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2.

Man schrieb den 9. April anno 1593.

Mit rauschender Fahrt, bei halbem Wind über Backbordbug segelnd, liefen die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ auf die Küste von Hinterpommern zu. Die Mittagsstunde war eben vorüber, der Himmel über der Baltischen See versteckte sich hinter schweren grauen Wolken. Der Monat April, soviel hatten die Arwenacks zur Genüge feststellen können, zeigte, daß er in diesem Teil Europas zu Recht als launisch bezeichnet wurde. Mit einem baldigen Regenguß war jedenfalls zu rechnen.

Die beiden Galeonen erreichten die Mündung der Persante, und nach und nach schälten sich die Umrisse der Hafen- und Handelsstadt Kolberg aus dem Dunst. Den Männern, die zum Aufgeien der Segel in die Wanten gescheucht wurden, bot sich zum Lohn für die harte Arbeit der schönste Überblick.

Die Mauern und Türme der Stadt zeugten vom Reichtum ihrer Einwohner, aber auch von der Kraft und Entschlossenheit, das Erworbene zu verteidigen. Trutzige Mauern waren es, die auch vermuten ließen, wie sich diese Ansiedlung zu immer mehr Wohlstand entwickelt hatte.

Die Hafenanlagen, vor den entfesselten Naturgewalten der See hervorragend geschützt, beherbergten einen Mastenwald von beträchtlichen Ausmaßen. Die Frachtsegler, die an Piers und Duckdalben vertäut hatten, stammten überwiegend aus den Ländern rings um die Ostsee. Neben den Skandinaviern gab es etliche polnische und auch holländische Schiffe. Von den letzteren wußte der Seewolf, daß sie in jüngster Zeit mit ziemlichen Anstrengungen in den Tuchhandel eingestiegen waren. In der Mehrzahl waren hier in Kolberg naturgemäß die deutschen Schiffe vertreten, wobei dies wiederum für die meisten von ihnen der Heimathafen war.

Neugierige scharten sich vor den Lagerhäusern und Kontoren am Kai zusammen, nachdem der „Isabella“ und der „Wappen von Kolberg“ ihre Liegeplätze zugewiesen worden waren. Aber auch von den anderen Schiffen waren interessierte Blicke festzustellen, zum Teil nicht ohne einen gewissen Neid. Denn die schlanke englische Galeone war schon allein von ihrem äußeren Bild her ungewöhnlich. Den fast ausnahmslos fachmännischen Blicken blieb nicht verborgen, daß dieser Segler aus dem fernen Britannien über Eigenschaften verfügen mußte, die man nur ahnen konnte. Denn soviel stand fest: einen Dreimaster von dieser neuzeitlichen Bauart hatte man hier in Kolberg noch nicht gesehen.

Eindeutig auch, daß die „Isabella“ nicht allein für friedliche kaufmännische Zwecke gebaut worden war. Bei einem Registergewicht von runden 550 tons und einer Länge von 52 Yards verfügte die Galeone über eine beachtenswerte Armierung. Hinter den jetzt geschlossenen Stückpforten verbargen sich drei 25-Pfünder auf beiden Seiten des Quarterdecks, drei 17-Pfünder je Seite auf dem darunterliegenden Deck, vier 25-Pfünder auf beiden Seiten der Kuhl und drei weitere 17-Pfünder pro Seite unter der Back. Außerdem gab es je zwei Drehbassen auf der Back und auf dem Achterdeck.

Nachdem die Segel aufgetucht und die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ vertäut worden waren, hatten die Männer an Deck Gelegenheit, sich in der näheren Umgebung umzusehen.

Auf der Kuhl der englischen Galeone wandten sich unvermittelt alle Augenpaare nach Backbord, als die Zwillinge lebhaft zu gestikulieren begannen.

„Schon wieder so ein lausiger Don!“ rief Hasard junior, der seine Zunge nicht im Zaum halten konnte.

„Jetzt treiben sie sich sogar hier schon herum!“ fügte Philip junior prompt hinzu.

Auf dem Achterdeck griffen der Seewolf und Ben Brighton zu den Spektiven. Hasard beschloß, sich seine beiden Söhne später vorzuknöpfen. Die beiden gerieten in jene Jahre, die man auch als „Flegelalter“ bezeichnete. Hinzu gesellte sich ihr Temperament, und so fiel es ihnen manchmal höllisch schwer, gründlich über das nachzudenken, was sie von sich gaben. Wie oft hatte er ihnen bereits eingebleut, daß man auch einem Gegner gegenüber Fairneß zu üben hatte – in Taten und in Worten. Sie wußten das verdammt genau. Er würde sie gehörig daran erinnern müssen.

