Skizzen aus dem Londoner Alltag

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Drittes Kapitel
Die Kramläden und ihre Miether.

Welch unerschöpfliche Quellen bieten die Straßen London's dem Beobachter dar! Wir können nicht mit Sterne übereinstimmen, der den Mann beklagt, welcher vom Dan nach Beersheba wanderte und sagen konnte, Alles sei unfruchtbar; wir haben nicht das geringste Mitleid mit dem Manne, der seinen Hut aufsetzen, seinen Stock in die Hand nehmen und vom Covent-Garden bis zum St. Pauls-Kirchhof und wieder zurück auf den Marktplatz gehen kann, ohne auf dieser Wanderung sich irgend eine Unterhaltung – wir hätten fast gesagt Belehrung – verschafft zu haben. Und doch gibt es solche Geschöpfe – wir begegnen ihnen alle Tage. Hohe, schwarze Cravaten und helle Westen, etwa auch ein schwarzes spanisches Rohr, vor allem aber ein mißvergnügtes Aussehen – dieß gehört zu den charakteristischen Kennzeichen dieser Rasse. Andere Leute eilen rasch an Einem vorüber, stets eifrig in irgend einem Geschäfte begriffen, oder fröhlich dem Vergnügen nachlaufend; jene Menschen dagegen schleichen verdrossen einher und legen etwa dieselbe Fröhlichkeit und Lebhaftigkeit an den Tag, wie Polizeidiener, die in ihrem Dienste begriffen sind. Nichts scheint auch nur den geringsten Eindruck auf sie zu machen, und ihr Gleichmuth bleibt ungestört, selbst wenn sie von einem Lastträger niedergerannt oder von einem Kabriolet zu Boden gefahren werden sollten.

Man trifft sie vornehmlich an schönen Tagen in irgend einer der Hauptdurchfahrten; sieht man des Abends durch das Fenster eines Cigarrenladens in West-End – wenn je zwischen den blauen Vorhängen, die dem neugierigen Auge wehren sollen, ein freies Plätzchen zu finden ist, um einen Blick hineinzuwerfen – so findet man sie in dem einzigen Genusse, den ihnen ihr Dasein bietet. Da lungern sie in den Rauchstübchen um einige runde Fässer herum, in all jener Würde, die ihnen mächtige Knebelbärte und große goldene Uhrketten verleihen können, wobei sie nichtssagende Worte leise der jungen Dame in dem Ambrakleide mit den großen Ohrringen zuflüstern, welche auf ihrem Sitze hinter dem Comptoir einen Strahlenglanz von Anbetung und Gasbeleuchtung um sich verbreitet, der die Bewunderung aller Mägde der Nachbarschaft und den Neid aller Handlungslehrlinge innerhalb zweier Meilen in der Runde erregt.

Zu unsern Lieblingszeitvertreiben gehörte bisher, die allmäligen Fortschritte einzelner solcher Kramläden – sei es nun zum Emporkommen oder zum Falle – zu beobachten. Wir haben uns von dem Zustande mehrerer, in verschiedenen Theilen der Stadt gelegener unterrichtet und sind mit ihrer ganzen Geschichte auf's Genaueste bekannt. Wir könnten zum wenigsten zwanzig öffentlich nennen, von denen wir bestimmt überzeugt sind, daß sie während der letzten sechs Jahre keine Steuern bezahlt haben. Sie sind nie länger als ein paar Monate von denselben Miethern bewohnt und haben deßhalb ohne Zweifel schon allen Arten von Kleinhandel zum Tummelplatze gedient.

