Scrooge hatte oft sagen gehört, Marley habe kein Herz, aber
erst jetzt glaubte er es.
Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obgleich er das
Gespenst durch und durch und vor sich stehen sah, obgleich er
den erkältenden Schauer seiner totenstarren Augen fühlte und
selbst den Stoff des Tuches erkannte, das ihm um Kopf und
Kinn gebunden war und das er früher nicht bemerkt hatte, war er
dennoch ungläubig und sträubte sich gegen das Zeugnis seiner
Sinne.
»Nun«, sagte Scrooge, scharf und kalt wie gewöhnlich, »was
wol t Ihr?«
»Viel!« Das war Marleys Stimme.
»Wer seid Ihr?«
»Fragt mich, wer ich war.«
»Fragt mich, wer ich war.«
»Nun, wer wart Ihr?« fragte Scrooge lauter. »Für einen Schatten
seid Ihr ja sonderbar.«
»Als ich lebte, war ich Euer Kompagnon, Jacob Marley.«
»Könnt Ihr Euch setzen?« fragte Scrooge und sah ihn zweifelnd
an.
»Ich kann es.«
»So tut's.«
Scrooge fragte nur, weil er nicht wußte, ob sich ein so
durchsichtiger Geist setzen könne, und er fühlte die
Notwendigkeit einer unangenehmen Erklärung, wenn es ihm nicht
möglich wäre. Aber der Geist setzte sich auf der anderen Seite
des Kamins nieder, als sei er so gewohnt.
»Ihr glaubt nicht an mich?« fragte der Geist.
»Nein«, sagte Scrooge.
»Welches Zeugnis, außer dem Eurer Sinne, wollt Ihr von meiner
Wirklichkeit haben?«
»Ich weiß nicht«, sprach Scrooge.
»Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?«
»Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?«
»Weil sie die geringste Kleinigkeit stört«, entgegnete Scrooge.
»Eine kleine Unpäßlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern.
Ihr könnt ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen,
ein Stückchen schlechter Kartoffeln sein.
15
Wer Ihr auch sein möget, Ihr habt mehr vom Unterleib, als von
der Unterwelt an Euch.«
Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit, Witze zu machen, auch
fühlte er eben jetzt keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist,
daß er sich bestrebte lustig zu sein, um s ich zu erleichtern und
sein Entsetzen niederzuhalten; denn die Stimme des Geistes ließ
ihn bis ins Mark erzittern.
Diesen starren, toten Augen nur einen Augenblick schweigend
gegenüberzusitzen, wäre teuflisch gewesen, das fühlte Scrooge
wohl. Auch daß das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre
hatte, war so grauenerregend.
Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch mußte es so sein; denn
obgleich das Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich
sein Haar, seine Rockschöße und seine Stiefeltroddeln wie von
dem heißen Dunst eines Ofens.
»Ihr seht diesen Zahnstocher«, sprach Scrooge, seinen Angriff
aus dem eben angeführten Grunde sogleich aufs neue beginnend
und von dem Wunsch beseelt, den starren, eisigen Blick des
Gespenstes, wenn auch nur für einen Augenblick, von sich
abzulenken.
»Ja«, antwortete der Geist.
»Ihr schaut ihn ja nicht an«, sagte Scrooge.
»Aber ich sehe ihn trotzdem«, sprach das Gespenst.
»Gut denn«, antwortete Scrooge. »Ich brauche ihn nur
hinunterzuschlucken und mein ganzes übriges Leben hindurch
verfolgen mich eine Legion Kobolde, die ich selbst erschaffen
habe. Dummes Zeug, sag ich, dummes Zeug!«
Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen markerschütternden
Schrei aus und ließ seine Kette so grauenerregend und
fürchterlich klirren, daß sich Scrooge fest an seinen Stuhl halten
mußte, um nicht ohnmächtig herunterzufallen. Aber wie wuchs
sein Entsetzen, als das Gespenst das Tuch von dem Kopfe
nahm, als wär es ihm zu warm im Zimmer, so daß der
Unterkiefer auf die Brust herunterklappte.
Scrooge fiel auf die Knie nieder und schlug die Hände vors
Gesicht.