Auf dem Hauptdeck stemmte Ed Carberry die Fäuste in die Hüften, schob das Rammkinn vor und starrte der Crew nach, die sich samt und sonders der Neugier hingab.

„Welcher Wurm ist euch ins Hirn gekrochen?“ brüllte er. „Ihr glaubt wohl, ihr seid schon fertig mit dem Aufklaren, was, wie? Wenn ihr nicht auf der Stelle …“

Smoky, der breitschultrige Decksälteste, drehte sich um und unterbrach ihn mit einem Grinsen.

„Sei nicht so pingelig, Mister Carberry. Hier liegt was in der Luft, sage ich dir. Da wird man doch mal einen Blick riskieren dürfen.“

Der Profos der „Isabella“ kratzte sich am Hinterkopf. Seine Haarpracht, die er in Wiborg nach einer Wette mit Luke Morgan verloren hatte, begann neu zu sprießen. Dichte Stoppeln bedeckten bereits seinen Schädel, und er verzichtete deshalb seit ein paar Tagen auf die Pelzmütze, die er bisher zur Tarnung getragen hatte.

Smokys Wort hatte Gewicht. Also schluckte Edwin Carberry seinen Groll hinunter, bevor er sich richtig entwickeln konnte. Er schnaufte, gab sich einen Ruck und wandte sich ebenfalls nach Backbord.

Etwa dreihundert Yards entfernt, an einer der Piers, lag eine spanische Galeone. Der Dreimaster, gedrungener und wesentlich massiger gebaut als die „Isabella“, hob sich in prunkvollster Weise von den anderen Schiffen ab. Vorn und achtern war der Spanier mit reichlich Schnitzwerk verziert. Auch die Armierung war allem Anschein nach recht beachtlich. Über der Heckgalerie prangte in riesigen goldenen Lettern der Name des Schiffes: „Santissima Madre“.

„Heiligste Mutter“, übersetzte Ferris Tucker mit einem Seufzer, „das kann man wohl laut sagen.“

Damit sprach er allen Arwenacks aus der Seele. Das alte Mißtrauen meldete sich bei ihnen mit schrillen Alarmtönen. Zwar wurde die Ostsee wahrhaft nicht von den Spaniern beherrscht, die Dons hatten hier eher kleine Brötchen zu backen. Aber der Zwischenfall mit dem spanischen Kapitän Juan de Gravina in Wisby auf Gotland steckte den Männern unter dem Kommando von Hasard und Arne noch mächtig in den Knochen.

Dort auf Gotland hatte der Seewolf seinen Vetter kennengelernt – ausgerechnet in jenem Moment, als sie die Leiche des Kaufmanns Jens Johansen entdeckten. Johansen hatte mit Bernstein gehandelt, was er als sein gutes Recht betrachtete. Doch König Sigismund von Polen beanspruchte dieses Recht für sich allein, und er hatte seine Schergen überall. De Gravina war einer von ihnen gewesen, bis Hasard ihn des Mordes an Johansen überführt hatte.

Ähnlich hatte er sich mit dem dänischen Kaufmann Thorsten Tyndall in Hapsal verhalten. Auch dieser war wegen des Bernsteinhandels umgebracht worden. Dafür hatten Hasard und Arne den polnischen Generalkapitän Witold Woyda als Täter entlarvt, der jetzt in der Vorpiek der „Isabella“ als Gefangener eingesperrt war und den dänischen Behörden zur Verurteilung übergeben werden sollte.

So wurden sie allesamt von bösen Vorahnungen beschlichen, als sie die spanische Galeone erblickten – ausgerechnet hier, im Hafen von Kolberg.

Die Söhne des Seewolfs sonnten sich unterdessen in dem Gefühl, den Spanier im Hafengewirr entdeckt zu haben. Mit stolzem Lächeln verfolgten sie die Bemerkungen der Männer, die nun begannen, sich in düstere Ahnungen zu ergehen. Und noch mehr Stolz erfüllte die Jungen angesichts der Tatsache, daß sie ihren Vater und Ben Brighton immerhin veranlaßt hatten, zum Spektiv zu greifen.

