweise, Autoren“ (Fix 2008d: 122) feststellbar sein. Fix führt das Beispiel deutscher und russischer Wohnungsanzeigen an, wobei die deutschen Anzeigen ausführliche Beschreibungen mit Kontaktdaten enthalten, während die russischen Anzeigen möglicherweise aus Angst vor Einbruch und Diebstahl äußerst kurzgehalten sind (cf. Fix 2008a: 143). Im Gegensatz zu den universellen Parametern der Kommunikation, die jeden Kommunikationsakt gleich stark betreffen, kann der Grad der KulturspezifikKulturspezifikum von Diskurstraditionen variieren, wobei Fix die Diskurstraditionen Wohnungsanzeige (kulturspezifisch) und Sage (global) kontrastiert:

Textsorten, die den geistig-ordnenden Zugriff auf die Welt ermöglichen, sind eher globaler Natur und weniger an die Einzelkultur gebunden. Text­sorten, die eine praktisch-ordnende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit möglich machen, sind erfahrungsgemäß eher lokal und einzelkulturspezifisch geprägt (Fix 2008a: 144).

Diskurstraditionen stehen demnach in enger Verbindung zu universellen Parametern der Kommunikationssituation einerseits und zu gesellschaftlich-kulturellen Konventionen andererseits.

Des Weiteren bilden DiskurstraditionenDiskurstradition ein Bindeglied zwischen den genannten sprachbezogenen Bedingungen und dem Repertoire an sprachlichen Formen:

Dabei gilt es zu sehen, dass es gerade die Diskurstraditionen qua historisch vorgegebene Kommunikationsformen5 sind, die die Verbindung zwischen den formalen kommunikationstheoretischen Parametertypen und den sprachlichen Ausdrucksgestaltungen und sprachlichen Varietäten herstellen. Diskurstraditionen bestimmen daher einerseits die Wahl von sprachlichen Gestaltungen und Varietäten – sprachliche Merkmale sind andererseits direkt für bestimmte Diskurstraditionen kennzeichnend (Oesterreicher 1997: 24).

Die DiskursregelnDiskursregel wählen aus dem vorhandenen sprachlichen, aber auch nicht-sprachlichen Material die nach Situation und Kultur angemessenen Formen aus. Sprachliche Formen in Diskurstraditionen sind dadurch von einer doppelten Historizität geprägt, nämlich von derjenigen der Einzelsprache und derjenigen der DiskurstraditionDiskurstradition (cf. Lebsanft/Schrott 2015: 33). Die Tatsache, dass in Texten, die durch die gleichen ParameterwerteParameterwert gekennzeichnet sind und die den gleichen kulturellen Normen unterworfen sind, auch ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten gewählt werden, führt zur „Verfestigung bestimmter Strategien und Formen der Versprachlichung“ (Frank-Job 2003: 20).

Diese verfestigten Muster werden in verschiedener Weise an einzelnen Texten sichtbar. Kabatek unterscheidet in seinem Vorschlag zur Analyse von Diskurstraditionen in Bezug auf die Form Diskursformen, Diskurszonen und Diskursformeln und in Bezug auf den Inhalt Diskursdomänen, Diskursthemata und Diskursmotive (cf. Kabatek 2015: 62). Die Diskursform wird am Aufbau des Textes ersichtlich, Diskurszonen wie Anfang oder Ende eines Textes stellen markante Bereiche für Diskurstraditionelles dar, bei Diskursformeln liegt eine (teilweise variierende) Wiederholung sprachlichen Materials vor. Die Diskursdomäne bezeichnet den Wirklichkeitsausschnitt, auf den sich die Inhalte der Diskurstradition beziehen, wie beispielsweise den Bereich der Mathematik oder des Gartenbaus, das Diskursthema bezeichnet das dominante Thema eines Textes, Diskursmotive sind Topoi, mit denen bestimmte Wissensbestände verbunden sind und die systematisch in einer Diskurstradition eingesetzt werden. Einen anderen Ansatz präsentiert Fix, die „Texte als komplexe Sprechakte betrachtet“ (Fix 2008c: 68) und deswegen Textproposition (der propositionale Gehalt des Textes), Textillokution (die dominante Sprachhandlung) und Textlokution (die sprachlichen Mittel der Formulierung) unterscheidet. Die Analyse der sprachlichen Mittel kann dabei Phänomene unterschiedlicher Komplexität behandeln, die sich zudem auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems verorten lassen (cf. Große 2017: 52). Bei formal-grammatischen Elementen besteht jedoch die Problematik, dass ihre Interpretation Schwierigkeiten bereiten kann:

Man kann die Häufigkeit der Wortarten, der Tempora, der Modi, des Passivs – um die bei Textsortenstudien am häufigsten untersuchten Phänomene zu nennen – bestimmen. Die Frage ist allerdings, was wir mit entsprechenden Befunden gewonnen haben. Teilweise sind die Ergebnisse wiederum trivial, nämlich dem Sprachbenutzer ohnehin bekannt – z.B. die Feststellung, dass in deutschen Gebrauchsanweisungen für die Formulierung der Handlungsanweisung heute der Infinitiv bevorzugt wird. Teilweise sind die Daten den Sprachbenutzern aber auch völlig unbekannt: Wer wüsste schon, wie viel Prozent Passivstrukturen in offiziellen gegenüber privaten Briefen vorkommen? […] Das generelle Problem: Bei Kategorien wie den eben besprochenen ist der sachliche Abstand zwischen Ausdrucksabsicht und grammatischem Mittel zu groß (Adamzik 2001: 18f.).

Für die Interpretation diskurstraditioneller Elemente bietet es sich somit an, diese im Zusammenspiel mit weiteren Merkmalen in einem Mehrebenen-Ansatz zu beobachten. Des Weiteren sind die kommunikativen Bedingungen ihres Auftretens und die mit den Formen verbundenen Absichten zu rekonstruieren und vor dem Hintergrund kultureller Normenkulturelle Norm zu reflektieren.

3.1.2 Wandel

Das Konzept „Diskurstradition“ erlaubt es, Konventionen in Diskursen unter dem Aspekt der dynamis zu begreifen und deswegen auch Veränderungen der Diskurstraditionendiskurstraditioneller Wandel nachzuvollziehen. Dabei stellt Koch die diskurstraditionelle Dynamik in den Zusammenhang mit kulturellen Traditionenkulturelle Tradition. Für ihn sind DiskurstraditionenDiskurstradition ein Spezialfall einer kulturellen Tradition:

Dabei gehe ich davon aus, daß Diskurstraditionen im Grunde nur ein Typ der vielfältigen kulturellen Traditionen des Menschen sind (Koch 1997: 61).

Wie kulturelle Traditionen unterliegen auch Diskurstraditionen einer Dynamik:

 

Als Spezialfall dieser Sachlage lässt sich nun auch die diskurstraditionelle Dynamik beschreiben: aus neuen kulturellen, ökonomischen und technischen Herausforderungen entstehen neue kommunikative Bedürfnisse, die im ‚kommunikativen Haushalt‘ der betreffenden Kultur bislang nicht vorgesehen sind und denen die bestehenden Diskurstraditionen somit auch nicht ohne weiteres gerecht werden. An diesem Punkt können neue Diskurstraditionen entstehen (Koch 1997: 62).

Insbesondere an historisch bedeutenden Wendepunkten bilden sich häufig neue Diskurstraditionen heraus:

Auslöser können bestimmte kulturelle Ereignisse sein, technische Neuerungen, institutionelle Veränderungen. Hier liegt inzwischen eine ordentliche Zahl untersuchter Beispiele vor: die Arbeiten zu den Chroniken über die Eroberung und Kolonisation Amerikas, wo eine wirklich neue Welt zu neuen Texten führt; Arbeiten zu Schlüsselmomenten wie der Renaissance des römischen Rechts im Mittelalter, der Entstehung des Buchdrucks, der Französischen Revolution und ihrer Folgen bis hin zu Arbeiten zur Veränderung kommunikativer Praktiken durch Smartphones (Kabatek 2015: 59).