»Gnade!« rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum verfolgst du
mich?«
»Mensch mit dem irdisch gesinnten Verstand«, entgegnete der
Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«
16
»Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muß glauben. Aber warum
»Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muß glauben. Aber warum
wandeln Geister auf Erden, und warum kommen sie zu mir?«
»Von jedem Menschen wird verlangt, daß seine Seele unter
seinen Mitmenschen wandle, in die Ferne und in die Nähe«,
antwortete der Geist; »und wenn die Seele dies während des
Lebens nicht tut, so ist sie verdammt, es nach dem Tode zu tun.
Man ist verdammt, durch die Welt zu wandern - ach, wehe mir!
- und zu sehen, was man nicht teilen kann, was man aber auf
Erden hätte teilen können und zu seinem Glück anwenden sol
en.«
Und wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus und schüttelte
seine Ketten und rang die schattenhaften Hände.
»Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd. »Sage mir, warum?«
»Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens
geschmiedet habe«, sprach der Geist. »Ich schmiedete sie Glied
für Glied und Elle für Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud
ich sie mir auf, und mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie.
Ihre Glieder kommen dir seltsam vor?«
Scrooge zitterte mehr und mehr.
»Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und
wie lang die Kette ist, die du selber trägst? Sie war gerade so
lang und so schwer wie diese hier, vor sieben Weihnachten.
Seitdem hast du daran gearbeitet! Es ist eine schwere Kette.«
Seitdem hast du daran gearbeitet! Es ist eine schwere Kette.«
Scrooge sah auf den Boden hinab, in der Erwartung, sich von
fünfzig oder sechzig Ellen Eisenkette umschlungen zu sehen; aber
er sah nichts.
»Jacob«, sagte er flehend. »Jacob Marley, sage mir mehr. Sprich
mir Trost zu, Jacob.«
»Ich habe keinen Trost zu geben«, antwortete der Geist. »Er
kommt von andern Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von
andern Boten zu andern Menschen gebracht. Auch kann ich dir
nicht sagen, was ich dir sagen möchte.
Ein klein wenig mehr ist alles, was mir erlaubt ist. Nirgends kann
ich rasten oder ruhen. Mein Geist ging nie über unser Kontor
hinaus - merke wohl auf - im Leben blieb mein Geist immer in
den engen Grenzen unsrer schachernden Höhle; und weite
Reisen liegen noch vor mir.«
Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die
Hand in die Hosentasche zu stecken.
Über das nachsinnend, was der Geist sagte, tat er es auch jetzt,
aber ohne die Augen zu erheben oder vom Stuhl aufzustehen.
»Du mußt dir aber viel Zeit gelassen haben, Jacob«, bemerkte er
im Ton eines Geschäftsmannes, obgleich mit viel Demut und
Ehrerbietung.
Ehrerbietung.
»Viel Zeit!« wiederholte der Geist.
»Sieben Jahre tot«, sagte sinnend Scrooge. »Und die ganze Zeit
über gereist.«
»Die ganze Zeit«, sagte der Geist. »Ohne Frieden, ohne Ruhe
und mit den Qualen ewiger Reue.«
»Du reisest schnel «, sagte Scrooge.
»Auf den Schwingen des Windes«, sagte der Geist.
17
»Du hättest eine große Strecke in sieben Jahren bereisen
können«, sagte Scrooge.
Als der Geist dies hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und
klirrte so gräßlich mit seiner Kette durch das Grabesschweigen
der Nacht, daß ihn die Polizei mit vollem Recht wegen
Ruhestörung hätte bestrafen können.
»Oh, gefangen und gefesselt«, rief das Gespenst, »nicht zu
wissen, daß Zeitalter von unaufhörlicher Arbeit unsterblicher
Geschöpfe vergehen, ehe sich das Gute, dessen die Erde fähig
ist, entwickeln kann. Nicht zu wissen, daß jeder christliche Geist
dieses Erdenleben zu kurz finden wird, um alles Nützliche zu tun,
dieses Erdenleben zu kurz finden wird, um alles Nützliche zu tun,
und wenn er auch in einem noch so kleinen Kreise wirkt. Aber
ich wußte es nicht, ach, ich wußte es nicht!«
»Aber du warst immer ein guter Geschäftsmann, Jacob«,
stotterte Scrooge zitternd, der jetzt anfing, das Schicksal des
Geistes auf sich selbst zu beziehen.
»Geschäft!« rief das Gespenst, seine Hände abermals ringend.
