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Kapitel zwei

Riley konnte die Dringlichkeit spüren, die in der Luft hing, als sie das Büro des leitenden Spezialagenten Brent Meredith im Gebäude der Verhaltensanalyseeinheit betrat. Die gewaltige Figur Merediths zeichnete sich hinter seinem Schreibtisch ab. Vor ihm standen bereits Bill Jeffreys und Jenn Roston, ihre Reisetaschen in Hand.

Sieht ganz danach aus, als würde das eine kurze Besprechung werden, dachte Riley sich.

Sie nahm an, dass ihre zwei Partner und sie wahrscheinlich innerhalb weniger Minuten aus Quantico abfliegen würden, und sie war froh darüber, dass sie drei erneut zusammenarbeiten würden. Während ihres letzten Falls in Mississippi hatten die drei noch mehr Regeln als sonst gebrochen und Meredith hatte ihnen seinen Unmut darüber sehr klar gemacht. Sie hatte befürchtet, dass Meredith sie nach dem Fall nicht mehr zusammen zu Einsätzen schicken würde.

„Ich freue mich, dass Sie alle so schnell hierher gefunden haben“, sagte Meredith in seiner brummenden Stimme, als er sich ein wenig in seinem Bürosessel hin und her drehte. „Ich habe soeben einen Anruf von Rowan Sturman, dem leitenden Spezialagenten aus dem FBI Büro von New Haven in Connecticut. Er will unsere Hilfe. Ich nehme an, Sie haben alle von Vincent Cranstons Tod gehört.“

Riley nickte, ihre Kollegen auch. Sie hatte in der Zeitung gelesen, dass Vince Cranston, ein junger Erbe einer Multimilliardärenfamilie, gerade erst letzte Woche unter mysteriösen Umständen in New Haven umgekommen war.

Meredith fuhr fort: „Cranston hatte gerade eben sein Studium an der Yale Universität aufgenommen, seine Leiche wurde eines frühen Morgens auf der Friendship Woods Joggingroute aufgefunden. Er wollte joggen gehen und zuerst sah es ganz danach aus, als hätte sein Tod eine natürliche Ursache gehabt – es schien, als wäre er an einer Hirnblutung gestorben.“

Bill sagte: „Ich nehme an, dass die Obduktion etwas anderes gezeigt hat.“

Meredith nickte. „Genau, bisher wurde es geheim gehalten. Der Gerichtsmediziner hatte eine kleine Wunde gefunden, dass durch das Ohr des Opfers direkt zum Gehirn führte. Er wurde anscheinend auf die Art und Weise mit einem scharfen, geraden, dünnen Gegenstand erstochen.“

Jenn schaute Meredith überrascht an.

„Mit einem Eispickel?“, fragte sie.

„So sah es aus“, antwortete Meredith.

Riley fragte: „Was war das Motiv?“

„Niemand hat irgendeine Ahnung“, antwortete Meredith. „Natürlich kann man nicht einer reichen Familie wie den Cranstons angehören, ohne sich über die Jahre mehr als genug Feinde zu machen. Es ist Teil des Erbes. Es schien naheliegend zu sein, dass der arme Junge zum Opfer eines professionellen Auftragskillers geworden war. Die Liste aller Verdächtigen abzuarbeiten erschien beinahe unmöglich. Doch dann…“

Meredith hielt inne und trommelte mit seinen fünf Fingern auf dem Tisch.

Dann sagte er: „Erst gestern wurde eine weitere Leiche gefunden. Dieses Mal war das Opfer Robin Scoville, eine junge Frau, die für eine Literaturzeitschrift in Wilburton, Connecticut arbeitete. Sie wurde in ihrem eigenen Wohnzimmer tot aufgefunden – zuerst sah auch ihre Todesursache nach einer Hirnblutung aus. Doch auch hier hat die Obduktion eine kleine Wunde durch das Ohr und mitten ins Gehirn festgestellt.“

Rileys Verstand arbeitete wie verrückt, als sie die Information verarbeitete.

Zwei Opfer, die mithilfe eines Eispickels getötet wurden, alles in demselben kleinen Staat über einen Zeitraum von nur einer Woche.

Das klang nicht nach Zufall.

