Skizzen aus dem Londoner Alltag

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

»Ich habe William gesagt,« sprach sie, »wir müßten Sorge tragen, ihn irgendwo aufs Land zu bringen, damit er sich erholen könne. Er ist nicht krank, wie Sie wissen, aber sehr geschwächt, denn er hat sich in der letzten Zeit zu sehr angestrengt.«

Arme Frau! die Thränen, die unter ihren Fingern niederfielen, während sie sich zur Seite wandte, als wolle sie sich ihre Haube zurecht setzen, zeigten zu deutlich, wie vergeblich der Versuch war, sich zu täuschen.

Wir setzten uns oben an das Sopha, ohne etwas zu sprechen, denn wir sahen den Athem des Lebens, zwar sanft, aber schnell aus der Gestalt des jungen Mannes entweichen. Mit jedem Athemzug schlug sein Herz langsamer.

William legte eine Hand in die unsrige, umfaßte mit der andern seine Mutter, zog sie an sich, und küßte sie glühend auf die Wange. Es erfolgte eine Pause. Dann sank er auf sein Kissen zurück, und sah lange und ernst seiner Mutter in's Gesicht.

»William! lieber William!« flüsterte die Mutter nach einem langen Schweigen; »sieh mich nicht so an – sprich mit mir, Lieber!«

Der junge Mann lächelte matt, aber einen Augenblick nachher nahmen seine Züge denselben kalten und feierlichen Ausdruck wieder an.

»William, lieber William! Fasse dich! Sieh mich nicht so an, mein Herz! – thu es nicht! O mein Gott! was soll ich thun?« rief die Wittwe, die Hände verzweifelnd zusammenschlagend. »Mein liebes Kind! es stirbt!«

William machte eine gewaltsame Anstrengung, sich aufzurichten, und faltete die Hände:

»Mutter! liebe Mutter!« hauchte er. »Laß mich in dem freien Felde begraben – überall, nur nicht in diesen schrecklichen Straßen. Ich möchte wohl sein, wo du mein Grab sehen könntest, aber nicht in diesem Straßengedränge; es hat mich getödtet. Küsse mich noch einmal, Mutter; schlinge den Arm um meinen Hals – –«

Er sank zurück, und ein seltsamer Ausdruck stahl sich über seine Züge – nicht der des Schmerzes oder des Leidens, sondern ein unbeschreibliches Starrwerden jeder Linie und jeder Muskel.

William war todt.

Scenen - Erstes Kapitel
Der Morgen in den Straßen.

An einem Sommermorgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, bieten die Straßen von London selbst den Wenigen, die der unglücklichen Jagd nach Genuß oder der beinahe ebenso unglücklichen Jagd nach Erwerb eine genaue Bekanntschaft mit den vorkommenden Auftritten verdanken, einen höchst ergreifenden Anblick dar. In den geräuschlosen Straßen, welche zu anderen Zeiten von einer geschäftigen, munteren Menschenmenge wimmeln, und auf den stillen, festverschlossenen Gebäuden, die den Tag über von Leben und Lärmen strotzen, liegt das Trauergepräge der Verlassenheit und des Todes.

Der letzte Trunkenbold, der noch vor Tagesanbruch seinen Heimweg finden will, ist soeben schwerfällig vorübergetaumelt, den Refrain des Trinkliedes, das in der vergangenen Nacht gesungen wurde, zu Ende brüllend: der letzte heimathlose Landstreicher, den der Mangel und die Polizei ohne Obdach gelassen, hat in einer gepflasterten Straßenecke, wo er von Speise und Wärme geträumt, seine frostigen Glieder aufgerafft. Trunkenbold, Wollüstling und Vagabund sind verschwunden, und der mäßigere und geordnetere Theil der Bevölkerung ist noch nicht zu den Mühen des Tages erwacht. Die Stille des Grabes schwebt über den Straßen; sie scheinen die natürliche Farbe derselben angenommen zu haben – so kalt und leblos liegen sie im grauen Zwielichte der Morgendämmerung da. Die Kutschenstände in den größeren Durchfahrten sind verlassen: die Nachthäuser sind geschlossen; und die Lieblingsspaziergänge des muthlosen Elends sind leer.