Ich führe beispielsweise einen derselben auf, an dessen Schicksal wir besondern Antheil genommen, da wir denselben fast von jeher als Laden zu kennen die Ehre haben; und so mag er denn als der Repräsentant für alle übrigen gelten. Er liegt auf der Surreyseite der Themse, nur in geringer Entfernung von dem Marsh-Thore. Das Haus war ursprünglich eine wohleingerichtete Privatwohnung, die hübsch genug aussah; der Hausbesitzer kam in Verlegenheiten, das Haus in die Hände der Gerichte, der Besitzer mußte es verlassen und so kam es in Verfall. Zu dieser Zeit beginnt unsere Bekanntschaft mit dem Hause. Der Verwurf war völlig abgefallen, die Fenster waren zerbrochen, die Area durch Vernachlässigung und das Ueberlaufen des Wassertrogs mit Priestleyscher Materie überwachsen, der Wassertrog selbst ohne Deckel und die Hausthüre das leibhaftige Bild des Elends. Die Kinder der ganzen Nachbarschaft wußten sich keinen besseren Zeitvertreib zu machen, als sich in Massen auf der Treppe vor dem Hause zu versammeln und den Thürklopfer mit kräftigen Doppelschlägen zu handhaben – zum großen Aerger der ganzen Nachbarschaft im Allgemeinen, und einer alten nervenschwachen Dame im zweitnächsten Hause in's Besondere. Zahlreiche Klagen kamen dagegen ein, und verschiedene Gefäße mit Flüssigkeiten wurden über die Tobenden herabgegossen, aber alles ohne Wirkung. In diesem Zustande der Dinge brachte der Pfänderverleiher an der Straßenecke das unglückliche Haus endlich in Aufstreich, und als es nun verkauft war, sah es erst mehr als je einer Baracke ähnlich.

Wenige Wochen vorher hatten wir diesen unsern Freund ganz seinem Schicksale überlassen; wie groß war daher unser Erstaunen, als wir bei unserm Wiederzusammentreffen keine Spur von seinem frühern Dasein mehr antrafen! An seiner Stelle stand ein hübscher Laden, der sich fast dem Stande der Vollkommenheit näherte, und an den Fensterläden waren große Anschläge angeklebt, die dem Publikum kund thaten, daß der Laden in Kurzem mit einer großen Auswahl von »Leinenzeugen und kurzen Waaren« eröffnet werden sollte. Er wurde auch, wie die Ankündigung besagte, eröffnet, und der Name des Inhabers »und Comp.« war in großen goldenen, fast zu glänzenden Buchstaben über dem Eingange zu lesen. Aber was für Bänder und Shawls! – was für elegante junge Männer hinter dem Ladentische, – jeder mit einem zierlichen Vatermörder und weißer Halsbinde, gleich dem ersten Liebhaber in einem Lustspiele. Was den Prinzipal anbelangt, so schien er weiter nichts zu thun zu haben, als im Laden auf und ab gehen, den Damen Sitze anzubieten und mit dem geputztesten der anwesenden jungen Männer, der von den Nachbarn pfiffigerweise für die »Comp.« gehalten wurde, unbedeutende Gespräche zu führen.

Mit Besorgniß sahen wir all' dieses mit an; ein finsteres Vorgefühl, daß auch dieser Laden zu den verurtheilten gehöre, drängte sich uns auf – und so war es auch. Sein Verfall kam nach und nach, aber desto sicherer. Nachgerade erschienen Zettel an den Fenstern, dann wurden Flannelballen mit angehefteten Preisbezeichnungen an der Thüre ausgestellt, welche sich zuletzt auch zu einem Träger für eine Ankündigung hergeben mußte, daß der erste Stock unmöblirt zu vergeben wäre. Dann verschwand einer der jungen Männer, der andere vertauschte seine weiße Halsbinde mit einer schwarzen und der Eigenthümer legte sich auf den Trunk. Der Laden wurde unreinlich, zerbrochene Fensterscheiben blieben unausgebessert, und die Vorräthe verschwanden Stück für Stück. Endlich kam der Brunnenmeister des Viertels, um wegen Nichtbezahlung der Wassertaxe die Brunnenröhre zu vernageln, und der Leinwandhändler machte sich unsichtbar, dem Hausbesitzer seine Empfehlungen und den Schlüssel zurücklassend.