Meredith fuhr fort: „Vincent Cranston und Robin Scoville waren so unterschiedlich wie zwei Menschen nur sein können – der eine ein reicher Erbe in seinem ersten Jahr an einer Ivy League Universität, die andere eine junge geschiedene Frau, die in bemerkenswert bescheidenen Verhältnissen lebte.“

Jenn fragte: „Wo ist dann die Verbindung?“

„Wieso würde irgendjemand die beiden Tod sehen wollen?“, fügte Bill hinzu.

Meredith erwiderte: „Das ist genau was Agent Sturman wissen möchte. Es ist jetzt schon ein scheußlicher Fall – und er wird nur noch scheußlicher werden, wenn noch mehr Menschen umgebracht werden. Es konnte keinerlei Verbindung zwischen den Opfern festgestellt werden und es ist schwierig das Verhalten des Mörders nachzuvollziehen. Sturman hat das Gefühl, dass er und sein New Haven FBI Team komplett überfordert sind. Also rief er uns an und bat um die Unterstützung der Verhaltensanalyseeinheit. Deshalb habe ich Sie drei hierher bestellt.“

Meredith erhob sich aus seinem Sessel und brummte…

„Inzwischen haben Sie keine Zeit zu verlieren. Ein Flugzeug steht bereit und wartet auf Sie auf der Startbahn. Sie fliegen zum Tweed-New Haven Regionalflughafen, dort wird Sturman Sie empfangen. Sie machen sich dann sofort an die Arbeit. Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass ich den Fall so schnell wie möglich aufgedeckt wissen will.“

Meredith hielt inne und sah jeden der Agenten eindringlich an.

„Und dieses Mal will ich, dass alle Regeln eingehalten werden“, sagte er. „Keinen Unfug mehr. Ich meine es ernst.“

Riley und ihre Kollegen murmelten kleinlaut: „Natürlich, Sir.“

Für ihren Teil meinte Riley es auch wirklich. Sie wollte sich Merediths Zorn auf keinen Fall nochmals aussetzen und sie wusste, dass auch Bill und Jenn dies nicht wollen konnten.

Meredith begleitete die drei aus seinem Büro hinaus und wenige Momente später eilten sie bereits über die Landebahn zum wartenden Flieger.

Als sie liefen, bemerkte Jenn: „Zwei Morde mit einem Eispickel, zwei scheinbar in keiner Beziehung zueinander stehende Opfer – vielleicht sogar zufällig gewählt. Klingt das nicht unglaublich merkwürdig?“

„An Merkwürdiges hätten wir uns bereits gewöhnt haben müssen“, erwiderte Riley.

Jenn schnaubte. „Ja, hätten wir. Ich weiß nicht, wie es euch beiden geht, aber ich bin noch nicht so weit.“

Mit einem Kichern sagte Bill: „Sieh es mal so. Ich habe gehört, das Wetter soll in Connecticut um diese Jahreszeit herrlich sein.“

Jenn lachte und sagte: „Es ist sicherlich angenehmer, als in Mississippi.“

Riley verzog ihre Miene, als sie an die erdrückende und stickige Hitze in der unangenehmen Küstenstadt Rushville, Mississippi zurückdachte.

Sie war sich sicher, dass das Spätsommerwetter in New England auf jeden Fall eine zu bevorzugende Alternative darstellen müsse.

Schade, dass wir wahrscheinlich nicht wirklich die Chance haben werden es zu genießen.

* * *

Als das Flugzeug amTweed-New Haven Regionalflughafen landete, grüßte leitender Spezialagent Rowan Sturman Riley und ihre Kollegen auf der Landebahn. Riley hatte Sturman nie persönlich kennengelernt, doch sie hatte von ihm gehört.

Sturman war Anfang vierzig, ungefähr genauso als wie Riley und Bill. Als er jünger war, wurde er als vielversprechender, talentierter Agent gepriesen, von dem man erwartete, dass er hoch in den Ränken des FBI aufsteigen würde. Stattdessen hatte er sich damit zufrieden gegeben das FBI Büro von New Haven zu leiten. Gerüchten zufolge, hatte er einfach nicht nach Washington D.C. zum Hauptquartier oder nach Quantico, oder sonst wohin umziehen wollen. Er und seine Familie waren in Connecticut fest verwurzelt.

Natürlich, so nahm Riley an, hätte es auch sein können, dass er einfach kein Interesse daran hatte an den politischen Spielen, die in den beiden Machtzentren des FBI stattfanden, teilzunehmen.

Sie konnte das gut verstehen.