Äußerlich ähnelten sich die beiden Jungen wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Und schon jetzt, in ihren jugendlichen Jahren, ließen sie erkennen, daß sie als erwachsene Männer einmal alle überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Vaters haben würden.

Ein heranhuschender grauer Schatten unterbrach die Männer in ihren Mutmaßungen. Plymmie, die Bordhündin, hatte ihren Freßplatz vor der Kombüse im Stich gelassen und eilte schwanzwedelnd auf die Zwillinge zu. Federnd richtete sie sich auf, legte ihre Vorderpfoten auf das Schanzkleid, und im selben Moment sträubten sich ihre Nackenhaare. Ein heiseres Knurren drang tief aus ihrer Kehle, und dieses Knurren ging sofort in ein rauhes, zorniges Bellen über.

„Ruhig, Plymmie, ruhig!“ mahnte Hasard junior, und gemeinsam mit seinem Bruder streichelte er die Wolfshündin, die sich jedoch nur dazu bewegen ließ, das Bellen einzustellen. Ihr Knurren hielt an.

„Als ob ich mir das nicht gedacht hätte“, brummte Ed Carberry kopfschüttelnd. „Wenn das Vieh nicht zu jeder Sache seinen Senf dazugeben kann, ist es nicht zufrieden.“

„Sir, du tust ihr wieder mal unrecht“, sagte Philip junior empört. „Plymmie bellt den Spanier an. Sie merkt eben, daß da drüben an Bord unsympathische Leute sind.“

„Womit sie den richtigen Riecher hat“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Hunde haben in der Beziehung einen sehr feinen Instinkt. Da hat es schon Ereignisse gegeben, die hinterher kein Mensch für möglich gehalten hat. Ich erinnere mich an eine bestimmte Geschichte in …“

„Schon gut, Donegal, schon gut“, fiel ihm Smoky eilig ins Wort, und die anderen nickten beifällig. Im Augenblick hatten sie keine Neigung, eine der endlosen Garne des alten O’Flynn anzuhören. Denn was die spanische Galeone dort drüben an der Pier betraf, war jeder mit seinen eigenen Überlegungen hinreichend beschäftigt.

Auch auf dem Achterdeck der „Santissima Madre“ schimmerten Spektive im trüben Tageslicht. Den Señores war die „Isabella“ offenbar ebenso aufgefallen wie den meisten anderen Leuten im Hafen von Kolberg.

Ben Brighton ließ den Kieker kopfschüttelnd sinken.

„Die sehen allesamt aus, als ob sie einer piekfeinen Gesellschaft entsprungen seien.“

„Wundert dich das?“ Hasard grinste, setzte das Spektiv aber nicht ab. „Tu bloß nicht so, als ob du die erste spanische Galeone deines Lebens siehst.“

„Hm.“ Auch Ben mußte grinsen. „Vielleicht liegt es daran, daß die Dons hier in der Ostsee so selten sind.“

„Ben, dies ist jetzt schon der zweite. Und das sind genau zwei zuviel.“

Der Seewolf ließ seinen Blick wandern. Die Optik des Spektivs lieferte ein klares Bild, so nah, als könnte er hinübergucken. Ben Brighton hatte mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Offiziere der „Santissima Madre“ waren herausgeputzt wie Gecken. Da blitzten Knöpfe, Schnallen und Paspelierungen, als veranstalteten sie gerade einen Wettbewerb um die schönste Uniform. Selbst das wäre vielleicht weniger aufgefallen, wenn es sich um eine allgemein geltende Linie auf der spanischen Galeone gehandelt hätte.

Aber zwischen dem Achterdeck und den übrigen Decks des Spaniers lag eine Grenze wie zwischen zwei Welten. Die übertriebene Eleganz der Offiziere war wie ein schriller Mißklang angesichts der erbärmlichen Kleidung des normalen Schiffsvolks. Es war die übliche Distanz zwischen Achterdeck und Vordeck. Bei den Spaniern galt das als normal. So normal, wie es für sie immer noch war, im Mittelmeerraum Galeeren mit Rudersklaven einzusetzen. Methoden, an die englische Seeleute nur mit Abscheu denken konnten.

Diese verschnörkelte „Santissima Madre“ mit ihren herausgeputzten Offizieren war wieder einmal ein Beispiel dafür, wie sehr bei den Spaniern der Unterschied zwischen Knechten und Herren gepflegt wurde.