Der nächste Miether war ein Schreibmaterialienhändler; der Laden wurde bescheidener ausgemalt als vorhin, aber er war wenigstens säuberlich. Doch, wie es nun immer kommen mochte, so oft wir vorbeigingen, drängte sich uns unwillkürlich der Gedanke auf, daß er aussähe, wie ein mit Armuth und Elend Kämpfender. Wir wünschten dem Manne alles Gute, aber wir befürchteten einen schlechten Ausgang. Augenscheinlich war er ein Wittwer und mußte irgendwo eine Beschäftigung haben, denn er verließ jeden Morgen sein Haus, um in die Stadt zu gehen. Das Geschäft zu Hause wurde durch seine älteste Tochter geführt. Das arme Mädchen! Sie hatte keinen Beistand. Wir bemerkten im Vorübergehen gelegenheitlich noch zwei oder drei andere Kinder, die, gleich ihr selbst, in Trauer gekleidet waren und in dem Zimmer hinter dem Laden saßen. Nie gingen wir des Nachts vorüber, ohne die älteste Tochter beschäftigt zu sehen, um entweder für die Kinder etwas zu arbeiten, oder kleine, zierliche Spielsachen zum Verkaufe zu verfertigen. Wann ihr bleiches Gesicht bei dem trüben Lichtschimmer trauriger und nachdenkender aussah, dachten wir oft, wenn jenen gedankenlosen weiblichen Geschöpfen, die auf das dürftige Geschäft eines armen Wesens, wie dieses, mit Verachtung herabsehen, das Elend, das sie erdulden, die bittern Entbehrungen, denen sie sich in der edeln Absicht unterziehen mußte, ihrer Familie einen ärmlichen Unterhalt zu gewinnen, nur halb bekannt gewesen wäre, so würden sie vielleicht lieber jede Veranlassung vermieden haben, vor dieser Dulderin mit Eitelkeit und unbescheidenem Hochmuthe zu prunken, um sie nicht zum letzten schrecklichsten Hülfsmittel zu treiben, dessen Namen nur zu hören schon die zarten Gefühle dieser barmherzigen Damen erschüttern würde.

Doch wir haben den Laden völlig vergessen. Wir fuhren also fort, ihn zu bewachen, und jeder Tag bewies die Zunahme der Armuth seiner Miethsleute nur zu klar. Die Kinder waren allerdings reinlich, aber ihre Kleider abgetragen und zerlumpt; es konnte kein Miethsmann für den obern Stock aufgetrieben werden, von dessen Beitrag doch ein Theil der Hausmiethe hätte bestritten werden können, und eine langsam schleichende Abzehrung, die bereits weit um sich gegriffen hatte, gestattete dem ältesten Mädchen nimmer, ihre Geschäfte fortzusetzen. Das Vierteljahr kam herbei; der Hausbesitzer hatte durch die Uebertriebenheit des vorigen Miethers Schaden genug gelitten und daher mit der Noth seines Nachfolgers kein Mitleiden; er ließ ihm Execution einlegen.

Als wir eines Morgens vorübergingen, waren die Auspfänder gerade beschäftigt, die wenigen Mobilien, die noch im Hause waren, fortzuschaffen, und ein neuer Anschlag unterrichtete uns, daß das Haus abermals »zu vermiethen« sei. Was aus dem Miether geworden, konnten wir nie erfahren; wir glauben aber, daß das Mädchen aller Leiden enthoben und aller Sorgen frei wurde. Gott sei ihr gnädig! wir hoffen, daß unsere Vermuthung wahr ist.

Die Neugierde trieb uns, zu erfahren, wie das Schauspiel weiter verlaufen würde – denn daß auf diesem Platze kein Glück zu hoffen war, darüber waren wir vollkommen im Reinen. Der Anschlag wurde bald darauf ab- und im Laden einige Veränderungen vorgenommen. Wir befanden uns in einem vollständigen Erwartungsfieber – wir erschöpften uns in Vermuthungen, – stellten uns alle möglichen Handelsgeschäfte nach der Reihe vor, und keines wollte vollkommen mit unserer fixen Idee übereinstimmen, daß dieser Miethsladen nothwendig nach und nach zu Grunde gehen müsse. Endlich wurde er eröffnet, und wir mußten uns nicht wenig wundern, daß uns seine nunmehrige wirkliche Gestaltung nicht früher beigefallen war. Der Laden – zu seinen bessern Zeiten schon keiner der größten – war nun in zwei verwandelt; den einen hatte ein Hutformenschneider inne, den andern ein Tabakshändler, der auch Spazierstöcke und Sonntagsblätter hielt. Die beiden Abtheilungen waren durch eine dünne Tapetenwand von einander getrennt.