Hie und da sieht man an den Straßenecken einen vereinzelten Polizeidiener, der den öden Schauplatz mehr mit dem Gehör als mit dem Gesicht beobachtet; und dann und wann stiehlt sich ein verstört aussehender Kater eilig über die Straße und läßt sich von seinem Tummelplatze mit einer Vorsicht und Schlauheit herunter – zuerst auf den Wasserstein, dann auf das Kerichtfäßchen und endlich auf die Pflastersteine springend – als wäre er sich bewußt, daß sein Ruf davon abhänge, seine nächtlichen Liebesabenteuer dem Auge der Oeffentlichkeit zu entziehen. Hin und wieder bemerkt man ein halboffenes Fenster an einem Schlafzimmer, das ebensowohl von der Wärme der Luft, als von dem unruhigen Schlafe seines Bewohners zeigt, und der matte Schimmer des Nachtlichtes, der durch den Vorhang dringt, bezeichnet das Gemach der Schlaflosigkeit oder Krankheit. Mit diesen wenigen Ausnahmen verrathen die Straßen kein Lebenszeichen und die Häuser scheinen ausgestorben.

Eine Stunde geht vorüber; die Spitzen der Kirchen und die Giebel der Hauptgebäude sind vom Lichte der aufgehenden Sonne schwach beleuchtet, und die Straßen nehmen in beinahe unmerklicher Stufenfolge allmälig ihr gewöhnliches Leben und Treiben wieder an. Marktkarren rollen langsam dahin, indeß der schläfrige Kärrner die ermüdeten Rosse ungeduldig antreibt oder vergebliche Versuche macht, den Jungen zu erwecken, der, auf den Deckeln der Obstkörbe hingestreckt, in schwelgerischer Ruhe die lang genährte Begierde nach dem Anblicke der Wunder von London in selige Vergessenheit begräbt.

Rohe, schläfrig aussehende Geschöpfe von seltsamem Aeußeren, welche zwischen Schenkwirthen und HauderernA1 die Mitte zu halten scheinen, lassen die Läden der Frühkneipen nieder; und kleinere tannene Tische, worauf man die gewöhnlichen Vorbereitungen zu einem Straßenfrühstück sieht, werden an ihren gewohnten Plätzen sichtbar. Eine Menge Männer und Weiber (hauptsächlich die letzteren), mit schweren Obstkörben auf dem Kopfe, plagen sich auf ihrem Wege nach Covent-Garden die Parkseite von Piccadilly hinab und bilden in reißender Aufeinanderfolge eine lange wogende Linie von dort bis zur Wendung der Straße bei der Ritterbrücke.

Hie und da eilt ein Maurergeselle, das Mittagessen in einem Taschentuche tragend, an sein Tagewerk, und dann und wann klappert eine kleine Bande von drei oder vier Schuljungen munter über das Pflaster nach einer verstohlenen Badeexpedition, und ihre lärmende Fröhlichkeit sticht gegen das Benehmen des jungen Schornsteinfegers gewaltig ab, der sich Anfangs den Arm müde gepocht und geschellt hat und nun, seitdem ihm von der erbarmungslosen Gesetzgebung die Gefährdung seiner Lungen durch Schreien niedergelegt worden, geduldig auf der Thürschwelle sitzt, bis die Hausmagd die Güte haben wird, zu erwachen.

Der Markt im Covent-Garden sammt seinen Zugängen ist mit Karren von allen Arten, Größen und Formen, vom schwerfällig dahinrollenden Wagen mit seinen vier starken Pferden bis zum schleichenden Obstkarren mit seinem schwindsüchtigen Esel, vollgepfropft. Das Pflaster ist bereits mit abgehauenen Krautblättern, zerrissenen Grasbändern und dem ganzen namenlosen Geschnipfel eines Gemüsemarkts übersäet, und Männer schreien, Karren ächzen, Pferde wiehern, Knaben balgen, Obstweiber schnattern, Pastetenbäcker preisen die Vortrefflichkeit ihrer Pasteten an und Esel schreien. Diese und hundert andere Töne bilden ein Gemisch, das einem Londoner Ohre wehe genug thut, aber dem Bewohner der Provinz, der zum erstenmale auf dem HummumsA2 schläft, wahrhaft entsetzlich ist.