Gesellschaftliche Veränderungen können zur Entstehung, zur Ausdifferenzierung, zur Konvergenz, aber auch zum Verschwinden oder zum Ersatz etablierter Diskurstraditionen durch neue Diskurstraditionen führen (cf. Koch 1997: 66–69).

Unter den kulturellen Ereignissen spielen insbesondere mediale Umbrüche eine bedeutende Rolle. Der Buchdruck trug beispielsweise zur Verbreitung schriftlicher Erzeugnisse bei, und die Erfindung des Internets treibt die Ausbildung digitaler DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale voran:

Epochenschwellen, die durch medialen Wandel bedingt sind, Übergänge von der Illiteralität zur begrenzten Verschriftung, von der begrenzten Verschriftung zur unbegrenzten Literalität (Buchdruck), von der Publikation durch Printmedien zur elektronischen, interaktiven Kommunikation (Aschenberg 2003: 8).

Insbesondere die InternetkommunikationInternetkommunikation hat eine Reihe neuer KommunikationsformenKommunikationsform hervorgebracht, wie beispielsweise BlogsBlog, ForenDiskussionsforum oder WikisWiki, welche die kommunikativen Rahmenbedingungen für die neu in ihnen entstehenden Diskurstraditionen setzen (cf. Frank-Job 2010: 37). Die veränderten Kommunikationsbedingungen haben zur Folge, dass häufig der „Rückgriff auf die bereits bewährten Handlungsmuster und Versprachlichungsstrategien hierfür nicht ausreicht“ und „die Kommunikationsteilnehmer daher neue Routinen für Kommunikationshandlungen entwickeln und kollektiv gültige Normen für diese Routinen aushandeln“ müssen (Frank-Job 2010: 43). Durch den medialen Wandel können völlig neue Diskurstraditionen entstehen. Allerdings entstehen digitale DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale häufig nicht ex nihilo, sondern es lässt sich beobachten, dass etablierte Diskurstraditionen das TrägermediumTrägermedium wechseln:

Sprachtextsorten (mündliche wie das Märchen, schriftliche wie der Brief) „wandern“ zunehmend in andere Medien „aus“, das Märchen z.B. in den Film, der Brief z.B. ins elektronische Medium (Fix 2008b: 20).

Ein Beispiel für einen solchen Prozess ist die in der vorliegenden Studie behandelte Diskurstradition EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel, die ihren Ursprung im Printmedium hat und sukzessive über die Reproduktion auf CD-ROM und die statische Repräsentation auf Internetseiten in die dynamische Umgebung eines WikisWiki wandert. Bei diesem Prozess wird der gedruckte EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel– gedruckter vom WikipediaartikelWikipediaartikel abgelöst und befindet sich bereits heute im Verschwinden. Der Wechsel des Trägermediums bleibt häufig nicht ohne Folgen für die DiskurstraditionenDiskurstradition. Insbesondere der Wechsel in ein digitales TrägermediumTrägermedium scheint den Diskurstraditionen Merkmale wie Vermischtheit, Vernetztheit, Zersplitterung, Nichtabgeschlossenheit, Rezeptionsoffenheit, Autorenvielfalt, Normiertheit und Abwandlung einzuschreiben (cf. Fix 2014: 21), wobei die Merkmale in mehr oder weniger starkem Ausmaß auch auf die zuvor genannten Wikipediaartikel zutreffen. Trotz dieser allgemeinen Tendenzen bleibt jedoch im Einzelfall zu rekonstruieren, ob, und in welchem Maße, sich eine DiskurstraditionDiskurstradition verändert.

Denn nicht jede Veränderung in den medialen Bedingungen führt automatisch dazu, dass sich eine neue, vom Vorläufer unterscheidbare Diskurstradition etabliert. Dies zeigen schon die Überlegungen von Koch/Oesterreicher (2007: 349), die sich jedoch nicht mit dem Wechsel ganzer TrägermedienTrägermedium beschäftigen, sondern lediglich den Wechsel zwischen der phonischenRealisierung– phonische und der grafischenRealisierung– grafische Realisierung von DiskurstraditionenDiskurstradition berücksichtigen. Dabei gehen die Autoren davon aus, dass der alleinige Wechsel des Codes noch keinen Unterschied in der Diskurstradition bedingt. Es handelt sich um die „rein mediale Transkodierung“ (Koch/Oesterreicher 2007: 358) ein und derselben Diskurstradition:

Auf der Ebene des Diskurses sind Medium und Konzeption eindeutig zwei voneinander unabhängige Variablen: Wenn ich mir den Spaß mache, einen Zeitungsartikel vorzulesen, bleibt er immer noch ein Zeitungsartikel. Hier wird die für menschliche Sprache charakteristische medium transferability (Lyons 1981: 11) wirksam (Koch 1997: 57).