»Der Mensch wäre mein Geschäft gewesen! Das al gemeine
Wohl wäre mein Geschäft gewesen! Barmherzigkeit,
Versöhnlichkeit und Liebe, alles das wäre mein Geschäft
gewesen! Al es, was ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein
kleiner Tropfen Wasser im weiten Ozean meines Geschäfts!«
Er hielt seine Kette vor sich hin, als ob sie die Ursache seines
nutzlosen Schmerzes gewesen wäre, und warf sie abermals
dumpfdröhnend nieder.
»Zu dieser Zeit des schwindenden Jahres«, sagte das Gespenst,
»leide ich am meisten. Warum ging ich mit zur Erde gehefteten
Augen durch die Schar meiner Mitmenschen und wendete
meinen Blick nie zu dem gesegneten Stern empor, der die
Weisen zur Wohnung der Armut führte? Gab es keine arme
Hütte, wohin mich sein Licht hätte leiten können?«
Scrooge hörte mit Entsetzen das Gespenst so reden und fing an
gewaltig zu zittern.
»Höre mich«, mahnte der Geist. »Meine Zeit ist halb vorbei.«
»Ich höre«, hauchte Scrooge. »Aber mach es gnädig mit mir!
Werde nicht hitzig, Jacob, ich bitte dich.«
»Wie es kommt, daß ich in einer dir sichtbaren Gestalt vor dich
treten kann, das weiß ich nicht. Viele, viele Tage habe ich
unsichtbar neben dir gesessen.«
Das war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte und
wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Es ist kein leichter Teil meiner Sühne«, fuhr der Geist fort.
»Heute nacht komme ich zu dir, um dich zu warnen, da du noch
die Möglichkeit hast, meinem Schicksal zu entgehen. Eine
Möglichkeit und eine Hoffnung, die du mir zu verdanken hast.«
»Du bist immer mein guter Freund gewesen«, murmelte Scrooge.
»Ich danke dir.«
»Drei Geister«, fuhr das Gespenst fort, »werden zu dir
kommen.« Bei diesen Worten wurde Scrooges Angesicht fast so
unglücklich wie das des Gespenstes.
»Ist das die Möglichkeit und die Hoffnung, die du genannt hast,
Jacob?« fragte er mit bebender Stimme.
18
»Ja.«
»Ich - ich möchte lieber nicht«, sagte Scrooge.
»Ohne ihr Kommen«, sagte der Geist, »kannst du nicht hoffen,
den Pfad zu vermeiden, dem ich nun folgen muß. Erwarte den
den Pfad zu vermeiden, dem ich nun folgen muß. Erwarte den
ersten morgen früh, wenn die Glocke eins schlägt.«
»Könnte ich sie nicht al e miteinander hinter mich bringen?«
meinte Scrooge.
»Erwarte den zweiten in der nächsten Nacht um dieselbe Stunde.
Den dritten in der darauffolgenden Nacht, wenn der letzte Schlag
der zwölften Stunde verklungen ist. Schau mich an, denn du
siehst mich nicht wieder; und schau mich an, damit du dich um
deinetwillen an das erinnerst, was zwischen uns vorgefallen ist.«
Als es diese Worte gesprochen hatte, nahm das Gespenst das
Tuch vom Tisch und band es sich wieder um den Kopf. Scrooge
merkte es am Geräusch der Zähne, als die Kinnladen
zusammenklappten. Er wagte, die Augen zu erheben, und sah
seinen übernatürlichen Besuch vor sich stehen, die Augen noch
starr auf ihn geheftet und die Kette um Leib und Arme
gewunden.
Die Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend, und bei jedem
Schritt öffnete sich das Fenster ein wenig, so daß es weit offen
stand, als das Gespenst es erreicht hatte. Es winkte Scrooge,
näher zu kommen, und er tat es. Als sie noch zwei Schritte
voneinander entfernt waren, hob Marleys Geist die Hand und
gebot ihm, nicht näher zu kommen. Scrooge stand still. Mehr aus
Überraschung und Furcht, als aus Gehorsam, denn wie sich die
gespenstige Hand erhob, hörte er verwirrte Klänge durch die
Luft schwirren und unzusammenhängende Töne der Klage und
Luft schwirren und unzusammenhängende Töne der Klage und
des Leides, unsäglich schmerzlich und reuevoll. Das Gespenst
hörte eine Weile zu und stimmte dann in das Klagelied ein; dann
schwebte es in die dunkle, kalte Nacht hinaus.
Scrooge trat an das Fenster, von Neugier fast zur Verzweiflung
getrieben. Er sah hinaus.