Riley gefiel es in der Verhaltensanalyseeinheit zu arbeiten, weil das Ermitteln in Fällen mit kuriosen Persönlichkeiten ihre einzigartigen Fähigkeiten beanspruchte. Doch sie hasste es, wie die Machspielchen der Hochgestellten manchmal bei den Ermittlungen dazwischenfunkten. Und sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis so etwas auch im Fall um den Tod eines ultrareichen Erben passieren würde.

Riley empfand Sturman sofort als freundlich und sympathisch. Während er sie zu einem wartenden Auto brachte, sprach er mit einem angenehmen New England Akzent mit ihnen.

„Ich fahre Sie direkt nach Wilburton, sodass Sie sich den Ort ansehen können, an dem Robin Scovilles Leiche gefunden wurde. Das ist der frischere der beiden Tatorte und ich habe den örtlichen Polizeichef schon informiert, damit er uns dort treffen kann. Später zeige ich Ihnen, wo Vincent Cranston umgebracht wurde. Ich hoffe wirklich, dass Sie herausfinden können, was hier vor sich geht, denn mein Team und ich verstehen gar nichts.“

Riley, Bill und Jenn saßen im Kleintransporter beieinander, als Sturman sie Richtung Norden fuhr. Jenn öffnete ihren Laptop und begann nach Informationen zu suchen.

Sturman wandte sich an Riley und ihre Kollegen: „Ich bin froh, dass Sie hier sind. Mein Team und ich kommen hier nicht weiter mit den Fertigkeiten und Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen. Wir versuchen natürlich alles, was uns einfällt. Zum Beispiel haben wir bereits Werkzeuggeschäfte in der Region kontaktiert um alle vorhandenen Informationen zu Eispickelkäufen in letzter Zeit zu beschaffen.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte Riley. „Hat das bisher irgendwas gebracht?“

„Nein, ich befürchte, dass das eher erfolglos bleibt“, antwortete Sturman. „Zur Zeit haben wir nicht besonders viele Namen, meist handelt es sich um Leute, die ihre Eispickel per Kreditkarte bezahlt haben, oder wo die Ladenbesitzer irgendeine andere Art von Unterlagen zu den Käufen besitzen. Und auch unter diesen Leuten wissen wir nicht genau, wonach wir suchen sollen. Wir müssen wohl einfach dranbleiben und schauen.“

Riley bemerkte: „Einen Eispickel als Waffe zu verwenden erscheint mir irgendwie antiquiert.“

Sie dachte einen Moment lang darüber nach und fügte hinzu: „Andererseits, wozu ist ein Eispickel heutzutage sonst noch gut?“

Jenn blickte finster drein, als sie die Informationen, die auf ihrem Bildschirm erschienen, überflog.

 

Sie sagte: „Nicht zu vielem – jedenfalls nicht in den letzten hundert Jahren, oder so. Früher, als es noch keine Kühlschränke gab, haben die Leute verderbliche Lebensmittel in altmodischen Eisschränken aufbewahrt.“

Bill nickte und sagte: „Ja, meine Urgroßmutter hat mir einmal davon erzählt. Ab und zu kam dann so ein Eismann vorbei, der einen Eisklotz für die Eisbox vorbeibrachte. Man hat dann einen Eispickel gebraucht um den Eisblock zu zerteilen.“

„Genau“, sagte Jenn. „Nachdem Eisboxen durch Kühlschränke ersetzt wurden, wurden Eispickel ein beliebtes Werkzeug bei Murder Incorporated. Die Leichen der Mordopfer hatten manchmal bis zu zwanzig Wunden von Eispickeln.“

Bill schnaubte und sagte: „Klingt irgendwie nach einem schlampigen Werkzeug für einen professionellen Auftragsmord.“

„Ja, aber es diente auch der Abschreckung“, sagte Jenn, weiterhin auf den Bildschirm gerichtet. „Niemand wollte auf diese Art und Weise sterben. Die Gefahr, mit einem Eispickel erstochen zu werden half, Mafiosi unter Kontrolle zu halten.“

Jenn drehte den Bildschirm zu Riley und Bill um ihnen zu zeigen, was sie gefunden hatte.