Eine zweite Stunde geht vorüber, und der Tag beginnt nun in vollem Ernste. Die Dienstmagd, welche unter der Maske eines sehr festen Schlafes ganz vergessen hat, daß die Frau schon eine halbe Stunde läutet, hört vom Herrn (den die Frau zu diesem Zwecke in seinem Negligé die Treppe hinaufgeschickt hat), daß es bereits halb sieben Uhr sei, worauf sie, mit wohlberechnetem Schrecken, plötzlich aufsteht und verdrießlich die Treppe hinuntergeht, während des Lichtschlagens den Wunsch ausdrückend, das Prinzip der Selbstentzündung möchte sich auch auf Kohlen und Feuerherd ausdehnen. Nachdem das Feuer angemacht ist, öffnet sie die Hausthüre, um die Milch herein zu nehmen, als sie bemerkt, daß die Nachbarmagd vermöge des sonderbarsten Zusammentreffens von der Welt ebenfalls gerade die Milch herein nimmt und daß im gegenüberstehenden Hause Herrn Todd's Knecht, durch einen ebenso außerordentlichen Zufall, seines Herrn Läden niederläßt. Die unvermeidliche Folge davon ist, daß sie mit dem Milchkruge in der Hand gerade in einer solchen Entfernung stehen bleibt, um Betsy Clark einen »guten Morgen« zu wünschen, und daß Herrn Todd's Knecht über die Straße herüberkommt, um beiden einen »guten Morgen« zu wünschen; und da vorbesagter Knecht des Herrn Todd beinahe so hübsch und so bezaubernd ist, wie der Bäcker selbst, so wird die Unterhaltung bald sehr anziehend und würde wahrscheinlich noch anziehender geworden sein, hätte nicht Betsy's Frau, welche sie immer beobachtet, zornig an das Fenster ihres Schlafzimmers gepocht, worauf Herrn Todd's Knecht gleichgültig zu pfeifen sucht, während er weit schneller in seinen Laden zurückkehrt, als er aus demselben hervorgetreten ist, und die beiden Mädchen in ihre betreffende Häuser eilen und in aller Stille die Thüre verschließen, aber eine Minute später ihre Köpfe im Vorderzimmer zum Fenster hinausstrecken, dem Anscheine nach, um die Miethkutsche zu betrachten, welche eben vorüberfährt, der That nach aber, um noch einen Blick von Herrn Todd's Knecht aufzufangen, welcher, ein großer Freund von den Postkutschen, aber ein noch größerer von den Frauenzimmern, einen kurzen Blick auf die Postkutsche und einen langen auf die Mädchen wirft, womit sämmtliche Betheiligte ganz zufrieden sind.

Die Postkutsche selbst fährt in ihrem vorgeschriebenen Trab nach der Post, und die Passagiere, welche mit dem Frühwagen abreisen, starren erstaunt die Passagiere an, welche mit dem Frühwagen ankommen, trüb und verdrießlich aussehen und augenscheinlich unter dem Einflusse jenes seltsamen, durch das Reisen hervorgerufenen Gefühls stehen, welches die Vorfälle des vorhergehenden Tages am folgenden Morgen in einem Lichte darstellt, als hätten sie sich wenigstens schon vor einem halben Jahre ereignet, und uns mit großer Verwunderung über die Veränderungen erfüllt, die mit den Freunden und Verwandten, von denen wir vor vierzehn Tagen Abschied genommen, seit unserem letzten Zusammentreffen vorgegangen sind. Der Posthof ist ganz lebendig und die Kutschen, welche eben abgehen wollen, sind wie immer von einer Menge Juden und Judengenossen umgeben, die, der Himmel weiß warum, die Ansicht zu haben scheinen, als wäre es ganz unmöglich, daß irgend Jemand eine Kutsche besteigen könne, ohne wenigstens für sechs Pfennige Pomeranzen, ein Federmesser, eine Brieftasche, einen Almanach vom vergangenen Jahr, ein Bleistiftfutteral, ein Stück Schwamm oder ein paar Heftchen Carrikaturen mit sich zu nehmen.

 