Hasard wollte seinen Kieker bereits absetzen, als ihm einer der Spanier auf dem Achterdeck auffiel. Der Mann ließ eben sein Spektiv sinken, ein hagerer, älterer Geck mit verlebten Gesichtszügen. Deutlich waren die Ränder unter den Augen und die tiefen Furchen seiner Haut zu erkennen. Über dem faltigen dünnen Hals hob sich ein schwarzer Knebelbart ab. Dazu trug der Mann eine schwarze Lockenperücke.

Nachdenklich betrachtete der Seewolf dieses Gesicht, das ihm ganz und gar nicht gefallen wollte. Nach der besonders prunkvollen Uniform zu urteilen, konnte es sich um den Kapitän der „Santissima Madre“ handeln.

Abrupt drehte sich der Spanier um, als spürte er, daß er beobachtet wurde.

Hasard zuckte mit den Schultern. Irgendwie hatte er das Gefühl, diese verlebten Gesichtszüge zu kennen. Aber so angestrengt er auch nachdachte, es gelang ihm nicht, sie einzuordnen.

Lautere Stimmen waren jetzt vom Kai zu hören – Lachen und freudige Rufe in deutscher Sprache. Dies war der Heimathafen der von-Manteuffel-Crew, das zeigte sich jetzt. Hasard und Ben Brighton gingen zur anderen Seite und blickten auf den Kai hinunter.

Eine große Schar von winkenden Menschen hatte sich dort gebildet. Kein Zweifel, man hatte Arne von Manteuffel und seine Männer erkannt, was nicht selbstverständlich war. Denn die altvertraute „Wappen von Kolberg“ gab es nicht mehr. Jenes Schiff, das Arne und seine Männer jetzt ihr eigen nannten, war noch bis vor kurzem das Flaggschiff des polnischen Generalkapitäns Witold Woyda gewesen. Jetzt betrachteten sie es als ihr rechtmäßiges Eigentum. Denn Woyda und seine Schergen hatten die alte „Wappen von Kolberg“ versenkt.

Also konnte es sich nur so verhalten, daß dieser Liegeplatz am Kai den von Manteuffels vorbehalten war.

Hasards Vermutung bestätigte sich kurz darauf. Vor einem der Kontor- und Lagerhäuser bildete die Schar der lachenden und winkenden Menschen eine Gasse. Aus einem mehrstöckigen Giebelhaus, das aus schwerem Backstein gebaut und ganz oben mit einem Kranbalken versehen war, trat ein hochgewachsener Mann.

Der Mann hatte weißes Haar und ein scharfgeschnittenes Gesicht. Einen Moment stutzte er beim Anblick des Schiffes, das jetzt den Namen „Wappen von Kolberg“ trug. Dann jedoch eilte er freudestrahlend auf die Galeone zu.

Ein schmerzliches Gefühl beschlich doch den Seewolf, und es drängten sich Bilder aus der Vergangenheit in sein Bewußtsein. Bilder, die sich jetzt, in diesem Moment, nicht wegwischen ließen. Denn es war offenkundig: Die Ähnlichkeit dieses hochgewachsenen weißhaarigen Mannes mit seinem Vater war schon auf den ersten Blick überdeutlich. Bei dem Gebäude, das er soeben verlassen hatte, mußte es sich um das Handelshaus der von Manteuffels handeln.

Arne lief die Stelling hinunter zum Kai. Der weißhaarige Mann, der niemand anders als sein Vater war, umarmte ihn und lächelte dabei voller Freude. Die Menschen, die die Szene miterlebten, stimmten erneute Willkommensrufe an.

Ben Brighton stand schweigend neben seinem Kapitän. Er spürte, welche Empfindungen Hasard jetzt bewegten. Auch auf dem Hauptdeck waren die Männer ruhiger geworden und hatten sich fürs erste mit dem Anblick des Spaniers abgefunden.

Philip Hasard Killigrew empfand eine Wehmut, die sein Innerstes aufwühlte. Er selbst hatte seinen Vater nur ein einziges Mal in seinem Leben begrüßen können. Und zu jener Zeit war Godefroy von Manteuffel bereits ein Sterbender gewesen.

Es widerstrebte dem Seewolf, jetzt sein Schiff zu verlassen und sich zu den Männern zu begeben, die seine Verwandten waren. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, ließ sich nicht verscheuchen. Für sich selbst fand er den Vorwand, daß er Sohn und Vater in ihrer Begrüßung nicht stören wollte.