Sie sagte: „Außerdem, schaut mal hier. Nicht alle Eispickelmorde waren blutig und chaotisch. Ein Mafiosi namens Abe Reles war einer der meistgefürchteten Auftragskiller seiner Zeit und der Eispickel war das Werkzeug seiner Wahl. Er erstach seine Opfer fein säuberlich durchs Ohr – genau wie unser Mörder. Er war so gut, dass manche seiner Aufträge überhaupt nicht mehr wie Morde aussahen.“

„Sag nicht“, erwiderte Riley, „dass sie nach Hirnblutungen aussahen.“

„Genau“, bestätigte Jenn.

Bill kratze sich das Kinn. „Meint ihr unser Mörder ist auf die Idee gekommen, weil er von Abe Reles gelesen hat? Dass also seine Morde vielleicht irgendeine Art Hommage an einen alten Meister sind?“

Jenn sagte: „Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Eispickel werden gerade wieder populär unter Gangs. Junge Gangster erledigen einander heutzutage haufenweise mit diesen Eispickeln. Sie werden sogar bei Überfällen verwendet. Opfer werden mit einem Eispickel bedroht, statt mit einer Pistole oder einem Messer.“

Bill kicherte düster und sagte…

„Gerade vor ein paar Tagen bin ich in einen Werkzeugladen gegangen, um Panzertape zu kaufen. Da habe ich einen Aufsteller mit nagelneuen Eispickeln gesehen – ‚professionelle Qualität‘, besagte der Aufkleber, und auch ‚Hartstahl‘. Ich habe mich damals gefragt, wozu genau man sowas heute noch verwendet? Und ich weiß es bis heute nicht. Sicherlich wird nicht jeder, der Eispickel kauft, einen Mord im Schilde führen.“

„Frauen könnten die zum Selbstschutz dabeihaben, nehme ich an“, sagte Riley. „Obwohl Pfefferspray wahrscheinlich eine bessere Wahl ist, wenn ihr mich fragt.“

Jenn drehte den Bildschirm wieder in ihre Richtung und sagte: „Ihr könnt euch vorstellen, dass Versuche der Gesetzgebung den Verkauf oder Besitz von Eispickeln einzuschränken wenig Erfolg hatten. Aber einige Geschäfte führten freiwillig die Praxis Käufer dazu aufzufordern sich auszuweisen um sicherzustellen, dass diese bereits einundzwanzig Jahre alt sind. In Oakland, Kalifornien ist es sogar illegal Eispickel mit sich zu führen – gleichsam mit Schnappmessern und anderen Hieb- und Stichwaffen.“

Rileys Gedanken überschlugen sich von der Vorstellung zu versuchen den Kauf und Besitz von Eispickeln zu regulieren.

Sie fragte sich…

Wie viele Eispickel gibt es da draußen?

Zu diesem Zeitpunkt wussten sie und ihre Kollegen von zumindest einem.

Und sein Gebrauch war der Denkbar schlimmste.

Sie kamen schon bald in der kleinen Stadt Wilburton an. Riley war angetan davon, wie antiquiert malerisch die Gegend, in der Robin Scoville gelebt hatte, war – schöne in Schindel verkleidete Häuschen mit Fensterläden standen entlang der Straße, deren Vorgärten reihenweise von hübschen weißen Palisadenzäunen umgeben waren. Das Viertel war alt, womöglich sogar historisch. Trotzdem glänzte alles vor schneeweißer Farbe, so dass man meinen könnte, sie sei noch frisch.

Riley begriff, dass die Menschen, die hier lebten sehr stolz auf ihre Nachbarschaft waren und deren Vergangenheit bewahrten, so als lebten sie in einem Freilichtmuseum. Auf den Straßen waren nicht viele Autos zu sehen, daher fiel es ihr leicht sich das Städtchen in einer anderen Zeit vorzustellen mit Karren und Kutschen, die an den Häusern von Pferden vorbeigezogen wurden.

Dann fiel ihr ein…

Der Eismann hatte hier früher bestimmt oft seine Runde gemacht.

Sie stellte sich das sperrige Gefährt vor mit aufgetürmtem Eis und einen starken Mann, der die Blöcke mit schweren eisernen Zangen vor die Haustüren hievte. Damals besaß jede Hausfrau, die hier lebte, einen Eispickel, den sie für einen absolut unschuldigen Zweck einsetzte.

Doch die Stadt hatte vorgestern Nacht einen bitteren Verlust der Unschuld erfahren müssen.

Die Zeiten haben sich geändert, dachte Riley. Und nicht zum besseren.