 

Der Tabakshändler blieb länger im Besitze als irgend ein Miethsmann aus unserer Erinnerung. Er war ein schamloser, nichtsnutziger Kerl, mit einem Kupfergesicht; augenscheinlich gewohnt, alles anzunehmen, wie es kam, und zum schlechten Spiele gute Miene zu machen. Er verkaufte so viele Cigarren, als er konnte, und rauchte die übrigen selbst; dabei behauptete er seinen Laden so lange, als ihm der Hausbesitzer Frieden ließ, und so bald dieß aufhörte, schloß er ganz ruhig die Thüre und ging davon.

Von dieser Zeit an waren die beiden kleinen Höhlen unzähligen Veränderungen unterworfen. Auf den Tabakshändler folgte ein Haarkräusler, der die Fenster mit einer großen Mannigfaltigkeit von »Charakteren« und schrecklichen Schlachten verzierte; der Hutformenschneider machte einem Gewürzhändler Platz, und der hanswurstartige Haarkünstler hatte einen Schneider zum Nachfolger. Kurz, der Wechsel war so zahlreich, daß wir zuletzt weiter nichts zu thun hatten, als die besonderen aber sicheren Anzeigen zu beobachten, daß das Haus der Schauplatz der Armseligkeit war. Diese hatte auch in der That fast unbegreifliche Fortschritte gemacht. Die Bewohner traten nach und nach Zimmer für Zimmer ab, so daß sie sich zuletzt blos noch das kleine Wohnzimmer vorbehielten.

Zuerst zeigte sich an der Hausthüre eine Messingplatte, auf der leserlich geschrieben war: »Damenschule«; gleich daneben bemerkten wir eine zweite Messingplatte; dann eine Glocke und noch eine zweite Glocke.

So oft wir vor diesem unserm alten Freunde stille hielten, und diese Zeichen seines Verfalles beobachteten, die nicht fehlgedeutet werden konnten, so dachten wir beim Fortgehen, daß dieses Haus auf dem äußersten Gipfel seiner Erniedrigung angelangt sei. Wir hatten aber nicht Recht, denn als wir neulich vorübergingen, war eine »Melkerei« auf dem Hofe errichtet, und eine Partie schwermüthig aussehenden Geflügels unterhielt sich damit, zur Vorderthüre hinein und zur Hinterthüre heraus zu spazieren.

Viertes Kapitel
Scotland-Yard.

Scotland-Yard ist ein kleiner – ein sehr kleiner Strich Landes, auf der einen Seite durch die Themse, auf der andern durch die Gärten von Northumberland House begrenzt, und am einen Ende an den Anfang der Northumberland Street, am andern an die Rückseite von Whitehall-Place stoßend. Als dieses Gebiet zuerst von einem Landedelmann, der sich auf dem Strand verirrt hatte, vor mehreren Jahren zufälligerweise entdeckt worden war, ergab sich, daß die ersten Ansiedler ein Schneider, ein Zolleinnehmer, zwei Speisewirthe und ein Obstpastetenbäcker waren; auch ergab sich, daß der Platz von einem kräftigen Schlage Männer besucht wurde, welche regelmäßig jeden Morgen zwischen fünf und sechs Uhr auf den Löschplätzen von Scotland-Yard erschienen, um schwere Wagen mit Kohlen zu beladen, welche sie in die Umgegend verführten, um die Einwohner mit dem nöthigen Brennstoffe zu versehen. Wenn sie ihre Wagen abgeladen hatten, fuhren sie wieder zurück, um neuen Succurs zu holen, und dieser Handel dauerte das ganze Jahr hindurch fort.