Die Luft war mit Schatten angefül t, die in ruheloser Hast klagend
hin und her schwebten. jeder trug eine Kette wie Marleys Geist;
einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich
schlechte Minister), keiner war ganz 19
fessel os. Viele waren Scrooge während ihres Lebens bekannt
gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen
Weste gekannt, der einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter
sich herschleppte und jämmerlich schrie, einer armen, alten Frau
mit einem Kind nicht beistehen zu können, die unten auf einer
Türschwel e saß. Man sah es deutlich, ihre Pein war, sich
umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu tun und
die Macht dazu auf immer verloren zu haben.
Ob diese Wesen in dem Nebel zergingen oder ob sie der Nebel
einhül te, wußte er nicht zu sagen. Aber sie und ihre
Gespensterstimmen vergingen gleichzeitig, und die Nacht wurde
wieder so, wie sie auf seinem Nachhauseweg gewesen war.
Scrooge schloß das Fenster und untersuchte die Tür, durch die
Scrooge schloß das Fenster und untersuchte die Tür, durch die
das Gespenst eingetreten war. Sie war noch verschlossen und
verriegelt wie vorher. Er versuchte zu sagen: »Dummes Zeug«,
blieb aber bei der ersten Silbe stecken, und da er von der innern
Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages, oder von
seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder von der
Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr
erschöpft war, ging er sogleich ins Bett, ohne sich auszuziehen,
und sank sofort in Schlaf.
20
Zweite Strophe
Der erste Geist
Als Scrooge wieder erwachte, war es so finster, daß er das
Fenster kaum von den Wänden seines Zimmers unterscheiden
konnte. Er bemühte sich, die Finsternis mit seinen Katzenaugen
zu durchdringen, als die Glocke eines Turmes in der
Nachbarschaft mit vier Viertelschlägen die volle Stunde
ankündigte. Er lauschte, um die Stundenschläge zu hören.
Zu seinem großen Erstaunen schlug die Glocke fort, von sechs zu
sieben, von sieben zu acht und so weiter bis zwölf; dann schwieg
sie.
Zwölf! Es war zwei vorübergewesen, als er sich zu Bett gelegt
hatte. Das Uhrwerk mußte falsch gehen.
Ein Eiszapfen mußte zwischen die Räder gekommen sein. Zwölf!
Er drückte an die Feder seiner Repetieruhr, um die verrückte
Glocke zu kontrol ieren. Ihr kleiner lebhafter Puls schlug zwölf
und schwieg.
»Was! Das ist doch nicht möglich«, sagte Scrooge. »Ich sol den
ganzen Tag und bis tief in die andere Nacht hinein geschlafen
ganzen Tag und bis tief in die andere Nacht hinein geschlafen
haben? Es kann doch nicht sein, daß der Sonne etwas passiert
und es mittags um zwölf ist?«
Mit diesen unruhigen Gedanken beschäftigt, stieg er aus dem
Bett und tappte nach dem Fenster. Er mußte das Eis erst
wegkratzen und das Fenster mit dem Ärmel seines Schlafrockes
abwischen, ehe er etwas sehen konnte; und auch nachher konnte
er nur sehr wenig sehen. Alles, was er bemerkte, war, daß es
noch sehr neblig und sehr kalt war, und daß man nicht den Lärm
hin und her eilender Leute hörte, was doch gewiß vernehmbar
gewesen wäre, wenn Nacht plötzlich den hellen Tag vertrieben
und von der Welt Besitz genommen hätte.
Das war ein großer Trost, weil Bedingungen wie »Drei Tage
nach Sicht bezahlen Sie diesen Primawechsel an Mr. Ebenezer
Scrooge oder dessen Order«
und so weiter bloße Vereinigte-Staaten-Sicherheiten wären,
wenn es keine Tage mehr gab, um danach zu zählen.
Scrooge legte sich wieder ins Bett und dachte darüber nach,
konnte aber zu keinem Schluß kommen. Je mehr er nachdachte,
desto verwirrter wurde er, und je mehr er sich bemühte nicht
nachzudenken, desto mehr dachte er nach.
Marleys Geist machte ihm viel zu schaffen. Immer, wenn er nach
reiflicher Überlegung zu dem festen Entschluß gekommen war,
das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine
das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine
starke vom Druck befreite Feder wieder in die alte Lage zurück
und legte ihm erneut dieselbe Frage vor, die er schon zehnmal
überlegt hatte: »War es ein Traum oder nicht?«
Scrooge blieb in diesem Zustand liegen, bis es wieder drei
Viertel schlug. Da besann er sich plötzlich, daß der Geist ihm
eine Erscheinung mit dem Schlag eins versprochen hatte. So
beschloß er wach zu bleiben, bis die Stunde vorüber sei, und
wenn man bedenkt, daß er ebensowenig schlafen, als in den
Himmel kommen konnte, war dies gewiß der klügste Entschluß,
den er fassen konnte.