Kapitel drei

Rileys Puls wurde schneller, als Agent Sturman den Kleintransporter vor einem kleinen Haus in einer netten Nachbarschaftsstraße parkte. Hier war es, wo Robin Scoville gelebt hatte und wo sie ermordet wurde. Riley spürte immer diese gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn sie kurz davor war, einen Tatort zu betreten. Manchmal konnte sie ihre einzigartige Fähigkeit nutzen um die verdrehte Psyche des Mörders Einblick zu erhalten, genau an dem Ort, an dem der Mord stattgefunden hatte.

Würde es ihr auch hier gelingen?

Wenn ja, so war es nichts, worauf sie sich freute.

Es war ein hässlicher und verstörender Teil ihrer Arbeit, doch sie musste es nutzen, wann immer sie die Möglichkeit bekam.

Als sie aus dem Transporter stiegen, bemerkte sie, dass das Haus das kleinste in der Nachbarschaft war – ein bescheidener einstöckiger Bungalow mit einem kompakten Vorgarten. Doch wie alle Häuser auf dem Block war es hervorragend erhalten und akkurat gestrichen. Es war ein malerischer Anblick, der nur von dem gelben Polizeiband verdorben wurde, dass die Öffentlichkeit vom Grundstück fernhalten sollte.

Als Riley, Jenn, Bill und Agent Sturman durch das Zauntörchen gingen, trat ein großer, uniformierter Mann aus dem Haus. Agent Sturman stellte ihn den anderen als Clark Brennan, den Polizeichef Wilburtons, vor.

„Kommen Sie rein“, sagte Brennan mit einem angenehmen Akzent, der Sturmans ähnelte. „Ich zeige Ihnen, wo es geschah.“

Sie gingen eine lange hölzerne Rampe hoch, die zur Veranda führte.

Riley fragte Brennan: „Was das Opfer fähig sich selbstständig fortzubewegen?“

Brennan nickte und sagte: „Ihre Nachbarn sagen, dass sie die Rampe nicht mehr wirklich gebrauch hat. Nach einem Autounfall im letzten Jahr war ihr linkes Bein bis über dem Knie amputiert, aber sie kam sehr gut mit ihrer Prothese zurecht.“

Brennan öffnete die Eingangstür und alle betraten das gemütliche, komfortable Häuschen. Riley bemerkte keine weiteren Anzeichen dafür, dass hier eine behinderte Person gelebt hatte – keine besonderen Möbel oder Handgriffe, nur ein Rollstuhl, der in der Ecke stand. Es war offensichtlich, dass Robin Scoville sich alle Mühe gegeben hatte, ein so normales Leben, wie es ihr nur möglich war, zu leben.

Eine Überlebende, dachte Riley voll bitterer Ironie.

Die Frau musste gedacht haben, dass sie bereits die schlimmsten Herausforderungen, die ihr das Leben nur präsentieren konnte, überstanden hatte. Sie hatte sicherlich keine Ahnung welch grausames Schicksal sie erwartete.

Das kleine, saubere Wohnzimmer war mit günstigen Möbeln ausgestattet, die ziemlich neu aussahen. Riley bezweifelte, dass Robin allzu lange in diesem Haus gelebt hatte. Der Ort machte irgendwie den Eindruck einer Übergangslösung und Riley dachte, dass sie sich vorstellen konnte, wieso.

Riley fragte: „Das Opfer war geschieden?“

Brennan schaute sie überrascht an.

„Ja, ganz genau“, erwiderte er. „Sie und ihr Mann hatten sich erst dieses Jahr getrennt.“

Es war genau, wie Riley vermutet hatte. Dieses Haus ähnelte stark der Unterkunft, in der sie und April gewohnt hatten, nachdem ihre Ehe mit Ryan in die Brüche ging.

Doch Robin Scovilles Herausforderungen waren sehr viel schwerwiegender, als Rileys. Sie musste nicht nur eine Scheidung, sondern auch einen Schrecklichen Unfall überwinden, in ihrem Versuch ein neues Leben aufzubauen.

Die Position, in der die Leiche aufgefunden wurde, war mit Kreppband auf dem Boden markiert. Brennan zeigte auf einen kleinen, dunklen Fleck auf dem Boden.

„Sie hat nur ein bisschen aus dem Ohr geblutet. Genau wie bei einer Gehirnblutung. Doch wegen des kürzlichen Mordes an Cranston war der Gerichtsmediziner sofort misstrauisch. Und genau wie erwartet hat die Obduktion gezeigt, dass Robin auf dieselbe Art wie Cranston ermordet wurde.“

Riley dachte…

Dieselbe Methode, aber unter derart unterschiedlichen Umständen.