Dann jedoch sah er an Arnes Gesten, wie dieser berichtete. Die Wiedersehensfreude des Weißhaarigen erlosch jäh. Betroffenheit grub sich in sein Gesicht. Arne sprach weiter, und Sekunden darauf deutete er zur „Isabella“. Er wandte sich um, sah seinen Vetter und winkte.

Auch der Weißhaarige blickte jetzt herüber. Überdeutlich war die Überraschung in seinen Zügen zu erkennen. Das Staunen, das sich dazugesellte, wich sehr schnell der Freude.

Arne winkte abermals.

Hasard schalt sich einen Narren, daß er zögerte. Er gab sich einen Ruck und verständigte sich durch ein Handzeichen mit seinem Vetter. Dann wandte er sich seinem Ersten Offizier zu.

„Ben, übernimm das Kommando an Bord.“

Ben Brighton nickte, und damit war alles gesagt.

„Aye, aye, Sir.“

3.

Gemeinsam mit seinen beiden Söhnen enterte der Seewolf über die Stelling ab. Nils Larsen folgte ihnen, ohne daß Hasard ihn ausdrücklich aufforderte. Nils wußte, daß seine Dolmetscherdienste wieder gebraucht wurden. Und Hasard vergaß unterdessen die Standpauke, die er den Junioren wegen ihrer Bemerkung über den Spanier hatte halten wollen.

Denn dies war ein Moment, in dem nur noch das wirklich Wesentliche eine Rolle spielte.

Nie würde Hasard das Leuchten in den Augen des großen weißhaarigen Mannes vergessen, als dieser ihm und seinen Söhnen entgegensah. Und dann, nachdem Arne sie einander vorgestellt hatte, wurde es Gewißheit, was schon längst mehr als eine Vermutung gewesen war. Ja, der Weißhaarige war niemand anders als Hasso von Manteuffel, Arnes Vater und jüngerer Bruder Godefroy von Manteuffels.

„Mein Neffe“, sagte Hasso von Manteuffel freudig und erschüttert zugleich. Seine Stimme klang leise und vibrierend, und Tränen standen in seinen Augen, als er Hasard in die Arme schloß.

Dann wandte er sich den Zwillingen zu und begrüßte sie mit der gleichen spontanen Herzlichkeit. Er drückte sie an sich, und sie ließen es geschehen, ein wenig verlegen zwar, doch von ihrem Vater wußten sie, welche verwandtschaftlichen Bande zu Arne und seiner Familie bestanden.

Hasso von Manteuffel konnte nur immer wieder die Jungen und ihren Vater ansehen.

„Mein Gott“, sagte der große weißhaarige Mann tonlos, „es ist, als ob man um Ewigkeiten zurückversetzt wird. Plötzlich wird die eigene Kindheit und Jugendzeit wieder lebendig, weil – weil ich durch euch meinen Bruder Godefroy vor Augen habe, als wäre er noch hier …“ Seine Stimme erstickte, und er strich den Jungen schweigend über die Haare.

Es war das erste Mal für Nils Larsen, daß ihm das Übersetzen schwerfiel. Und Hasard empfand jene Art von Schmerz, über die er in seinen Gesprächen mit Arne philosophiert hatte. Einen endgültigen Abstand von den bedrückenden Erinnerungen würde es niemals geben. Augenblicken wie diesem konnte man nicht aus dem Weg gehen.

Arne war es, der das Beklemmende der Situation überwinden half. Dabei begünstigten ihn einige dicke Regentropfen, die auf das Steinpflaster des Kais klatschten. Die Menschenschar begann sich aufzulösen, die ersten liefen fluchtartig davon.

„Laßt uns ins Haus gehen“, sagte Arne, „da haben wir es trockener und gemütlicher.“

„Aber ja, natürlich!“ Hasso von Manteuffel blinzelte verwirrt, als fände er erst jetzt in die Wirklichkeit zurück. Er mußte sich zwingen, seine Blicke von den Zwillingen und ihrem Vater loszureißen. „Entschuldigt meine Gedankenlosigkeit. Bitte seid meine Gäste.“ Er sah Nils Larsen an. „Das gilt selbstverständlich auch für Sie, Herr Dolmetscher.“

Nils lächelte geschmeichelt angesichts der neuen Dienstbezeichnung, die ihm damit verpaßt worden war.