21
Die Viertelstunde war so lang, daß es ihm mehr als einmal
vorkam, er müsse unversehens in Schlaf gefal en sein und die
Uhr überhört haben. Endlich vernahm sein lauschendes Ohr die
Glocke.
»Bim, bam!«
»Ein Viertel«, sagte Scrooge zählend.
»Bim, bam!«
»Halb«, sagte Scrooge.
»Bim, bam!«
»Bim, bam!«
»Drei Viertel«, sagte Scrooge.
»Bim, bam!« »Voll!« rief Scrooge freudig. »Und weiter nichts!«
Er sprach das, ehe die Stundenglocke schlug, was sie jetzt mit
einem tiefen, hohlen, melancholischen Klang tat. In demselben
Augenblick wurde es hel im Zimmer, und die Vorhänge seines
Bettes wurden geöffnet.
Ich sage euch, die Vorhänge seines Bettes wurden von einer
Hand weggezogen, und sich aufrichtend blickte Scrooge dem
unirdischen Gast, der sie geöffnet hatte, in das Gesicht. So dicht
stand er ihm gegenüber, wie ich jetzt im Geist neben euch stehe.
Es war eine sonderbare Gestalt, gleich einem Kind, aber doch
eigentlich nicht gleich einem Kind, sondern mehr wie ein Greis,
der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er dem
Auge entrückt und auf diese Weise so klein geworden wie ein
Kind. Sein Haar, das in langen Locken auf seine Schultern
herabwal te, war weiß, wie vom Alter, und dennoch hatte das
Gesicht keine einzige Runzel, und um das Kinn bemerkte man
den zartesten Flaum. Die Arme waren lang und muskulös, die
Hände ebenso, als läge in ihnen eine ungeheure Kraft. Seine
Füße, zart und fein geformt, waren entblößt, gleich den Armen.
Der Geist trug einen Talar vom reinsten Weiß; um seinen Leib
schlang sich ein Gürtel von wunderbarem Glanz. Er hielt einen
frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem
frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem
Widerspruch mit diesem Zeichen des Winters war das Kleid mit
Sommerblumen verziert. Das Wunderbarste aber war, daß von
seinem Scheitel ein heller Lichtstrahl in die Höhe schoß, der al es
ringsum erleuchtete, und der gewiß die Ursache war, daß der
Geist bei weniger guter Laune einen großen Löschhut, den er
jetzt unter dein Arm trug, als Mütze aufsetzte.
Aber selbst dies war nicht seine seltsamste Eigenschaft. Denn
wie der Gürtel des Geistes bald an dieser Stelle glänzte und
funkelte und bald an jener, und wie das, was im Augenblick hell
gewesen war, plötzlich dunkel wurde, so verwandelte sich auch
die Gestalt selbst, man wußte nicht wie: bald war es ein Ding mit
einem Arm, bald mit einem Bein, bald mit zwanzig Beinen, bald
sah man nur zwei Füße ohne Kopf, bald einen Kopf ohne Leib;
und wie einer dieser Teile verschwand, blieb keine Spur von ihm
in dem dichten Dunkel zurück, das ihn verschlang. Und das
größte Wunder dabei war: die Gestalt blieb immer dieselbe.
»Sind Sie der Geist, dessen Erscheinung mir vorhergesagt
wurde?« fragte Scrooge.
22
»Ich bin es.«
Die Stimme war sanft und wohlklingend und so leise, als käme
sie nicht aus dichtester Nähe, sondern aus einiger Entfernung.
»Wer und was sind Sie?« fragte Scrooge, schon etwas mehr
Mut fassend.
»Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht.«
»Einer lange vergangenen?« fragte Scrooge, seiner zwerghaften
Gestalt gedenkend.
»Nein, einer deiner vergangenen.«
Vielleicht hätte Scrooge, wenn ihn jemand befragt hätte, nicht
sagen können, warum, aber doch fühlte er ein ganz besonderes
Verlangen, den Geist unter seinem Hut zu sehen; und er bat ihn,
sich zu bedecken.