Und sie wusste, dass jegliche Unterschiede oftmals genauso wichtig waren wie die Ähnlichkeiten.

Sie fragte Brennan: „Gibt es Indizien dafür, dass sie sich zur Wehr gesetzt hat?“

„Überhaupt keine“, sagte Brennan.

Sturman fügte hinzu: „Es sieht ganz danach aus, als wäre sie überrascht worden und ganz unerwartet von hinten angegriffen worden.“

Bill fragte: „Hat sie ihre Prothese zum Zeitpunkt ihres Todes getragen?“

„Nein“, sagte Brennan. „Sie hatte ihre Krücken benutzt.“

Riley kniete sich hin und untersuchte die Position des Körpers, wie das Kreppband sie wiedergab. Sie war direkt vor dem Fester zusammengebrochen. Robin wurde höchstwahrscheinlich angegriffen, als sie gerade vor dem Fenster stand.

Sie fragte Brennan: „Was ist der ungefähre Todeszeitpunkt?“

Brennan antwortete: „Gegen vier Uhr morgens.“

Riley stand am Fenster und schaute hinaus auf die ruhige, freundliche Straße und fragte sich…

Wieso hat sie aus dem Fenster geschaut?

Was konnte in dieser Nachbarschaft um diese Uhrzeit passieren, dass es ihre Aufmerksamkeit beansprucht hatte? Und war das überhaupt relevant? Hatte es irgendetwas mit dem tatsächlichen Mord zu tun?

Riley fragte: „Wie hat man ihre Leiche gefunden?“

Brennan sagte: „Sie ist am nächsten Morgen nicht zu ihrer Arbeit bei einer örtlichen Literaturzeitschrift erschienen. Und sie hat auch nicht den Hörer abgenommen. Ihr Boss fand das merkwürdig und hat sich Sorgen gemacht, da es überhaupt nicht zu ihr passte. Er befürchtete, dass sie zuhause vielleicht irgendeinen Unfall hatte, wegen ihnen Behinderung. Also schickte er einen Mitarbeiter zu ihr nach Hause, um nach ihr zu sehen. Als sie die Tür nicht öffnete, ging der Mitarbeiter hintenrum und stellte fest, dass die Hintertür aufgebrochen war. Er betrat das Haus und fand die Leiche und rief die Rettungskräfte und Polizei.“

Riley stand noch einen Moment lang da und fragte sich, was Robin wohl aus dem Fenster gesehen haben könnte.

War dort irgendetwas passiert, was sie geweckt und ans Fenster gebracht hatte?

Riley hatte keine Ahnung.

In jedem Fall war es für Riley viel weniger interessant, was das Opfer in den letzten Momenten ihres Lebens erfahren hatte, als das, was im Kopf des Mörders vor sich gegangen war. Sie hoffte, dass sie vielleicht einen Anhaltspunkt dafür bekommen konnte, während sie hier war.

„Zeigen Sie uns, wo der Mörder eingebrochen ist“, bat Riley.

Brennan und Sturman führten Riley und ihre Kollegen durch das kleine Haus zu einer Tür, die in den Hinterhof führte.

Riley sah sofort, dass das Glas in der Nähe des Türriegels und der Klinke zerbrochen war. Der Mörder hatte offensichtlich das Glas zerbrochen und hatte anschließend die Tür entriegelt und geöffnet.

Doch nun bemerkte Riley noch etwas, was ihr wichtig vorkam.

Reste von Abklebefolie hafteten an den Scherben, die noch im Rahmen hingen.

Riley berührte vorsichtig eine Scherbe, an der etwas von der Folie klebte.

Der Mörder hatte die Scheibe mit Abklebefolie beklebt in der Hoffnung, nicht allzu viel Lärm zu machen, doch auch weil…

Vielleicht wollte er keine zu große Unordnung verursachen.

Riley fuhr zusammen von der plötzlichen Sicherheit, die sie verspürte.

Er ist penibel.

Er ist ein Perfektionist.

Das war die Art der plötzlichen intuitiven Einsicht, auf die sie gehofft hatte.

Wie viel mehr konnte sie über den Mörder hier und jetzt herausfinden?

Ich muss es versuchen, dachte sie.

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