Allerdings ist die Annahme einer solchen medium transferabilitymedium transferability in der Forschung umstritten:

Die medium transferability besagt in ihrem Kern, dass sich ein und derselbe kommunikative Gehalt ohne Informationsverlust von einem Medium in das andere transferieren lasse. Dies wäre aber nur dann garantiert, wenn es medienneutrale Inhalte gäbe, die für sich existierten und durch das jeweilige Medium lediglich transportiert würden (Schneider 2016: 341).

Der Annahme, dass Inhalte unabhängig von einem Medium existieren, steht die Auffassung gegenüber, dass das Medium und das Mediatisierte eine Einheit bilden und nicht unabhängig voneinander existieren (cf. Schneider 2016: 343). Auf der Basis einer solchen Sichtweise kann davon ausgegangen werden, dass der jeweilige Code ebenfalls semiotisch wirksam ist und sich somit Unterschiede zwischen mündlichMündlichkeit– mediale und schriftlichSchriftlichkeit– mediale realisierten Botschaften ergeben:

Ein Inhalt, der mündlich realisiert wird, ist eindimensional: eine Kette von in der Zeit aufeinander folgenden Signalen. Wenn er verschriftlicht wird, wird er zweidimensional und bietet so unter Ausnutzung der zwei Dimensionen des Schriftträgers, die Möglichkeit von zusätzlichen, visuell-simultan – also nicht mehr nur nacheinander – wahrnehmbaren Signalen (Raible 2006: 15).

Es bleibt jedoch zu sagen, dass sich im Falle eines ausschließlichen Code-WechselsCode-Wechsel bei ansonsten gleichbleibenden Kommunikationsbedingungen eher kleinere Unterschiede zwischen Diskurstraditionen ergeben, die nur zu Varianten einer Diskurstradition führen. Allerdings beinhaltet eine Verschriftlichung durch die Tatsache, dass sich auch das TrägermediumTrägermedium ändert, bereits das Potential zu größeren Veränderungen, die lediglich nicht ausgeschöpft werden.

Im Falle einer stärkeren und dauerhaften Anpassung an das neue TrägermediumTrägermedium verändert sich in der Terminologie von Koch/Oesterreicher nicht nur das Medium, sondern auch die KonzeptionKonzeption einer Diskurstradition. Mit Konzeption sind dabei sowohl die Konstellation der Parameterwerte der Kommunikationsbedingungen als auch die Auswahl der sprachlichen Formen, der Duktus einer Diskurstradition, gemeint. Veränderungen in der Konzeption bewirken die Entstehung neuer Diskurstraditionen:

Wenn nun aber der Medienwechsel selbst traditionell wird, so sieht es anders aus: das Interview und das abgedruckte Zeitungsinterview sind zwei verschiedene Diskurstraditionen, und zwar nicht nur medial, sondern auch konzeptionell (das Zeitungsinterview neigt stärker zur Distanz). Dieses Beispiel zeigt uns aber zugleich, daß auch hier an der prinzipiellen Trennung von Medium und Konzeption festzuhalten ist: der mediale Sprung vom Phonischen ins Graphische führt einerseits keineswegs zu einem völligen konzeptionellen Sprung; vielmehr rückt das Zeitungsinterview auf dem konzeptionellen Kontinuum nur ein Stückchen weiter in Richtung Distanz, behält aber noch gewisse Elemente kommunikativer Nähe (Koch 1997: 57).