Noch eine halbe Stunde, und die Sonne wirft ihre hellen Strahlen lustig in die noch immer halbleeren Straßen und hat eine hinreichende Kraft, um die verdrießliche Schläfrigkeit des Lehrburschen zu verscheuchen, welcher seine Versuche, den Laden auszukehren und die Steinplatten vor dem Eingange desselben mit Wasser zu besprengen, alle zwei Minuten unterbricht, um einem andern auf dieselbe Weise beschäftigten Lehrlinge zu sagen, wie heiß es heute werden würde, oder um, mit der rechten Hand seine Augen überschattend und mit der linken sich auf den Besen stützend, dem »Wunder« oder dem »Tally-Ho« oder dem »Nimrod« oder irgend einem anderen Schnellwagen nachzugaffen, bis er ihm aus den Augen kommt, worauf er in den Laden zurückkehrt, um die Passagiere auf der Außenseite der Schnellwagen zu beneiden und an das alte backsteinerne Haus im »Unterlande« zu denken, wo er in die Schule ging: sein Elend bei Milch und Wasser, grobem Brod und altbackenen Brocken schwindet in Nichts zusammen vor der süßen Erinnerung an das grüne Feld, auf dem die Knaben spielten, an den grünen Teich, der ihm einmal Schläge eingetragen, weil er sich herausgenommen hatte, hineinzufallen, und an manche andere Scenen aus seiner Knabenzeit.

Kabriolete, mit Koffern und Schachteln zwischen den Beinen des Kutschers und auf dem Spritzleder, rasseln auf ihrem Wege nach den Posthöfen oder den Kajen der Dampfpacketboote eiligst auf und nieder; und die Kabrioletinhaber und Miethkutschenbesitzer, welche sich auf ihrem Stande befinden, putzen die Verzierungen ihrer schmutzigen Gefährte – wobei die ersteren sich verwundern, wie es sich Jemand einfallen lassen könne, die »Menageriekästen von Omnibus einem regulären Kabriolet mit einem schnellen Renner« vorzuziehen, und die letzteren erstaunen, »wie es Jemand wagen könne, seinen Hals einem gebrechlichen Kabriolet anzuvertrauen, wenn er eine respektable Miethkutsche mit ein paar Pferden haben könne, welche mit Niemanden davonrenne« – ein Trost, welcher sich zweifelsohne auf die Thatsache gründet, daß man überhaupt noch niemals eine Miethkutsche rennen sah, »ausgenommen,« wie der schmucke Kabrioletinhaber an der Spitze der Reihe bemerkt, »ausgenommen eine, und diese rannte rückwärts.«

Die Läden sind jetzt ganz geöffnet, und Lehrbursche und Ladenbesitzer sind eifrig beschäftigt, die Fenster für den Tag zu reinigen und zu verzieren. Die Bäckerläden in der Stadt sind mit Mägden und Kindern angefüllt, welche auf den ersten Schuß Wecken warten. – In der Vorstadt ist dieser Auftritt wegen der Frühschreiberbevölkerung von Somers und Camden Towns, Islington und Pentonville, die eiligst in die City rennen, oder ihre Schritte nach der Kanzleistraße und dem Gerichtsviertel lenken, bereits seit einer vollen Stunde vorüber. Männer von mittlerem Alter, deren Gehalt keineswegs im Verhältniß mit ihrer Familie gewachsen ist, eilen schnell die Straße entlang, offenbar nichts Anderes vor sich sehend als die Schreibstube: sie kennen beinahe Jeden von Gesicht, dem sie begegnen oder den sie überholen, denn sie haben ihn während der letzten zwanzig Jahre (Sonntags ausgenommen) beinahe jeden Morgen gesehen; aber sie sprechen mit Keinem, und wenn sie an einem persönlichen Bekannten vorüberkommen, so tauschen sie nur geschwind einen Gruß aus, und gehen entweder neben ihm her oder vor ihm voraus, wie es seine Gewohnheit mit sich bringt. Stehen zu bleiben um ihm die Hand zu schütteln oder des Freundes Arm zu ergreifen, dazu fühlen sie sich nicht befugt, weil es nicht in ihre Dienstpflicht miteingeschlossen ist. Kleine Schreiberlehrlinge in großen Hüten, welche Männer geworden, ehe sie Knaben waren, eilen mit ihrem ersten Rock, der sorgfältig gebürstet ist, und ihren weißen Hosen vom letzten Sonntag, welche mit Koth und Tinte überschmiert sind, paarweise vorüber. Es erfordert offenbar einen schweren inneren Kampf, der Versuchung zu widerstehen, einen Theil ihres täglichen Speisegeldes auf den Ankauf altgebackener Torten zu verwenden, welche so lockend auf staubigen Zinnplatten an der Thüre des Zuckerbäckers ausgestellt sind; aber das Bewußtsein ihrer Wichtigkeit und ihrer wöchentlichen Einnahme von sieben Shillingen mit der Aussicht einer baldigen Erhöhung auf acht, kommt ihnen zu Hilfe. Sie setzen ihre Hüte kühner auf's Ohr und sehen allen Lehrmädchen der Putzmacherinnen und Modehändlerinnen, denen sie begegnen, unter die Hauben: – arme Mädchen! – die geplagteste, am schlechtesten bezahlte und auch oft am schlechtesten behandelte Klasse der menschlichen Gesellschaft.

