Skizzen aus dem Londoner Alltag

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Fünftes Kapitel
Seven Dials.F2

Wir sind immer der Meinung gewesen, wenn Tom King und der Franzose Seven Dials nicht unsterblich gemacht hätte, so würde sich Seven Dials selbst unsterblich gemacht haben. Seven Dials! Die Gegend des Gesangs und der Dichtkunst – Erstlingsfrüchte und Schwanenlieder: geheiligt durch die Namen Catnac und Pitts – Namen, welche unmittelbar mit Obsthändlern und Drehorgeln zusammenhängen, wenn die Pfenningmagazine die Pfenningliederbögen verdrängt haben werden und die Todesstrafe nicht mehr sein wird!

Werft einen Blick auf die Gestaltung des Platzes. Der gordische Knoten war gewiß einzig in seiner Art: deßgleichen war es das Labyrinth von Hampton-Court: deßgleichen ist es das Labyrinth von Beulah-Spa: deßgleichen waren es die Zipfel der steifen weißen Halsbinden, bei denen die Schwierigkeit, sie zu knüpfen, nur mit der offenbaren Unmöglichkeit, sie wieder aufzulösen, verglichen werden konnte. Aber welche Verwicklungen können denen von Seven Dials an die Seite gesetzt werden? Wo gibt es noch ein solches Labyrinth von Straßen, Höfen, Gassen und Winkeln? Wo noch eine solche reine Mischung von Engländern und Irländern, als in diesem verwickelten Theile von London? Wir behaupten es frei, daß wir die Wahrhaftigkeit der Legende bezweifeln, auf die wir die Aufmerksamkeit gelenkt haben: wir können uns einen Mann denken, der vorschnell genug ist, in einem Hause mit Miethsleuten auf's Gerathewohl nach einem Herrn Thompson zu fragen, während er an Alles denkt, nur nicht an die Gewißheit, in einem Hause von mäßigem Umfang wenigstens zwei oder drei Thompson's zu finden; aber einen Franzosen – einen Franzosen in Seven Dials! Pah! Es war ein Irländer. Tom King's Erziehung war in seiner Kindheit vernachlässigt worden, und da er nicht die Hälfte von dem verstand, was der Mann sagte, so hielt er es für ausgemacht, der Mann spreche französisch.

Der Fremde, welcher sich zum erstenmale in Seven Dials befindet und gleich Belzoni am Eingange von sieben dunkeln Durchgängen steht, ohne zu wissen, welchen er zu wählen habe, sieht genug vor sich, um seine Neugierde und Aufmerksamkeit auf geraume Zeit wach zu halten. Aus dem unregelmäßigen Viereck, in das er getreten ist, laufen die Straßen und Höfe strahlenförmig nach allen Richtungen, bis sie sich in dem ungesunden Dunste verlieren, der auf den Häusern liegt und die dunkle Perspective mit schwankenden Umrissen begränzt; und in jeder Ecke stehen Individuen, deren Persönlichkeit und Wohnung jeden Menschen, außer einen eingefleischten Londoner, mit Entsetzen erfüllen würde, gruppenweise versammelt, als wären sie hieher gekommen, um einige Züge jener frischen Luft zu erschnappen, die ihren Weg so weit hin gefunden hat, aber bereits zu erschöpft ist, um sich noch in die schmalen Nebengäßchen hineinzuzwängen. Auf der einen Seite hat sich eine kleine Truppe um ein paar Damen versammelt, welche im Lauf des Morgens verschiedene »Budel« Wachholder und Bittern in sich gesogen, endlich lange über einen gewissen Punkt der Hausordnung uneins geworden und eben im Begriff sind, den Streit durch Berufung auf's Faustrecht satisfactorisch beizulegen, wobei sich andere Damen, die in demselben Hause und in anstoßenden Gemächern wohnen, sehr interessiren, indem sie sämmtlich die eine oder die andere Seite begünstigen.

»Warum steckst du ihr nicht eine, Sara?« ruft eine halbgekleidete Matrone aufmunternd. »Wenn mein Mann sie in der letzten Nacht mit einer Kanne bewirthet hätte, ohne mein Wissen, ich würde ihr die sauberen paar Augen aus dem Kopfe reißen – der Hexe!«

»Was ist los, Madame?« frägt ein anderes altes Weib, welches so eben auf den Kampfplatz gestürmt ist.