Die letzten Schritte zum Haus mußten sie laufen. Denn der Himmel über Kolberg öffnete jetzt seine Schleusen, und von einer Sekunde zur anderen rauschte der Regen bindfadenstark nieder. Schlagartig war der Kai wie leergefegt. Die Willkommensschar – Handelsleute, Lagerhalter, Schiffsausrüster und deren Mitarbeiter – hatte sich in ihre Behausungen zurückgezogen.

Die von Manteuffels und ihre Besucher stürzten in das Halbdunkel des Hausflurs und schüttelten sich die Regentropfen aus der Kleidung. Nils Larsen schloß die Tür und legte den Innenriegel vor, nachdem Arne auf seinen fragenden Blick genickt hatte.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte Hasso von Manteuffel lächelnd, „das Wetter ist wieder einmal nicht den Konditionen entsprechend geliefert worden. Aber immerhin – der April darf machen, was er will.“

„Wir haben ein ähnliches Sprichwort in England“, entgegnete Hasard und nickte.

Auf eine einladende Geste des großen weißhaarigen Mannes begaben sie sich in einen Wohnraum im Erdgeschoß des Hauses. In einem eisernen Ofen bullerte ein kleines Feuer, das den Raum mit behaglicher Wärme ausfüllte. Gegen die Fensterscheiben, zum Kai hin, trommelte der Regen, als fühle er sich ausgesperrt. Die Männer setzten sich in wuchtige Polstermöbel, und Hasso von Manteuffel bestand darauf, daß die Söhne des Seewolfs an seiner Seite Platz nahmen. Eine Bedienstete mit gestärkter weißer Schürze und einer blonden Haarkrone schaute herein. Der Hausherr bat sie, Tee zu bringen.

Arne entsprach dem Wunsch seines Vaters und berichtete noch einmal über die verhängnisvollen Einzelheiten, die zum Tod seiner Verlobten geführt hatten.

„Wenn Hasard und seine Männer nicht gewesen wären“, schloß Arne, „wären der Mörder und seine Helfershelfer allerdings entflohen. Nicht nur deswegen bin ich meinem Vetter – deinem Neffen, Vater – zu tiefstem Dank verpflichtet.“

Hasard winkte lächelnd ab.

„Arne übertreibt. Er ist genauso bedenkenlos auch für mich eingesprungen. Ich denke nur an unsere erste Begegnung in Wisby auf Gotland.“

Nach Hasso von Manteuffels fragendem Blick berichteten die beiden Vettern gemeinsam darüber, wie sie sich aus traurigem Anlaß im Kontorhaus des ermordeten Kaufmanns Jens Johansen kennengelernt hatten.

„Ich habe davon gehört“, sagte Hasso von Manteuffel mit sorgenzerfurchter Miene, „die Nachricht von Johansens und auch von Tyndalls Tod hat sich in den Häfen des Baltikums wie ein Lauffeuer verbreitet. Aber“, er sah Hasard einen Moment nachdenklich an, „sprechen wir lieber von den Dingen, die uns persönlich betreffen. Natürlich nur, wenn du dazu bereit bist, Hasard. Du weißt, was ich meine.“

Der Seewolf nickte, nachdem Nils Larsen in der gewohnt zügigen Art übersetzt hatte. Eine kleine Pause ergab sich, als die Hausangestellte den Tee servierte. Dann jedoch gab es für Hasard keinen Grund mehr, mit seinem Bericht zu zögern. Und es fiel ihm leichter, als er sah, wie der weißhaarige Mann, der sein Onkel war, seine Söhne in den Armen hielt. Und der Blick Hasso von Manteuffels klebte buchstäblich an den Lippen seines Neffen.

Hasard schilderte jene Jahre, in denen er begonnen hatte, zu begreifen. Jene Zeit, die er damit verbracht hatte, die Spuren seiner eigenen Vergangenheit zu verfolgen, bis er in Spanien erfahren hatte, welches unglückselige Schicksal seinen Eltern zugedacht war. Stück für Stück hatte er von dem Verhängnis erfahren, das dem spanischen Edelfräulein Graciela de Coria wegen ihrer Liebe zu Godefroy von Manteuffel vorbestimmt gewesen war.

Arnes Vater zog die Augenbrauen hoch. Interesse und Trauer in seinen Augen wichen einer hellwachen Gespanntheit. Hasard schrieb dies dem Umstand zu, daß es sich letzten Endes um das Schicksal von Hasso von Manteuffels Bruder handelte. Was sich hier, an diesem regnerischen Apriltag in Kolberg, zusammenbraute, konnte der Seewolf nicht im entferntesten ahnen.