Da die Ansiedler diesen ersten Handelsleuten ihre Bedürfnisse lieferten, um ihren Unterhalt dadurch zu gewinnen, so sah man es den zum Verkauf ausgestellten Gegenständen und den Verkaufsplätzen von Außen deutlich an, daß sie ausdrücklich dem Geschmack und dem Wunsche derselben angemessen waren. Der Schneider legte an seinem Fenster ein liliputisches Paar Ledergamaschen und eine runde Miniaturjacke aus, während jeder Thürpfosten mit einem angemessenen Modell eines Kohlensacks verziert war. Die beiden Speisewirthe stellten ZiemerA4 von einer Größe und Puddinge von einer Solidität aus, welche nur Kohlenträger zu schätzen vermögen, und der Obstpastetenbäcker entfaltete auf seinem wohlgescheuerten Fenstergesimse weißes Backwerk aus feinem Mehl und Bratenfett, mit fleischfarbenen Karten dekorirt, welche das Obst, das darin war, auf eine Weise anpriesen, daß den Vorübergehenden der Mund wässerte und die Füße beinahe den Dienst aufkündeten.

Aber der besuchteste Platz in ganz Scotland-Yard war das alte Wirthshaus im Winkel. Hier saßen in einem dunklen getäfelten Zimmer von altväterischem Aussehen, das durch die Flamme eines gewaltigen Feuers erheitert wurde und mit einer ungeheuren Uhr geziert war, welche ein weißes Zifferblatt mit schwarzen Figuren hatte, die kräftigen Kohlenträger, lange Züge des besten Barkleytabaks in sich trinkend und Rauchmassen hervorstoßend, welche sich über ihren Köpfen kräuselten und das Zimmer in eine dichte, finstere Wolke einhüllten. Von diesem Gemach aus drang der Laut ihrer Stimmen in einer Winternacht bis an das Ufer des Stroms, wenn sie einen vollen Chor anstimmten oder den Schlußreim eines Volksliedes brüllten, auf den letzten wenigen Worten mit einem starken, lang gehaltenen Nachdruck verweilend, welcher die Decke über ihnen erbeben machte.

Hier erzählten sie sich auch alte Legenden von dem, was die Themse in früheren Zeiten gewesen, als die Patentschrotfabrik noch nicht erbaut war und noch Niemand an die Waterloobrücke dachte; und dann schüttelten sie zur großen Erbauung des nachwachsenden Kohlenträgergeschlechts, das um sie versammelt war, mit bedeutsamen Blicken die Köpfe und waren begierig, was das Alles noch für ein Ende nehmen würde; worauf der Schneider seine Pfeife feierlich aus dem Mund nahm und sagte: er hoffe, es möchte ein gutes Ende nehmen, obgleich es sehr zweifelhaft wäre, ob dieß der Fall sein würde oder nicht; und er könne nicht mit Bestimmtheit angeben, was er davon denken solle – eine geheimnißvolle Meinungsäußerung, und dazu mit einer halb prophetischen Miene vorgebracht, welche nicht ermangelte, der versammelten Gesellschaft ihre vollste Beistimmung zu entlocken. Und so tranken sie denn und waren begierig, bis die zehnte Stunde herbeikam und mit ihr des Schneiders Ehefrau, um ihren Gemahl heim zu holen, worauf denn die kleine Gesellschaft aufbrach, um am folgenden Abend zur nämlichen Stunde in der nämlichen Stube wieder zusammen zu kommen und wieder ganz das Nämliche zu sprechen und zu thun.

Um diese Zeit begannen die Barken, welche den Fluß heraufkamen, unbestimmte Gerüchte nach Scotland-Yard zu bringen, es habe Jemand in der Stadt davon reden hören, daß der Lordmayor einige Worte habe fallen lassen, als wolle er die alte Londoner Brücke abbrechen und eine neue aufrichten. Anfangs achtete man wenig auf diese Gerüchte; man hielt sie für müßige Mährchen, die aller Begründung ermangelten, denn in Scotland-Yard zweifelte Niemand daran, der Lordmayor würde, wenn er solche schwarze Pläne hegte, unfehlbar acht bis vierzehn Tage lang in den Tower gesetzt und dann wegen Hochverrats hingerichtet werden.