»Was los ist?« erwiederte die erste Sprecherin, ohne sich von der Kämpferin, welche der Stein des Anstoßes gewesen, abzuwenden. »Hier ist die arme, liebe Frau Sulliwin, welche fünf lebendige Kinder hat und daher eines Nachmittags nicht in's Taglohn kann; aber was für Vetteln müssen das sein, die hergehen und ihr ihren Mann abspannen, nachdem sie zwölf Jahre verheirathet ist – nächsten Ostermontag jährt sich's, ich sah das Certificat erst letzten Dienstag, als ich eine Schale Thee mit ihr trank. Ich sage so unter Anderem, ›Frau Sulliwin‹ sage ich – –«

»Was wollen Sie mit den Vetteln?« unterbricht sie eine Schildträgerin der andern Partie, welche eine starke Neigung an den Tag gelegt hat, auf eigene Rechnung einen Nebenkampf zu eröffnen.

»Holla,« ruft ein Laufbube episodisch, »schlag' ihr den Schlüssel in den Kopf, Marie!«

»Was wollen Sie mit den ›Vetteln‹?« wiederholte die Schildträgerin.

»Nichts,« erwiederte die Gegnerin mit Nachdruck. »Nichts; gehen Sie heim, und wenn Sie wieder nüchtern sind, so stopfen Sie Ihre Strümpfe.«

Diese gewissermaßen persönliche Anspielung, nicht nur auf die Neigung der Dame zur Unmäßigkeit, sondern auch auf ihre Garderobe, reizt ihren Zorn im höchsten Grade, und sie macht sich nach dem drängenden Aufruf der Umstehenden »los!« durch große Tätigkeit Luft. Das Handgemenge wird allgemein und schließt, um die Phraseologie der Comödienzettel in Anwendung zu bringen, mit »Auftreten der Polizei; das Innere des Amthauses und interessante Entwickelung

Außer den zahlreichen Gruppen, welche um die Schnappsbuden herumstehen und sich mitten auf der Straße streiten, hat jeder Pfosten auf dem offenen Raume seinen Eckensteher, welcher sich stundenlang regungslos daran lehnt. Es ist seltsam genug, daß eine gewisse Klasse von Menschen in London keinen andern Genuß zu haben scheint, als sich an einen Pfosten zu lehnen. Wir sahen noch nie einen gewöhnlichen Maurergesellen eine andere Erholung genießen, wir müßten denn das Balgen ausnehmen. Geht man an einem Wochentagabend durch St. Giles's, so stehen sie da in ihren mit Ziegelmehl und Tünche besprenkelten Barchentkleidern und lehnen sich an einen Pfosten. Geht man an einem Sonntagmorgen durch Seven Dials, so stehen sie da, in ihren Hosen von grobem Tuch oder leichtem Corduroy, ihren Blücherstiefeln, blauen Röcken und großen gelben Westen, und lehnen sich an einen Pfosten. Es ist etwas Seltsames, sich einen Mann in seinen besten Kleidern Tag für Tag an einen Pfosten gelehnt denken zu müssen.

Der eigenthümliche Charakter dieser Straßen und die auffallende Aehnlichkeit, welche die eine mit der andern hat, ist keineswegs dazu geeignet, das Erstaunen zu vermindern, in welches der Neuling gesetzt wird, der Seven Dials durchwandert. Er kommt durch schmutzige Straßen, an regellos zerstreuten Häusern und dann und wann an einem unerwarteten Hofe vorüber, der aus Gebäuden besteht, die eben so sehr allen Verhältnissen und Schönheitsregeln spotten, wie die halbnackten Kinder, die sich in den Gossen wälzen. Hie und da trifft er einen finstern Kramladen mit einer zerbrochenen Schelle hinter der Thüre, um den Eintritt eines Kunden anzukündigen oder die Anwesenheit eines jungen Gentleman zu verrathen, in welchem sich schon von Kindheit an eine Vorliebe für Ladenkassen entwickelt hat; dann wieder andere Häuschen, die sich, um nicht umzufallen, an ein schönes, hohes Gebäude lehnen, welches die Stelle eines niederen, rauchfarbenen Wirthshauses usurpirt; lange Reihen von zerbrochenen und geflickten Fenstern, hinter welchen Pflanzen, die zur Zeit der Erbauung von Seven Dials geblüht haben mögen, in Töpfen paradiren, die eben so schmutzig sind, als Seven Dials selbst; und Läden, in denen Lumpen, Knochen, alt Eisen und Kochhäfen verkauft werden, und die an Reinlichkeit mit den Vögel- und Kaninchenbuden wetteifern, die man für eben so viele Käfige halten könnte, wobei sich jedoch der Gedanke von selbst aufdrängen müßte, daß kein Vogel, dem es gestattet würde, sie zu verlassen, je wieder freiwillig zurückkehren würde. Trödlerbuden, welche aus der wohlwollenden Absicht errichtet worden zu sein scheinen, verlassenen Wanzen eine Zufluchtsstätte zu gewähren, untermengt mit Ankündigungen von Tagsschulen, Pfenningtheatern, Petitionschreibern, Mangen und Tanzmusiken, vollenden das »Stillleben« des Ortes; und schmutzige Krämer, schlumpige Weiber, schmierige Kinder, fliegende Federbälle, knarrende Thürklopfer, rauchende Pfeifen, faules Obst, stinkende Austern, scelettartige Katzen, ausgehungerte Hunde und abgemagertes Geflügel bilden die heiteren Nebenpartien des Gemäldes.