So berichtete er weiter über seine Nachforschungen, die im Jahre 1580 zu schicksalsschweren Erkenntnissen geführt hatten. Hatte er zunächst vom Tod seiner Mutter erfahren, die von ihrer Familie wegen der Beziehung zu dem unerwünschten Deutschen tyrannisiert worden war, so war ein Hoffnungsschimmer aufgeflackert, als sich herausstellte, daß sein Vater noch am Leben sein mußte. Diese Hoffnung war jäh erloschen, als Hasard und seine gesamte damalige Crew miterleben mußten, wie Godefroy von Manteuffel auf gemeinste Weise ermordet wurde.

Hasard schilderte auch das tragische Geschehen um seine junge Frau Gwendolyn, die beim Übersetzen von England nach Calais im Sturm umgekommen war. Und er erinnerte daran, wie er seine Söhne bei einer Gauklertruppe in Nordafrika nach langen Wirrungen gefunden hatte.

„Eigentlich sollten wir mal wieder ein paar von den alten Kunststücken üben“, sagte Philip junior.

„Dann hätten wir in jedem Hafen eine Menge Zuschauer“, fügte Hasard junior begeistert hinzu.

Hasso von Manteuffel strich ihnen abermals über das Haar, nachdem Nils Larsen übersetzt hatte.

„Darauf solltet ihr lieber verzichten“, sagte der weißhaarige Mann mit gütigem Lächeln, „vergeßt nicht, daß euer Vater im Auftrag der englischen Krone segelt.“ Mit großen Augen blickten die Jungen beinahe andächtig zu ihm auf.

Hasso von Manteuffel wandte sich wieder dem Seewolf zu. „Nachdem ich dies alles von dir gehört habe …“ Er hielt inne und schüttelte fassungslos den Kopf.

Hasard beugte sich verdutzt vor. Doch Arne kam ihm zuvor.

„Was ist, Vater?“ fragte er stirnrunzelnd. „Was ist passiert?“

„Ein unglaublicher Zufall“, sagte Hasso von Manteuffel mühsam, „ich scheue mich fast, es auszusprechen. Aber es muß wohl sein. Man kann vor den Dingen nicht weglaufen.“

Eine jähe Ahnung stieg in Hasard auf. Seine Gedanken waren plötzlich bei der spanischen Galeone, die im Hafen von Kolberg lag. Damit mußte es zusammenhängen, was Arnes Vater so schwer über die Lippen dringen wollte.

„Ich will es wissen“, sagte der Seewolf rauh, „es hat mit unserer Familie zu tun, nicht wahr?“

„So ist es“, entgegnete Hasso von Manteuffel. Er räusperte sich, bevor er weitersprach. „Es war vor zwei Tagen. Ich erhielt unangemeldeten Besuch – unangemeldeten und überraschenden Besuch, kann man wohl sagen. Ein Spanier namens Rodriguez de Coria.“

„De Coria?“ rief Hasard ungläubig.

„Ja.“ Hasso von Manteuffel nickte und sah ihn mit ernster Miene an. „Die Zusammenhänge, die du vermutest, gibt es. Doch was jetzt folgt, kannst du nicht ahnen. Dieser de Coria stellte sich als Gesandter des spanischen Königs vor. Er sagte, er besuche die deutschen Hansestädte, um Handelsbeziehungen aufzunehmen. Bis zu diesem Punkt ahnte ich noch nichts Böses. Aber dann traf es mich wie ein Schlag. De Coria erklärte ziemlich geschwollen, wie peinlich ihm das Ganze sei, aber er müsse es sich von der Seele reden. Er sei nämlich im Namen und im Auftrag meines Bruders Godefroy hier in Kolberg – meines Bruders, der gleichzeitig sein Schwager, sei, denn er habe seine Schwester, Graciela de Coria, geheiratet.“

Hasard konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Er fand beim besten Willen keine Worte.

„Ich fiel natürlich aus allen Wolken“, fuhr Hasso von Manteuffel fort, „und ich sagte diesem Spanier auch, daß ich ihm kaum glauben könne, weil mein Bruder schon seit Jahrzehnten verschollen sei. Er zog daraufhin ein blasiertes Gesicht und erklärte, daß ich schon gezwungen sein würde, ihm zu glauben. Und dann rückte er damit heraus: Sein Schwager Godefroy von Manteuffel habe höchst leichtsinnigerweise in Spanien hohe Spielschulden gemacht, insgesamt die stattliche Summe von zehntausend Goldtalern.“

„Eine unglaubliche Geschichte!“ rief Arne.