Nach und nach jedoch wurden die Berichte bestimmter und häufiger, und endlich brachte eine Barke, die mit unzähligen ChaldronsF1 der besten WallsendkohlenA5 beladen war, die positive Nachricht, daß mehrere Bogen der alten Brücke bereits gesperrt wären und die Vorbereitungen zu einer neuen ihren Fortgang nähmen. Welch' eine Aufregung zeigte sich an diesem denkwürdigen Abend in der alten Schenkstube! Jeder sah seinem Nachbar in das schreckensbleiche Gesicht und las darin den Abdruck der Gefühle, die seine eigene Brust schwellten. Der älteste anwesende Kohlenträger suchte darzuthun, daß im Augenblicke, wo man die Pfeiler abtrüge, alles Wasser der Themse rein verschwinden würde, um das Bette trocken liegen zu lassen. Was sollte aus den Kohlenbarken, aus dem Handel von Scotland-Yard, aus der ganzen Existenz seiner Bevölkerung werden? Der Schneider schüttelte den Kopf mit einer weiseren Miene, als gewöhnlich, und sagte, finster auf ein vor ihm liegendes Messer deutend, sie mögen nur der Dinge warten, die da kommen sollen; er sage nichts – gar nichts; aber wenn der Lordmayor als ein Opfer der Volkswuth fallen sollte, so würde es ihn nicht sehr Wunder nehmen, und damit Punktum.

Sie warteten; Barke um Barke kam an und immer noch keine Nachricht von der Ermordung des Lordmayors. Der Grundstein war gelegt; es war durch einen Herzog – des Königs Bruder geschehen. Jahre gingen vorüber, und die Brücke ward von dem Könige selbst eingeweiht. Im Laufe der Zeit wurden die Pfeiler abgetragen; und als die Bewohner von Scotland-Yard am folgenden Morgen in der zuversichtlichen Erwartung hinauf gingen, trockenen Fußes nach Pedlar's Acre hinüber zu kommen, fanden sie zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen, daß das Wasser immer noch an derselben Stelle war, an der es von jeher gewesen.

Ein Resultat, das von demjenigen, welches sie von dieser ersten Verbesserung unfehlbar erwartet hatten, so unendlich weit abwich, übte seine volle Wirkung auf die Einwohner von Scotland-Yard. Einer von den Speisewirthen begann der öffentlichen Meinung zu huldigen und sich in der neuen Klasse der Bevölkerung nach Kunden umzusehen. Er legte weiße Tischtücher auf seine kleinen Speisetafeln und gewann einen Malerlehrling, der ihm etwas »von warmen Fleischspeisen zwischen zwölf und zwei Uhr« auf eine der kleinen Scheiben seines Ladenfensters malen mußte. Die Verbesserung schritt rasch bis an die Schwelle von Scotland-Yard vor. Ein neuer Markt erhob sich zu Hungerford und die Polizeicommissäre errichteten ihr Bureau auf dem Whitehall-Place. Der Handel in Scotland-Yard nahm zu; die Zahl der Abgeordneten in das Haus der Gemeinen wurde vermehrt, die Repräsentanten der Hauptstadt fanden, daß der Weg über Scotland-Yard näher sei, und eine Menge Fußgänger folgten ihrem Beispiele.

Wir bemerkten die Fortschritte der Civilisation und betrachteten sie mit einem Seufzer. Der Speisewirth, welcher der Neuerung mit den Tischtüchern einen so mannhaften Widerstand entgegengesetzt hatte, verlor jeden Tag mehr Boden, während sein Gegner ihn eroberte, und eine tödtliche Fehde entbrannte zwischen Beiden. Der Vornehmere nahm seinen Abendtrunk nicht mehr in Scotland-Yard, sondern wässerte seinen Wachholder in einem »Gastzimmer« der Parlamentsstraße. Der Obstpastetenbäcker besuchte immer noch die alte Stube, aber er rauchte jetzt Cigarren, nannte sich Tortenkoch und las die Zeitung. Die alten Kohlenträger versammelten sich noch um die alte Feuerstätte, aber ihr Gespräch war düster, und der laute Gesang und das fröhliche Geschrei ließ sich nicht mehr hören.