Wenn das Aeußere der Häuser oder ein Blick auf ihre Bewohner nur wenig Anziehendes darbietet, so ist eine nähere Bekanntschaft mit diesen oder jenen nicht sehr darauf berechnet, den ersten Eindruck zu schwächen. Jedes Zimmer hat einen besonderen Miethsmann, und jeder Miethsmann ist durch dieselbe geheimnißvolle Fügung, welche einem Landgeistlichen den Spruch »seid fruchtbar und mehret euch« so angelegentlich an's Herz legt, gewöhnlich das Haupt einer zahlreichen Familie.

Der Mann im Laden ist vielleicht für Kost und Brennmaterial zu achtzehn Pencen täglich oder darüber abonnirt und wohnt nebst seiner Familie im Laden und im kleinen Hinterstübchen derselben. Dann ist hier ein irischer Taglöhner mit seiner Familie in der Hinterküche, und ein Hausirer, Kleiderausklopfer u. s. w., mit seiner Familie in der Vorderküche. Im Vorderzimmer des ersten Stocks wohnt ein weiterer Mann mit Frau und Familie, und im Hinterstübchen des ersten Stocks »ein junges Frauenzimmer, welches im Sticken und Kleidermachen Unterricht ertheilt«; sie spricht sehr viel von ihrem Freund und kann »durchaus keine Gemeinheit leiden«. Der zweite Stock und der übrige Theil der Miethsleute ist nur eine zweite Auflage des Erdgeschoßes, mit Ausnahme eines schäbig-gentilen Mannes im Hinterstübchen, der alle Tage ein halbes Nösel Kaffee aus dem anstoßenden Kaffeeladen holen läßt, wo man eine kleine Vorderhöhle mit dem prahlenden Namen Kaffeezimmer belegt, in welchen ob der Feuerstätte eine Inschrift zu lesen ist, die höflich bittet, »man möchte sogleich bezahlen, um allen Irrungen vorzubeugen.« Der schäbig-gentile Mann ist ein Gegenstand des Geheimnisses; aber da er in Abgeschiedenheit lebt, und man ihn außer seinem halben Nösel Kaffee, Pennylaiben und halben Schoppen Tinte nie etwas Anderes kaufen sah, als gelegentlich eine Feder, so ziehen seine Zimmernachbarn den Schluß daraus, es müsse ein Schriftsteller sein, und in den Dials sind Gerüchte im Umlauf, er schreibe Gedichte für Herrn Warren.

 