Eilf Uhr, und eine neue Klasse von Leuten erfüllt die Straße. Die Waaren sind einladend hinter den Ladenfenstern aufgestellt; die Ladenbesitzer mit ihren weißen Taschentüchern und ihren zierlichen Röcken sehen aus, als wäre es ihnen unmöglich ein Fenster abzureiben, und wenn ihr Leben daran hinge; die Karren sind aus dem Covent-Garden verschwunden, die Kärrner heimgefahren und die Obsthändler nach ihren gewohnten »Schlägen« in der Vorstadt gegangen; die Schreiber sind auf ihren Schreibstuben, und Gigs, Kabriolete, Omnibusse und Reitpferde tragen ihre Herrn an denselben Bestimmungsort. Die Straßen sind mit einer ungeheuren Menge Menschen, aufgeputzten und schäbigen, reichen und armen, faulen und fleißigen vollgepfropft; und wir kommen nun zu der Hitze und dem lärmenden Treiben des Mittags.

1 Hauderern: Droschkenkutschern

2 auf dem Hummums: im türkischen Bad

Zweites Kapitel
Der Abend in den Straßen.

Aber die Straßen von London müssen, um sie in ihrem eigentlichen Glanzpunkte zu sehen, an einem dunklen, trüben, düstern Winterabende besucht werden, wenn sich gerade genug Duft auf den Boden senkt, um das Pflaster schlüpfrig zu machen, ohne es von irgend einer seiner Unreinigkeiten zu säubern, und wenn der schwere, träge Nebel, der auf jedem Gegenstand liegt, das Licht der Gaslampen und die brillante Beleuchtung der Kaufläden durch den Contrast gegen die ringsum herrschende Dunkelheit stärker hervorhebt.

Wer an einem solchen Abende zu Hause ist, scheint geneigt, es sich so bequem und behaglich als möglich zu machen, und diejenigen, welche auf der Straße sind, haben triftige Gründe, die Glücklichen zu beneiden, welche vor ihrem Kamine sitzen.

In den breiteren und besseren Straßen sind die Fenster der Speisezimmer dicht verhängt, das Feuer in der Küche lodert hell empor, und schmackhafte Dünste warmer Speisen kitzeln die Nasenlöcher des Hungrigen, der draußen steht und müde sich an das Geländer der Haustreppe lehnt. In den Vorstädten schellt der Semmeljunge die kleine Straße hinab, indem er weit langsamer geht, als er sonst gewohnt ist; denn Frau Macklin in Nummer 4 hat nicht sobald ihre Hausthüre geöffnet und mit aller Macht »Semmeln!« gerufen, als Frau Walker in Nummer 5 ihren Kopf aus dem Fenster ihres Wohnzimmers steckt und ebenfalls »Semmeln« ruft; und Frau Walker hat kaum das Wort über ihre Lippen springen lassen, als Frau Peplow auf der andern Seite der Straße Master Peplow losläßt, welcher mit einer Eile, zu der nur die Aussicht auf Buttersemmeln begeistern kann, die Straße herabschießt und den Jungen gewaltsam mit sich fortreißt, worauf Frau Macklin und Frau Walker, um dem Jungen eine Mühe zu ersparen und zugleich mit Frau Peplow einige freundnachbarliche Worte zu wechseln, über die Straße rennen und ihre Semmeln an Frau Peplows Hausthüre kaufen, wobei es sich aus der freiwilligen Aeußerung der Frau Walker ergibt, daß gerade ihr Kessel siedet und Tassen und Teller bereit sind, und daß sie sich, weil es draußen so unangenehm sei, entschlossen habe, ihren Nachbarinnen mit einem Täßchen comfortablen Thee's aufzuwarten – ein Schluß, zu welchem, vermöge des sonderbarsten Zusammentreffens der Umstände, zugleich auch die beiden andern Damen gekommen waren.