„Weiter“, bat Hasard atemlos, „ich glaube, das dicke Ende kommt erst noch.“

„Erraten“, sagte Hasso von Manteuffel. „Ich war mächtig aufgebracht und fuhr dazwischen, daß mein Bruder kein Spieler sei und sich niemals mit einer solchen Summe verschulden würde. Aber dieser de Coria grinste nur zynisch und behauptete, er sei selbstverständlich sofort eingesprungen und habe die zehntausend Goldtaler bezahlt, um die Familienehre zu retten. Nun hört euch das Folgende an: Godefroy habe seine Spielleidenschaft zutiefst bereut und ihm, Rodriguez de Coria, seinen gesamten Kolberger Besitz überschrieben, einschließlich des Gutes Alt-Quetzin.“

„Völlig ausgeschlossen“, sagte Arne im Brustton der Überzeugung, „ein von Manteuffel würde so etwas niemals tun.“

Sein Vater hob nur kurz die Hand und sprach dann weiter. „Mein ehrenwerter Besuch gab sich ganz von oben herab und ließ gnädiglichst vernehmen, daß er auf eine Überschreibung des Besitzes verzichten wolle, wenn ihm unsere Familie die verauslagten zehntausend Goldtaler zurückerstatte. Dann glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen, als de Coria ein Schriftstück vorlegte, in Spanisch und Deutsch verfaßt und – unterschrieben von meinem Bruder! Ich sehe es noch deutlich vor mir. Die Übereignung des Besitzes wird dokumentiert, gegeben zu Madrid am 2. November anno 1592 und außerdem noch beglaubigt von einem königlichen Notar.“

Schweratmend hielt Hasso von Manteuffel inne. Beklemmende Stille lastete plötzlich in dem Wohnraum, nur unterbrochen vom Bullern des Ofenfeuers.

Hasard war starr. Er hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, um seinem Zorn Luft zu verschaffen. Aber derjenige, dem dieser Zorn galt, war weit entfernt, in der Sicherheit einer prunkvoll verschnörkelten Galeone im Hafen von Kolberg.

Und die Worte des Seewolfs tropften in die Stille.

„Was dieser de Coria behauptet, ist erstunken und erlogen. Das Schriftstück ist eine Fälschung.“

„Mit dem Bestätigungsvermerk eines Notars?“ wandte Arne behutsam ein.

Hasard blies die Luft durch die Nase.

„Einer Familie de Coria in Spanien ist es möglich, alles und jeden zu kaufen. Es war der 4. Oktober 1580, als mein Vater hinterrücks erstochen wurde, und zwar von Salvador de Coria, der damals Generalleutnant und vom spanischen König Beauftragter für das Festungswesen war. Wie gesagt, ich habe Zeugen dafür. Meine gesamte Crew war dabei, als wir meinen Vater von einer Galeere befreit hatten und den Mord nicht verhindern konnten.“

„Dann ist es eindeutig“, sagte Hasso von Manteuffel, „Godefroy kann nicht zwölf Jahre nach seinem Tod in Madrid eine Urkunde unterzeichnet haben. Dieser Rodriguez de Coria hat auch von Godefroys Tod kein Wort erwähnt. Wohlweislich, wie mir jetzt einleuchtet.“

„Ich entsinne mich“, fuhr Hasard fort, „daß meine Mutter drei Brüder hatte. Einer von ihnen war Salvador de Coria, der Mörder meines Vaters.“

„Rodriguez de Coria ist also einer der beiden anderen Brüder“, folgerte Arne, „unglaublich, daß er es wagt, hier in Kolberg aufzutauchen.“

Der Seewolf nickte grimmig.

„Das ist der besondere Familiensinn der de Corias. In betrügerischer Absicht und mit infamen Behauptungen will Rodriguez zehntausend Goldtaler einsacken. Ich werde ihn daran erinnern, wie er und seine beiden sauberen Brüder die eigene Schwester in den Tod getrieben haben, als sie ihr das Kind abnahmen, um es nach Deutschland abzuschieben.“

„Was dazu führte, daß du bei den Killigrews in Cornwall aufgewachsen bist“, sagte Arne, um es für seinen Vater noch einmal zu verdeutlichen.

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9783954397754
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