Wer an einem warmen Sommerabend durch die Dials wanderte und die verschiedenen im Hause wohnenden Weiber auf den Treppen miteinander plaudern sah, mußte beinahe auf den Gedanken kommen, sie lebten alle in der besten Eintracht, und ein partriarchalischeres Völkchen lasse sich gar nicht denken, als die Eingeborenen von Seven Dials. Aber ach! der Mann im Laden mißhandelt seine Familie; der Kleiderausklopfer dehnt seine gewerbliche Thätigkeit auch über sein Weib aus, das vordere Beletagezimmer hat eine tödtliche Fehde mit dem Vorderzimmer des zweiten Stocks, weil das Vorderzimmer des zweiten Stocks beharrlich über seinem (des Beletagezimmers) Kopfe tanzt, wenn sich die Bewohner desselben zur Ruhe gelegt haben. Das Hinterzimmer des zweiten Stocks kann die Kinder in der vorderen Küche nicht leiden. Der Irländer kommt alle andere Tage betrunken nach Haus und bindet mit Jedermann an; und die Bewohnerin des Beletagezimmers fängt bei jeder Kleinigkeit ein Geschrei an. Feindseligkeiten entspinnen sich zwischen Stockwerk und Stockwerk; sogar der Keller mischt sich darein. Frau A. bläut das Kind der Frau B., weil es »Gesichter schneidet.« Frau B. schüttet sofort Wasser über das Kind der Frau A., weil es »Schimpfnamen austheilt.« Die Männer kommen mit in's Spiel – der Streit wird allgemein – eine Schlägerei ist die Folge und ein Polizeidiener das Resultat.

1 Die sieben Sonnenuhren. Ein Platz, in dessen Mittelpunkt eine Säule mit sieben Sonnenuhren steht, deren jede nach einer der hier sich concentrirenden Straßen gerichtet ist.

Sechstes Kapitel
Gedanken in der Monmouthstraße

Wir haben von jeher eine besondere Anhänglichkeit an die Monmouthstraße, als dem einzig reellen Emporium für alte Kleider gehabt. Die Monmouthstraße ist ehrwürdig wegen ihres Alterthums und achtungswürdig wegen ihrer Gemeinnützigkeit. Die Holywellstraße ist verächtlich; wir verabscheuen die rothköpfigen und rothbärtigen Juden, welche die Vorübergehenden mit Gewalt in ihre schmutzigen Häuser hineinzerren und ihm einen Anzug aufdringen, mag er ihn nun wollen oder nicht.

Die Bewohner der Monmouthstraße bilden ein eigenes Völkchen; es sind friedliche, zurückgezogene Leute, welche sich die meiste Zeit über in tiefe Keller oder kleine Hinterstübchen einmauern und nur selten an's Licht der Welt treten, außer in der Dämmerung und Kühle des Abends, wo sie in Lehnstühlen vor ihren Häusern sitzen, ihre Pfeife rauchen oder die Luftsprünge ihrer jubelnden Kinder überwachen, welche sich in den Gossen balgen, eine glückliche Truppe junger Straßenfeger. Auf ihrem Gesichte drückt sich Nachdenken und Achtlosigkeit auf ihr Aeußeres aus, sichere Zeichen ihrer Liebe zum Handel; und ihre Wohnungen unterscheiden sich durch Vernachlässigung des äußeren Gepränges und der persönlichen Bequemlichkeit, eine Gewohnheit, die bei Leuten so häufig vorkommt, welche beständig über tiefen Speculationen brüten und mit Geschäften überhäuft sind, welche nicht viel Bewegung erfordern.

Wir haben auf das Alterthum unserer Lieblingsstraße hingedeutet. »Ein Tressenrock aus der Monmouthstraße« sagte man schon vor einem Jahrhundert; und immer noch ist die Monmouthstraße dieselbe. Lotsenüberröcke mit hölzernen Knöpfen haben die Stelle der gewichtigen Tressenröcke mit voller Einfassung eingenommen; gestickte Westen mit großen Knöpfen sind den doppelten Brusttüchern mit Rollkrägen gewichen; und Dreispitze von seltsamem Aussehen haben den niederen, breitkrempigen Kutscherhüten Platz gemacht; aber es ist die Zeit, welche diese Veränderung hervorgebracht hat, nicht die Monmouthstraße. Bei jeder Umwandlung, bei jedem Wechsel ist die Monmouthstraße stets die Begräbnißstätte der Moden gewesen, und dem ganzen gegenwärtigen Anscheine nach wird sie es bleiben, bis es keine Moden mehr zu begraben gibt.