Nach einer kurzen Unterhaltung über die Schlechtigkeit des Wetters und die Verdienste des Thee's mit einer vergleichenden Abschweifung auf die Ungeschliffenheit der Knaben als Regel, und die Liebenswürdigkeit Master Peplows als Ausnahme, sieht Frau Walker ihren Gemahl die Straße herabkommen, und da der arme Mann nach seinem schmutzigen Weg von der Werfte gleichfalls seinen Thee nöthig hat, so eilt sie augenblicklich, mit ihren Semmeln in der Hand, davon, und Frau Macklin thut dasselbe, und nach wenigen Worten an Frau Walker, schlüpfen alle in ihre kleinen Wohnungen und schließen ihre kleinen Hausthüren zu, welche den ganzen Abend über Niemand mehr geöffnet werden, als dem »Neunuhrbierjungen,« der mit einer Trage, vor welcher eine Laterne hängt, herumgeht, und, während er Frau Walker das gestrige Wochenblatt einhändigt, die Meinung äußert, er wolle verdammt sein, wenn er den Krug noch halten könne oder das Papier in seinen Händen spüre, denn es sei eine der schneidendsten Nächte, die er je empfunden, mit Ausnahme derjenigen, wo der Mann auf dem Brickfield erfroren sei.

Nach einer kurzen prophetischen Unterhaltung mit dem Polizeidiener an der Straßenecke, welche von der Wahrscheinlichkeit einer Wetterveränderung und des Eintritts einer großen Kälte handelt, kehrt der Neunuhrbierjunge zu seinem Herrn zurück und bringt den Rest des Abends mit dem Geschäfte zu, unaufhörlich das Feuer in der Wirthsstube anzuschüren und ehrerbietig an dem Gespräche der um dasselbe versammelten Großen Theil zu nehmen.

Die Straßen in der Nähe des Marschthores und Victoriatheaters haben in einer solchen Nacht ein schmutziges und widerliches Aussehen, zu dessen Milderung die Gruppen, welche dort herumlungern, wenig beitragen. Sogar der kleine Blockzinntempel, der den gebratenen Kartoffeln geweiht ist und unter einem glänzenden Farbenspiel bunter Lampen steht, sieht nicht so lustig aus, als gewöhnlich; und was den Nierenpastetenstand betrifft, so ist seine Glorie ganz dahin. Das Licht in der Transparentlampe, einem Fabrikat aus mit Charakteren dekorirtem Oelpapier, ist schon fünfzigmal ausgeblasen worden; der Nierenpastetenverkäufer, der es endlich müde ist, in die benachbarten Weingewölbe zu laufen, um wieder anzünden zu können, hat in der Verzweiflung bereits den Gedanken an Beleuchtung aufgegeben, und die einzigen Zeichen seines »Hierherums« sind die hellen Funken, welche jedesmal, wenn er seinen tragbaren Backofen öffnet, um einem Kunden eine warme Nierenpastete einzuhändigen, in einem langen unordentlichen Zuge die Straße hinabwirbeln.

Die Verkäufer von Plattfischen, Austern und Obst schmachten hoffnungslos hinter der Gosse, vergeblich bemüht Käufer anzulocken; und die zerlumpten Jungen, welche sich gewöhnlich auf den Straßen herumtreiben, kauern sich in einem vorspringenden Thorwege, oder unter dem zwilchenen Vorhang der Käsebude zusammen, wo große flackernde Gaslichter, unbeschattet von einem Glase, hohe Beugen hellrother und blaßgelber Käselaibe, untermengt mit kleinen Stücken schwarzbraunen Specks zu fünf Pencen, verschiedenen Tonnen Wochen-Dorseter und düstere Rollen »vom Besten« beleuchten.

Hier belustigen sie sich mit theatralischen Vorstellungen, die sie ihrem Besuche der Victoriagallerie ums halbe Geld verdanken, bewundern den fürchterlichen Kampf, welcher allnächtlich wiederholt wird, und preisen die unerreichbare Vortrefflichkeit, mit der Bill Thompson den »Doppelaffen« macht oder die geheimnißvollen Involutionen des Matrosenhornpipe durchführt.