Insbesondere die Abänderung in den KommunikationsbedingungenKommunikationsbedingungen verändert das konzeptionelle Profilkonzeptionelles Profil einer Diskurstradition, durch das diese maßgeblich geprägt wird:

Besonders wichtig sind derartige Modifikationen, wenn sie auf wie auch immer bedingten objektiven Veränderungen der Parameter der skizzierten Kommunikationsbedingungen beruhen und damit die Grundstruktur der Diskurstraditionen tangieren (Oesterreicher 1997: 30).

Aus den Überlegungen Koch/Oesterreichers folgt, dass zwischen „rein medialen Transkodierungen“ und „Verschiebungen, bei denen sich konzeptionelle Profile von Diskursen verändern“ (Koch/Oesterreicher 2007: 358) zu unterscheiden ist, wobei nur letztere zur Ausbildung unterschiedlicher Diskurstraditionen führen können.

Diese Erkenntnis lässt sich auch auf Fälle anwenden, in denen das TrägermediumTrägermedium und die damit verbundenen KommunikationsbedingungenKommunikationsbedingungen, aber nicht die physische Realisierung (phonischRealisierung– phonische oder grafischRealisierung– grafische) verändert werden. Dabei stellt sich insbesondere bei digitalen DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale die Frage, ob „bei Verlagerung in ein anderes Medium von derselben TextsorteTextsorte gesprochen werden“ kann (Fix 2014: 29):

Entspricht z.B. das so genannte elektronische Gästebuch dem, was wir alltagssprachlich mit Gästebuch meinen? Wie viele und welche durch den Medienwechsel bedingten Veränderungen sind zugelassen, ohne dass der Textsortencharakter verloren ginge? (Fix 2008d: 122).

Legt man nun die Ausführungen von Koch/Oesterreicher zugrunde, dann wären nur im Falle der Veränderung konzeptionellerKonzeption Aspekte zwei verschiedene Diskurstraditionen anzunehmen. Im Falle einer „rein medialen Transkodierung“ (Koch/Oesterreicher 2007: 358) handelt es sich um eine Variante ein und derselben Diskurstradition, die lediglich in einem anderen medialen Code realisiert wird. Ein solcher Fall liegt vor, wenn beispielsweise eine mittelalterliche Urkunde als Digitalisat zur Verfügung gestellt wird. Zwar tritt zur ursprünglichen Funktion der Urkunde als Rechtsakt diejenige als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt hinzu, denn die Wissenschaftler sind als Leserschaft ursprünglich nicht intendiert, jedoch handelt es sich nach wie vor um dieselbe DiskurstraditionDiskurstradition, die in einer möglichst originalgetreuen Form zugänglich gemacht werden soll (cf. Gévaudan 2016: 94). Ein anderer Fall liegt vor, wenn Leserkommentare auf Le Monde in der Rubrik Réagissez mit Leserbriefen verglichen werden, oder wenn Kundenbewertungen auf Amazon traditionellen Rezensionen gegenübergestellt werden. In beiden Fällen sind Abänderungen in der KonzeptionKonzeption festzustellen, die den Schluss zulassen, dass es sich nicht um die Fortführung der etablierten DiskurstraditionDiskurstradition im Internet handelt, sondern dass die Abweichungen so groß sind, dass von eigenen Diskurstraditionen gesprochen werden kann. Im Falle des Leserbriefs kommt Hammer zu dem Schluss:

Aus dem argumentativ textorientierten Brief entwickelt sich ein interaktionsorientiertes Kommunikat (Hammer 2014: 50).

Letztendlich muss stets im Einzelfall überprüft werden, wie groß die Unterschiede zwischen der gedruckt und der digital realisierten Diskurstradition sind, um Aussagen über die Herausbildung digitaler DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale machen zu können. Dies legen auch Modelle nahe, die annehmen, dass sich neue DiskurstraditionenDiskurstradition eher sukzessive aus bereits etablierten Diskurstraditionen herausbilden, indem sie sich den neuen medialen Gegebenheiten anpassen:

new information and communication technologies (ICTs) are first put mainly to old uses, and uses that take advantage of the full potential of the technologies emerge only later (Herring 2013: 8).