Wir wandeln gerne zwischen diesen weiten Gräbern der erlauchten Todten und geben uns den Gedanken hin, die sie in unserem Geiste erwecken. Wir messen bald einen hingeschiedenen Rock, bald ein todtes Paar Hosen, bald die irdischen Ueberreste einer Staatsweste einem Wesen an, das wir selbst heraufbeschwören, und suchen aus der Gestalt und Façon des Gewandes auf seinen früheren Eigenthümer zu schließen und denselben unserem inneren Auge vorzuführen. In solche Gedanken vertieften wir uns so lange, bis ganze Reihen Röcke von ihren Nägeln herabsprangen und sich aus eigenem Antrieb um den Leib eingebildeter Träger schloßen; Linien von Hosen hüpften herunter, um sich ihnen anzureihen; Westen zerprangen beinahe vor Begierde, sich umzuhängen, und ein halber Morgen Schuhe fand plötzlich Füße, denen sie sich anpaßten, und humpelten mit ihrem Gepolter die Straße hinab, das uns beinahe aus unserer süßen Träumerei geweckt und mit einem wilden Starrblicke langsam fortgedrängt hätte, worüber das gute Völkchen in der Monmouthstraße höchlich erstaunt und der Polizeidiener an der gegenüber liegenden Straßenecke nicht wenig argwöhnisch geworden wäre.

Mit solchen Gedanken beschäftigten wir uns eines Tages, für ein Paar umgestülpte Halbstiefel aus der Vorrathskammer unserer Einbildungskraft eine Person hervorholend, der sie, redlich gestanden, um die Hälfte zu klein waren, als uns einige vor einem Ladenfenster ausgehängte Anzüge in die Augen fielen. Es war uns auf der Stelle klar, daß sie alle einem und demselben Individuum angehört, in verschiedenen Lebensperioden von ihm getragen worden und nun durch eine jener seltsamen Verknüpfungen der Umstände, die uns so oft vorkommen, in einem und demselben Laden miteinander zum Verkauf ausgestellt waren. Die Idee schien uns phantastischer Natur zu sein, und wir betrachteten die Kleider wieder mit dem festen Entschlusse, uns nicht so leicht hinreißen zu lassen. Aber nein; wir hatten Recht. Je länger wir sie betrachteten, desto mehr wurden wir von der Wahrheit unserer ersten Vermuthung überzeugt. Des Mannes ganzes Leben war so leserlich auf diesen Kleidern geschrieben, als hätten wir seine Selbstbiographie auf Pergament gedruckt vor uns.

Das erste war ein geflickter und stark beschmutzter Skeletanzug; eines von jenen engen, blauen Tuchgehäusen, in welche die Jungen gesperrt zu werden pflegten, ehe Gürtel und Kinderröcke auf- und alte Gebräuche abkamen – eine sinnreiche Erfindung, die volle Symmetrie einer Knabengestalt hervorzuheben, indem man ihn in eine enganschließende, auf beiden Seiten der Brust mit einer Reihe Knöpfe dekorirte Jacke steckt, über welcher die Hosen zugeknöpft werden, daß es den Anschein gewinnt, die Beine seien gerade unter den Achselhöhlen eingefügt. Dieß war der Anzug des Knaben: – er hat nämlich einem Knaben aus der Stadt gehört, das konnten wir sehen; die Beinkleider und die Aermel hatten eine Kürze und die Kniee eine Fülle, welche der aufwachsenden Jugend der Londoner Straßen eigenthümlich ist. Es war offenbar ein kleiner Privatschüler. Hätte er eine öffentliche Knabenschule besucht, so würde man nicht geduldet haben, daß er so viel auf der Hausflur spielte und seine Kniee so abrutschte. Auch hatte er eine nachsichtige Mutter und keinen Mangel an Halbpencestücken, wie die vielen, von einer klebrigen Substanz herrührenden Schmutzflecken im Umkreis der Taschen und unter dem Kinn, die sogar die Geschicklichkeit des Verkäufers nicht herauszubringen vermochte, zur Genüge bewiesen. Seine Eltern waren wohlhabend, aber nicht mit Reichthum überladen, sonst hätten sie ihn den Anzug nicht so lange tragen lassen, bis er in jene Corduroys mit der runden Jacke überging, worin er eine öffentliche Knabenschule besuchte, in der er schreiben lernte und zwar mit einer Tinte von nicht sehr übertriebener Schwärze, wenn man die Stelle, wo er seine Feder abzuwischen pflegte, für einen Beweis gelten lassen mag.