Es ist nahe an eilf Uhr, und der kalte feine Regen, welcher so lange nebelartig niedergesunken ist, beginnt nun in vollem Ernste herabzuströmen. Der Verkäufer der gebratenen Kartoffeln hat sich entfernt – der Nierenpastetenmann ist so eben mit seinem Waarenhause auf dem Arm weggegangen – der Käsekrämer hat seinen Vorhang zugezogen und die Knaben haben sich zerstreut. Das beständige Klappern von Ueberschuhen auf dem schlüpfrigen und unebenen Pflaster und das Rauschen von Regenschirmen, wenn der Wind gegen die Ladenfenster stößt, verräth die unangenehme Nacht; und der Polizeidiener mit dem wachstaffetenen Kragen, den er fest umgebunden hat, hält seinen Hut auf dem Kopf, macht eine Wendung, um dem Andrange des Windes und Regens, der an der Straßenecke wider ihn stößt, auszuweichen, und gibt durch diese Manipulationen zu erkennen, daß er weit entfernt ist, sich zur Aussicht, die er vor sich hat, Glück zu wünschen.

 

Der kleine Kramladen mit der zerbrochenen Schelle hinter der Thüre, deren melancholisches Geklingel durch jede Kundenansprache um einen Vierling Zucker oder ein Loth Kaffee comandirt wird, ist nun geschlossen. Die Menschenmenge, welche den ganzen Tag hindurch ab und zuströmte, vermindert sich mit reißender Schnelligkeit, und das lärmende Geschrei, welches aus den Wirthshäusern dringt, ist beinahe der einzige Laut, der die melancholische Stille der Nacht unterbricht.

Doch nein, man hörte noch einen andern, aber er ist jetzt verstummt. Das unglückliche Weib mit dem Kind auf den Armen, dessen abgezehrte Gestalt sie mit den Enden ihres eigenen, knappen Halstuches sorgfältig umhüllt, hat den Versuch gemacht, eine Volksballade zu singen, in der Hoffnung, dem mitleidigen Vorübergehenden einige Pence zu entlocken. Ein fühlloses Gelächter über ihre schwache Stimme ist alles, was sie ersungen hat. Große Thränen strömen über ihr blasses Gesicht, das Kind friert und hungert und sein leises, halbunterdrücktes Gewimmer erhöht das Elend seiner unglücklichen Mutter; sie schluchzt laut und sinkt verzweiflungsvoll auf eine kalte nasse Thürschwelle nieder.

Singen! Wie wenige von denjenigen, welche an einem solchen bedaurungswürdigen Geschöpfe vorübergehen, denken an die Angst des Herzens und die Gedrücktheit der Seele und des Geistes, welche eine solche Anstrengung zum Singen hervorruft. Bitterer Spott! Krankheit, Verwahrlosung und Hunger murmeln die Worte des fröhlichen Liedes, welches, Gott weiß wie oft, eure Stunden beim Schmauß und Gelage belebt hat! Es ist kein Gegenstand zum scherzen. Die schwache zitternde Stimme erzählt eine furchtbare Geschichte von Mangel und Hunger; und die kranke Sängerin eures Zechliedes wendet sich weg, um vor Frost und Hunger zu sterben.

Ein Uhr. Gruppen, welche aus den verschiedenen Theatern kommen, waten durch die kothigen Straßen; Kabriolete, Miethkutschen, Wagen und Theateromnibusse rollen schnell vorbei; Wassermänner mit trüben, schmutzigen Laternen in der Hand und große Messingplatten auf der Brust, welche während der zwei letzten Stunden mit lautem Rufen hin und her gerannt sind, ziehen sich nach ihren Wasserstuben zurück, um sich mit ihren Lieblingen, der Pfeife und dem Wermuthbier, zu trösten; die Theaterbesucher, welche um's halbe Geld auf's Parterre und in die Logen gehen, drängen sich nach den verschiedenen Restaurationshäusern; und unter einer geräuschvollen Verwirrung von Rauchen, Rennen, Messerklappern und Kellnerplappern, das völlig unbeschreiblich ist, werden zahllose Rostrippchen, Nieren, Kaninchen, Austern, Doppelbier, Cigarren und »Budeln« herumgereicht.

Der musikalischere Theil der Schauspielbesucher begibt sich in eine Harmoniegesellschaft. Aus Neugierde wollen wir sie für einige Augenblicke dorthin begleiten.