Diese Annahme bestätigt auch die Entwicklung der Diskurstradition EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel, die zunächst gedruckt und dann auf CD-ROM realisiert wird. Diese wird später auf statischen Webseiten reproduziert. Auch der Vorläufer der Wikipedia, NupediaNupedia, ist ein Versuch, gedruckte EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel online zu reproduzieren. Erst als dieses Modell nicht funktioniert und sich Wikipedia, die ursprünglich als kollaborativekollaborativ Entwurfsplattform für Nupediaartikel gedacht war, als geeigneter erweist, setzt sich das Prinzip der kollaborativen Produktion durch, eine Praxis, die aus der Softwareindustrie entlehnt ist.

 

In ihrem Modell zur Entwicklung von Diskurstraditionen nehmen Crowston/Williams (1997: 203) die Phasen reproduced, adapted und emergent an. Wie Erscheinungen des SprachwandelsSprachwandel wird auch die diskurstraditionelle Dynamikdiskurstraditionelle Dynamik von den kommunikativen Praktiken der Sprecher getragen, nur dass sich Diskurstraditionen schneller wandeln als ein Sprachsystem. Zunächst tendieren die Sprecher dazu, in neuen Situationen auf bereits bekannte Diskurstraditionen zurückzugreifen:

in a new situation individuals will typically draw on their existing genre repertoire, reproducing genres (Crowston/Williams 1997: 203).

Als Beispiele werden digitalisierte Bücher oder wissenschaftliche Artikel genannt, die fast unverändert in das neue TrägermediumTrägermedium transferiert werden. Allerdings erlauben die DiskursregelnDiskursregel auch Freiheitsgrade, weswegen es zu Abänderungen kommt, die häufig Anpassungen an die neuen medialen Bedingungen darstellen:

For example, the journal article will likely change as it moves onto the Web to take advantage of the possibilities of linking or embedding information (Crowston/Williams 1997: 203).

Wenn diese modifizierten Diskurstraditionen wiederholt verwendet und von den Sprechern akzeptiert werden, existieren sie eine Weile neben den traditionellen Diskurstraditionen und können diese nach längerer Zeit ersetzen. Dies verändert das gesamte Gefüge der DiskurstraditionenDiskurstradition einer kulturellen Gemeinschaft. Im Internet lassen sich jedoch auch Diskurstraditionen finden, die in keinem Zusammenhang mehr mit gedruckten Diskurstraditionen stehen und sich als eigenständige Diskurstraditionen vollständig separat weiterentwickelt haben, wobei es schwierig ist, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem eine neue Diskurstradition entsteht:

Because the definition of genre relies on social acceptance, it is impossible to define the exact point at which a new genre emerges from the old one. Acceptance may take many years. However, after some period of coexistence, the new combination of form and purpose may become generally recognized and named as a separate genre (Crowston/Williams 1997: 203).

In ihrer Präzisierung nehmen Shepherd/Watters (1998) den grundsätzlichen Gedanken von Crowston/Williams (1997) auf und sprechen von den Stufen replicated, variant und novel. Jedoch unterscheiden sie zusätzlich bei neuen Diskurstraditionen, ob diese aus alten hervorgegangen sind, oder ob es sich um spontane Bildungen handelt:

The new functionality afforded by the new medium drives the evolution […] of replicated genres, i.e., those based on genres existing in other media, through variations on those genres until novel genres emerge that are significantly different from the original genres. In addition, the new medium supports the spontaneous creation of new genres that have never existed in other media (Shepherd/Watters 1998).

Als emergente DiskurstraditionDiskurstradition– emergente beschreiben Shepherd/Watters (1998) eine Zeitungsseite, die erst bei Seitenaufruf durch einen bestimmten Nutzer die für ihn passenden Nachrichten anzeigt. Als spontane Diskurstradition wird die FAQ-Liste (frequently asked questions) eingeschätzt, die keinen analogen Vorläufer hat.