Ein schwarzer Anzug und die Jacke wichen einem Diminutivrock. Sein Vater ist gestorben, und die Mutter hat den Knaben als Laufburschen in eine Schreibstube gethan. Ein lange getragener Anzug; abgeschabt und fadenscheinig, bevor er abgelegt wurde, aber reinlich und fleckenlos bis an's Ende. Armes Weib! Wir können uns ihre verstellte Freude über das spärliche Mahl und die Verkleinerung ihrer eigenen Portion zu Gunsten des hungrigen Knaben vorstellen. Ihre beständige Sorge für seine Wohlfahrt, ihr Stolz auf sein Heranwachsen, zuweilen mit dem quälenden Gedanken vermischt, wenn er ein Mann sein würde, könnte seine alte Liebe erkalten, seine alte Zärtlichkeit abnehmen und seine alten Versprechungen vergessen werden – der stechende Schmerz, den ihr schon jetzt ein liebloses Wort oder ein kalter Blick verursachen würde – das Alles drang sich unserem Geiste so lebhaft auf, als hätten wir den ganzen Auftritt vor Augen.

Diese Dinge ereignen sich zu jeder Stunde und wir Alle wissen es; und doch fühlten wir so viel Kummer, als wir die Veränderung, die jetzt Platz zu greifen begann, sahen, oder zu sehen uns einbildeten – was auf Eins hinausläuft – als hätten wir eben erst die bloße Möglichkeit begriffen, daß so etwas zum ersten Male vorkommen könnte. Der folgende Anzug – schmuck, aber nachlässig, anscheinend flott, aber nicht halb so anständig, als sein fadenscheiniger Vorgänger, und traurig über das müßige Herumlungern und die schlechte Gesellschaft – erzählte uns, wie wir uns vorstellten, daß die Hoffnungen der Wittwe eilends von dannen flohen. Wir konnten uns vorstellen – doch was sage ich vorstellen? Wir konnten es sehen; wir haben es hundertmal gesehen – wie dieser Rock in Gesellschaft von drei oder vier anderen Röcken von demselben Schnitt irgend einen Tempel der nächtlichen Sünde besucht.

Aus demselben Laden statteten wir im Augenblicke noch ein Halbdutzend Jungen von fünfzehn bis zwanzig Jahren aus, und beobachteten sie, wie sie, die Cigarre im Mund und die Hände in den Taschen, die Straße hinabschlenderten und in einer Ecke herumlungerten, und sich mit schamlosen Scherzen und wiederholten Flüchen unterhielten. Erst als sie, ihre Hüte auf die Seite gedrückt, in das Wirthshaus gepoltert waren, verloren wir sie aus dem Gesicht und traten dann in ihr verlassenes Vaterhaus, wo die Mutter noch spät in der Nacht in der Einsamkeit trauerte; wir sahen, wie sie in fiebrischer Angst das Zimmer auf und ab lief, alle Augenblicke die Thüre öffnete, sehnsüchtig auf die finstere und menschenleere Straße hinaussah und wieder zurückkehrte, um wieder und wieder getäuscht zu werden. Wir sahen den Blick der Geduld, womit sie die fühllose Drohung, ja den Schlag des Betrunkenen ertrug, und wir hörten das angsterpreßte Schluchzen unter den Thränen, die aus der Tiefe ihrer Brust empordrangen, als sie in ihrem verlassenen und elenden Gemach auf die Kniee sank.

Ein langer Zeitraum ist verflossen und eine größere Veränderung hat Statt gefunden, als er den Anzug ablegte, der dort oben hing. Es war der Anzug eines starken breitschulterigen Mannes; und wir sahen im Nu, wie jeder bei dem ersten Blick auf den breitschößigen grünen Frack mit den großen Metallknöpfen erkennen mußte, daß sein Träger selten ohne einen Hund hinter sich und einen müßigen Raufbold, das wahre Ebenbild von ihm selbst an der Seite ausging. Die Laster des Knaben sind mit dem Manne groß geworden und wir stellten uns seine dermalige Wohnung vor – wenn ein solcher Ort diesen Namen verdient.

Wir sahen das nackte, erbärmliche Zimmer, von allem Geräthe entblößt, mit seiner Familie angefüllt, Weib und Kind bleich, hungrig und abgemagert; der Mann, ihre Wehklagen verfluchend, nach der Bierstube taumelnd, von der er eben zurückgekehrt ist, gefolgt von seinem Weib und einem siechen Kinde, das nach Brod schreit; und hörten den Zank auf der Straße und die überlauten Vorwürfe, die sein fühlloses Benehmen hervorruft. Und dann führte uns die Einbildungskraft nach einem Arbeitshaus in der Hauptstadt, mitten in einem Labyrinthe von Straßen und Gassen, die mit schädlichen Dünsten angefüllt sind. Lärmendes Geschrei dringt zu unseren Ohren, während ein altes, schwaches Weib, um Gnade für ihren Sohn flehend, in einem engen, finsteren Gemache mit dem Tode ringt, ohne ein Kind, ihre Hand zu drücken und ohne ein frisches Lüftchen, ihre Stirne zu kühlen. Ein Fremder drückte die Augen zu, welche in einem kalten, gläsernen Blick erstarben, und fremde Ohren empfingen die Worte, die über die weißen, halbgeschlossenen Lippen zitterten.