In einem hohen, geräumigen Saale sitzen achtzig bis hundert Gäste und klopfen mit zinnernen Trinkkrügchen kleine Melodieen auf den Tisch, oder hämmern mit den Messerheften, als wären sie eben so viele FaßbinderA3. Sie applaudiren einem lustigen Lied, welches so eben von den drei »Vorständen« am oberen Ende der im Mittelpunkt stehenden Tafel gesungen worden ist. Einer dieser Vorstände nimmt den Präsidentenstuhl ein – es ist der kleine, pompöse Mann mit dem Kahlkopfe, der gerade noch aus dem Kragen seines grünen Rockes hervorragt; ihm zur Rechten und zur Linken sitzen die beiden anderen – der starke Mann mit der schwachen Stimme und der finstere Mann mit dem hageren Gesichte in schwarzem Anzug. Der kleine Mann im Präsidentenstuhl ist eine höchst amüsante Personage – eine solche Herablassung bei einer solchen Größe, und eine solche Stimme!

»Tief!« wie unser Nachbar, der junge Herr mit dem blauen Rock seinem Gefährten kräftig bemerkt, »tief! das will ich glauben. Er kann tiefer hinunter, als irgend Jemand; zuweilen so tief, daß Sie ihn nicht mehr hören können.« Und er thuts. Ihn so allmälig tiefer und tiefer hinunterbrummen zu hören, bis er nicht mehr zurück kann, das ist der größte Genuß auf der Welt, und es ist eine reine Unmöglichkeit, den ergreifenden Ton, mit dem er seine Seele in »mein Herz ist im Hochland«, oder »der brave alte Hoak« ausströmt, ohne Rührung zu hören. Der starke Mann neigt sich auch zur Sentimentalität hin und trillert »flieh, flieh aus der Welt Bettili mit mir«, oder irgend eine andere Arie, mit der süßen Stimme einer Dame und in den bezauberndsten Tönen, die man sich denken kann.

»Bestellen Sie jetzt, meine Herren, was sie wünschen – bestellen Sie« – sagt der rothhaarige Mann mit dem blassen Gesichte; und die Bestellungen von »Budeln« Wachholder, und »Nudeln« Branntwein und Pinten Doppelbier und Cigarren von besonderer Milde erschallen jetzt lärmend aus allen Theilen des Zimmers. Die »Vorstände« haben den Höhepunkt ihres Glanzes erreicht und beglücken die bekannteren Besucher des Saales mit der schmeichelhaftesten Gönnermiene, mit herablassenden Verbeugungen, oder sogar mit einem, ja mit zwei Worten dankbarer Anerkennung.

Der kleine Mann mit dem runden Gesichte und dem kurzen braunen Ueberrock, weißen Strümpfen und Schuhen, ist in seiner komischen Laune; die Miene der Selbstverläugnung, verbunden mit dem Bewußtsein seiner Würde, womit er seinen Beruf für das Präsidium anerkennt, ist besonders einnehmend. »Meine Herren,« sagt der kleine, pompöse Mann, diese Worte mit einem Schlage des Präsidentenhammers auf den Tisch begleitend – »meine Herren, erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. – Unser Freund, Herr Smuggins, will uns etwas zum Besten geben.« – »Bravo!« ruft die Gesellschaft. Und Smuggins hustet eine Symphonie und schnüffelt ein paar Mal auf eine höchst witzige Weise, was beides mit allgemeinem Beifall aufgenommen wird; dann singt er ein komisches Lied, mit einem »Vivallallerachor«, der weit länger ist, als der Vers selbst. Er erntet ein unmäßiges Beifallsgeschrei, und nachdem ein strebender Geist aus freien Stücken eine Recitation gegeben und erschreckliche Mißtöne hervorgebracht hat, schlägt der kleine, pompöse Mann abermals auf den Tisch und sagt, »meine Herren, ein Lustiges, wenn es Ihnen gefällig ist!« Diese Aufforderung ruft einen stürmischen Beifall hervor und die energischen Geister drücken ihre unbedingteste Zufriedenheit dadurch aus, daß sie ein oder zwei Biergläser auf ihren Beinen zerschlagen – ein humoristisches Sinnbild, das jedoch häufig zu einem kleinen Wortwechsel Anlaß gibt, wenn von Seiten des Kellners eine Anforderung wegen Entschädigung gestellt wird.

Dergleichen Scenen dauern bis drei oder vier Uhr Morgens fort; und sogar, wenn sie ausgespielt sind, so eröffnen sich für den wißbegierigen Neuling wieder neue. Doch da eine Schilderung aller, wenn sie auch noch so skizzenartig gegeben würde, einen ganzen Band einnähme, dessen Inhalt, wenn auch noch so belehrend, doch keineswegs gefällig sein dürfte, so machen wir unsere Verbeugung und lassen den Vorhang nieder.

1 Faßbinder: Küfer

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»