Und was ist Scotland-Yard jetzt? Wie haben sich seine alten Gewohnheiten verändert; und wie ist die alte Einfalt seiner Bewohner hinweggestorben! Das alte, baufällig gewordene Wirthshaus ist in ein geräumiges und hohes »Weingewölbe« verwandelt; bei den Buchstaben, welche die Außenseite verzieren, ist goldenes Laub verwendet und die Dichtkunst in Requisition gesetzt worden, um die Gäste darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich nach dem Genusse einer gewissen Art von Ale fest am Geländer halten müßten. Der Schneider hat an seinem Fenster ein Exemplar von einem ausländisch aussehenden, braunen Ueberrock mit seidenen Knöpfen, einem Pelzkragen und ditto Aufschlägen ausgehängt. Er trägt Streifen auf beiden Seiten seiner Beinkleider, und wir sahen seine Gehülfen (denn er hat jetzt Gehülfen) in derselben Uniform auf dem Schneiderstisch sitzen.

Am andern Ende der kleinen Häuserreihe hat sich ein Stiefelmacher in einem backsteinernen Häuschen, das seit neuerer Zeit mit einem ersten Stocke versehen ist, etablirt, und hier stellt er Stiefel – leibhafte Wellingtonstiefel – einen Artikel, von dem noch vor wenigen Jahren Keiner von den Ureinwohnern je etwas gesehen noch gehört hatte, zum Verkauf aus. In den jüngsten Tagen hat auch ein Damenkleidermacher eine kleine Bude mitten in der Häuserreihe aufgeschlagen, und als wir schon der Meinung waren, der Geist der Neuerung könne keine höhere Veränderung mehr hervorbringen, erschien gar noch ein Juwelier, der, nicht zufrieden, eine Unzahl vergoldeter Ringe und messingener Armspangen auszustellen, eine Karte aufsteckte, die noch an seinem Fenster zu sehen ist, des Inhalts: »hier werden den Damen die Ohrenringlöcher gestochen.« Der Damenkleidermacher hat eine junge Dame in seinen Diensten, welche eine Schürze mit Taschen trägt; und der Schneider benachrichtigt das Publikum, daß sich die Herren hier Kleider machen lassen können, wenn sie das Tuch dazu geben.

 

Mitten unter diesen wechselvollen, rastlosen Neuerungen steht nur noch ein alter Mann, der den Verfall des alten Platzes zu betrauern scheint. Er unterhält sich mit keiner Seele, sondern beobachtet auf einer hölzernen Bank in der Ecke der Mauer, welche mit dem Querweg von Whitehall-Place parallel läuft, stillschweigend die Sprünge seiner glatten, wohlgefütterten Hunde. Es ist der Genius loci von Scotland-Yard. Jahre und Jahre sind über seinem Haupte dahingerollt; aber bei gutem oder schlechtem, warmem oder kaltem, nassem oder trockenem Wetter, bei Hagel, Regen oder Schnee sitzt er immer an seinem gewohnten Platze. Elend und Mangel liegen auf seinem Gesichte; seine Gestalt ist vom Alter gebeugt, sein Haar von langer Trübsal grau, aber dort sitzt er Tag für Tag, brütend über der Vergangenheit; und hin wird er seine wankenden Glieder schleppen, bis sich seine Augen über Scotland-Yard und über der ganzen Welt geschlossen haben werden.

Noch einige Jahre, und der Alterthumsforscher einer anderen Generation mag bei Durchlesung einer modernden Chronik der Streitigkeiten und Leidenschaften, welche die Welt in diesen Zeiten bewegt haben, auch einen Seitenblick auf die Blätter werfen, die wir so eben ausgefüllt: denn bei all' seiner Kenntniß der Geschichte der Vergangenheit helfen ihm seine Stubengelehrtheit oder Belesenheit, alle trockene Studien eines langen Lebens oder die staubbedeckten Bände, die ihn ein Vermögen gekostet haben, nicht zu demjenigen Wissen, das man hier von Scotland-Yard oder irgend einem von den Gränzpunkten, die wir bei der Schilderung desselben angeführt haben, zu erwerben Gelegenheit hat.

1 Ein Kohlenmaaß von 36 Scheffeln.

1 Ziemer: Rückenbraten

2 Wallsendkohlen: Wallsend: eine Stadt in Nordengland

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