 

Eine grobe und abgeschnittene Jacke, mit einem abgetragenen baumwollenen Halstuch und andern Kleidungsstücken der gemeinsten Art vollendeten die Geschichte. Ein Gefängniß und das Urtheil – Verbannung oder der Galgen. Was würde jetzt der Mann gegeben haben, um die zufriedenen, bescheidenen Kinderjahre noch einmal zurückzurufen, nur noch eine Woche, einen Tag, eine Stunde, eine Minute, nur noch so viel Zeit übrig zu haben, als erforderlich wäre, der kalten, bleichen Gestalt, die auf dem Armenkirchhofe modert, ein Wort seiner tiefen Reue zu sagen und einen Laut der Vergebung von ihr zu vernehmen! Die Kinder wild auf der Straße, die Mutter eine verlassene Wittwe; beide gebrandmarkt mit der Schande des Gatten und Vaters, und von der nackten Noth an den Rand des Abgrundes gedrängt, der ihn einem langsamen, vielleicht noch Jahre lang zögernden Tode, manches tausend Meilen von hier, entgegenführt. Wir haben die Geschichte nicht bis zum Ende verfolgt, aber ihr Schluß ist leicht zu errathen.

Wir gingen einen oder zwei Schritte weiter, versetzten uns wieder in unsere natürliche, heitere Stimmung und begannen eingebildete Füße in ein ganzes Magazin voll Stiefeln und Schuhen mit einer Eile und Genauigkeit einzufügen, welche die erfahrensten Lederkünstler in Erstaunen gesetzt haben würden. Da war ein Paar Stiefel, welches unsere Aufmerksamkeit besonders auf sich zog – ein lustig, gutmüthig aussehendes Paar, das unsere wärmste Theilnahme erweckte; und ehe wir eine halbe Minute lang die Bekanntschaft derselben gemacht, hatten wir auch schon einen feinen jovialen Burschen von Marktgärtner mit einem rothen Gesichte für sie gefunden. Sie waren gerade für ihn da. Seine dicken, feisten Beine schwellen über der Oeffnung, und da diese etwas zu eng ist, um sie in die Röhre schlüpfen zu lassen, so ist letztere nicht straff angespannt, sondern faltig und läßt zwischen ihrem Ende und dem Knieband noch einen Streifen des Strumpfes gewahr werden; seine blaue Schürze ist rund und seine Weste aufgerollt; und da steht er nun in seiner rothen Halsbinde, seinem blauen Rock und einem weißen Hut, der seitwärts auf seinem Kopfe sitzt, und verzieht sein breites, rothes Gesicht, verpfeift aber alsbald seinen Verdruß, als wäre nie ein anderer Gedanke, als der Gedanke an Wohlbehagen und Lust in sein Gehirn gekommen.

Dieß war ein Mann nach unserem Herzen; wir kannten alle seine Verhältnisse; wir hatten ihn schon ein Halbdutzendmal in seiner grünen Chaise, mit dem fetten, runden Rößchen nach Convent-Garden kommen sehen; und sogar in diesem Augenblicke, wo wir einen zärtlichen Blick auf seine Stiefel werfen, springt plötzlich der Fuß einer zierlichen Dirne in ein Paar Dänemarksatlasschuhe, die daneben stehen, und wir erkennen sogleich dasselbe Mädchen, dem er letzten Dienstag Morgen, als wir von Richmond in die Stadt ritten, gerade an dieser Seite der Hammersmither Hängebrücke einen Sitz in seinem Chaischen anbot.