Inspiriert von den Annahmen in Crowston/Williams (1997) ist der Ansatz in Herring (2013), die sich jedoch nicht auf ganze Diskurstraditionen, sondern auf Diskursphänomene konzentriert, wobei sie überwiegend Erscheinungen des Web 1.0Web 1.0 mit denen des Web 2.0Web 2.0 vergleicht, jedoch stellenweise auch analoge DiskurstraditionenDiskurstradition– analoge einbezieht. Herring nimmt die Stufen familiar, reconfigured und emergent an (cf. Herring 2013: 8), wobei familiar auf die Kontinuität eines Diskursphänomens mit eventuell geringfügigen Abwandlungen verweist, und nicht wie reproduced suggeriert, dass es sich um eine Kopie handelt (cf. Herring 2013: 7). Im Gegensatz zu adapted macht reconfigured auf die strukturelle Umgestaltung der Diskursphänomene aufmerksam (cf. Herring 2013: 8). Neue Diskursphänomene werden von Herring als emergent bezeichnet. Als familiar schätzt sie beispielsweise die genderspezifische Ausdrucksweise in Onlineforen und Chat-Räumen ein, die sich in sehr ähnlicher Form im Face-to-Face-Gespräch nachweisen lassen:

Gender differences in discourse style were documented in public online discussion forums and chatrooms throughout the 1990s that showed males to be more assertive, insulting, sarcastic, and profane, and females to be more accommodating, supportive, affectionate, and upbeat […]. These patterns reproduced gender styles in spoken conversation (Herring 2013: 9).

Als reconfigured wird von ihr die Praxis des turn-taking im Web 2.0Web 2.0 eingeschätzt, was beispielsweise mit dem Mühlenprinzip vieler Chatfunktionen zusammenhängen dürfte, die turn-taking nach einem Turn, aber nicht nach einem einzelnen Zeichen einer ganzen Eingabe erlauben. Als emergent betrachtet Herring die kollaborativekollaborativ Textproduktion in WikisWiki:

Collaborative text production of the sort that takes place on Wikipedia represents a new kind of online discourse. […] It leaves a manifest trace both front stage, in article pages and backstage […] in talk and user pages. Moreover, every addition, deletion, or alteration of the text is preserved in history pages, which in themselves constitute a new kind of text (Herring 2013: 15).

Im Gegensatz zu dieser neuen kommunikativen Praktik steht jedoch der Befund Herrings (2013), dass Artikel in PrintenzyklopädienEnzyklopädie– Print-~ und in WikipediaWikipedia große Ähnlichkeiten aufweisen:

Interestingly, despite being arrived at by entirely different means, the text of Wikipedia articles can be strikingly similar to that of traditional print encyclopaedias, both in quality of content […] and in style (Herring 2013: 15).

Ob sich die veränderten kommunikativen Bedingungen tatsächlich weder auf den Inhalt noch auf die Wahl sprachlicher Mittel in WikipediaartikelnWikipediaartikel auswirken oder möglicherweise andere diskurstraditionelle Merkmale betroffen sind, bleibt näher zu untersuchen.

Zusätzlich zu Veränderungen, die durch den Wechsel des TrägermediumsTrägermedium bedingt sind, stellt sich die Frage, „ob die Internetkommunikation zur Vereinheitlichung elektronischer Textsorten führt, sodass kulturelle Unterschiede in diesem Fall verschwinden“ (Fix 2014: 29) oder ob „kulturgeprägte Handlungsmuster auch in den Neuen Medien beibehalten“ werden (Reutner 2012: 9). Außer der Anpassung an eine dominante Leitkultur und dem Erhalt von KulturspezifikaKulturspezifikum ist eine Verschmelzung der Merkmale denkbar, aber auch die Ausbildung völlig neuer MusterDiskursmuster (cf. Reutner 2012: 9). Dass digitaleDiskurstradition– digitale ebenso wie analogeDiskurstradition– analoge Diskurstraditionen eine kulturelle Ausprägung aufweisen, legen kulturkontrastive Studien beispielsweise zu französischen und spanischen E-Mails (cf. Reutner 2010: 155f.) und zu deutschen, französischen, spanischen und englischen Unternehmenswebseiten (cf. Reutner 2014b: 156; Reutner 2015: 14–16; Schröder 2013: 340) nahe. Deswegen stellt sich auch in Bezug auf WikipediaartikelWikipediaartikel die Frage nach der Kultursensitivität der SprachversionenSprachversion (der Wikipedia).

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