Ein schmuckes Frauenzimmer mit einer glänzendweißen Haube schlüpfte in ein Paar graue Tuchstiefelchen mit einer schwarzen Einfassung und Franzen von derselben Farbe, und streckte die Fußspitzen coquettirend auf der andern Seite der Stulpenstiefel aus, augenscheinlich in der Absicht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; aber wir bemerkten nicht, daß unser Freund, der Handelsgärtner, durch diese Schmeicheleien gefesselt worden wäre; denn außer einem Winke der Erkennung, wodurch er vielleicht darauf hindeuten wollte, daß er ihren Endzweck wohl einsehe, nahm er keine weitere Notiz davon. Seine Gleichgültigkeit wurde jedoch durch die ausgezeichnete Galanterie eines sehr alten Herrn mit einem silberbeschlagenen Stock reichlich ersetzt, welcher in ein Paar große Randschuhe trippelte, die auf dem Rande des Brettes stunden, und seine Bewunderung der Dame in den Tuchstiefelchen durch eine Menge ausdrucksvoller Geberden an den Tag legte, zum unermeßlichen Ergötzen eines jungen Burschen, den wir in ein Paar Tanzschuhe mit hohem Fersenleder steckten, und welcher mit seinem Gelächter den Rock zu zersprengen drohte, der herabsprang, um sich um seinen Leib zu schließen.

Wir hatten dieser Pantomime einige Zeit lang mit großem Vergnügen zugesehen, als wir zu unserem unaussprechlichen Erstaunen bemerkten, daß sich die ganze Gesellschaft mit Einschluß eines zahlreichen Balletcorps von Stiefeln und Schuhen im Hintergrund, in welche wir eiligst so viel Füße steckten, als wir zu unserem Dienste aufbringen konnten, zum Tanzen in Ordnung stellten, und im Augenblicke eine Musik ertönte, der sie sich unverzüglich fügten. Es war höchst ergötzlich, die Gliederfertigkeit des Handelsgärtners zu beobachten. Fort flogen die Stiefel zuerst auf der einen und dann auf der andern Seite, bald seitwärts, bald in's Gedränge, bald gegen die Dänemarksschuhe, dann vorwärts, dann rückwärts, dann ringsherum, und wenn alle diese Evolutionen ausgeführt waren, fing er die Reihe von vorn an, ohne daß er nur im Mindesten unter der Heftigkeit der Bewegung zu leiden schien.

Auch die Dänemarksschuhe blieben nicht zurück, denn sie hüpften und sprangen in allen Richtungen umher; und wenn sie gleich weder so regelmäßig, noch so taktfest tanzten, als die Tuchstiefelchen, so sah man es ihnen doch an, daß es von Herzen ging, und daß sie mehr Lust daran hatten, und darum, wir bekennen es frei, gefiel uns ihre Tanzweise besser.

Aber der amüsanteste Gegenstand in der ganzen Gesellschaft war der alte Herr in den Randschuhen; denn abgesehen von seinen grotesken Versuchen, jugendlich und verliebt zu erscheinen, welche an sich unterhaltend genug waren, wußte es der junge Bursche in den Tanzschuhen so künstlich anzustellen, daß er dem alten Herrn, so oft sich dieser der Dame in den Tuchstiefelchen näherte, mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf die Zehen trat, so daß dieser vor Schmerz laut aufschrie und die Uebrigen sich todt lachen wollten.

Wir waren im Vollgenusse dieser Feierlichkeiten, als wir eine gellende, keineswegs musikalische Stimme rufen hörten, »ich hoffe, Sie werden mich jetzt kennen, Sie unverschämter Gaffer!« Wir warfen forschende Blicke um uns, um zu sehen, woher der Laut kam, und bald fanden wir, daß er nicht, wie wir anfangs zu vermuthen geneigt gewesen, von der jungen Dame in den Tuchstiefelchen ausgegangen war, sondern von einer großen, ältlich aussehenden Dame herrührte, welche oben an der Kellertreppe auf einem Stuhle saß, offenbar um den Verkauf der dort aufgestellten Gegenstände zu überwachen.

Eine Trommel, welche hart hinter uns mit voller Kraft geschlagen worden war, verstummte; die Leute, welche die Schuhe und Stiefel angezogen hatten, ergriffen bei dieser Unterbrechung die Flucht; und da wir uns bewußt waren, in der Tiefe unseres Nachdenkens die alte Dame, ohne daran zu denken, vielleicht eine halbe Stunde lang unverschämt angestarrt zu haben, ergriffen wir ebenfalls die Flucht und befanden uns bald in der dichtesten Finsterniß der angrenzenden Dials.

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