»Was?« rief der Geist. »Willst du so bald mit irdisch gesinnter
Hand das Licht, das ich spende, verlöschen? Ist es nicht genug,
daß du einer von denen bist, deren Leidenschaften diese Mütze
geschaffen haben und mich zwingen, durch lange, lange Jahre
meine Stirn damit zu verhüllen?«
Scrooge entschuldigte sich ehrfurchtsvoll, er habe nicht die
Absicht gehabt, ihn zu beleidigen, und behauptete, nicht zu
wissen, daß er irgend einmal in seinem Leben dem Geist Ursache
gegeben habe, sich zu bedecken. Dann war er so frei, zu fragen,
was ihn hierher führe?
»Dein Wohl«, sagte der Geist.
»Dein Wohl«, sagte der Geist.
Scrooge drückte ihm seine Dankbarkeit aus, konnte sich aber
doch nicht des Gedankens erwehren, daß ihm eine Nacht
ungestörten Schlafes mehr genützt hätte. Der Geist mußte ihn
haben denken hören, denn er sagte sogleich:
»Deine Besserung. Nimm dich in acht!«
Er streckte seine starke Hand aus, als er dies sprach, und ergriff
sanft seinen Arm.
»Steh auf und folge mir.«
Vergebens würde Scrooge eingewendet haben, Wetter und
Stunde seien schlecht geeignet zum Spazierengehen, das Bett sei
warm und das Thermometer ein gutes Stück unter dem
Gefrierpunkt, er sei nur leicht in Pantoffeln, Schlafrock und
Nachtmütze gekleidet und habe gerade jetzt den Schnupfen.
Dem Griff, war er auch sanft wie der einer Frauenhand, war
nicht zu widerstehen. Er stand auf; aber als er sah, daß der Geist
nach dem Fenster schwebte, faßte er ihn flehend bei dem
Gewand.
»Ich bin ein Sterblicher«, sagte Scrooge, »und könnte fal en.«
»Laß meine Hand dich hier berühren«, sagte der Geist, indem er
die Hand auf das Herz legte, »und du wirst größere Gefahren
die Hand auf das Herz legte, »und du wirst größere Gefahren
überwinden, als diese hier.«
Als er diese Worte gesprochen hatte, drangen die beiden durch
die Wand und standen plötzlich im Freien auf der Landstraße,
rings von Feldern umgeben. Die Stadt war ganz verschwunden.
Keine Spur war mehr davon. Die Dunkelheit und der Nebel
waren mit ihr verschwunden, denn es war jetzt ein klarer, kalter
Wintertag und der Boden mit weißem reinem Schnee bedeckt.
»Gütiger Himmel!« rief Scrooge, die Hände faltend, als er um
sich blickte.
»Hier wurde ich geboren. Hier lebte ich als Knabe.«
23
Der Geist schaute ihn mit milden Blicken an. Seine sanfte
Berührung, obgleich sie nur leise und flüchtig gewesen war, bebte
immer noch nach in dem Herzen des alten Mannes. Er fühlte, wie
tausend Düfte die Luft durchwehten, jeder mit tausend
Gedanken und Hoffnungen und Freuden und Sorgen verbunden,
die lange, lange vergessen waren.
»Deine Lippen zittern«, sagte der Geist. »Und was glänzt auf
deiner Wange?«
Scrooge murmelte mit einem ungewöhnlichen Mollton in der
Stimme, es sei ein Wärzchen, und bat den Geist, ihn zu führen,
Stimme, es sei ein Wärzchen, und bat den Geist, ihn zu führen,
wohin er wol e.
»Erinnerst du dich des Weges?« fragte der Geist.
»Ob ich mich seiner erinnere?« rief Scrooge mit Innigkeit.
»Blindlings könnte ich ihn gehen!«
»Seltsam, daß du ihn so viele Jahre hindurch vergessen hast«,
sagte der Geist.
»Komm!«
Sie schritten den Weg entlang. Scrooge erkannte jedes Tor,
jeden Pfahl, jeden Baum wieder, bis ein kleiner Marktflecken in
der Ferne mit seiner Kirche, seiner Brücke und dem hellen Fluß
erschien. jetzt kamen einige Knaben, auf zottigen Ponies reitend,
auf sie zu, die anderen Knaben in ländlichen Wagen laut zuriefen.
Al e waren gar fröhlich und laut, bis die weiten Felder so voll
heiterer Musik waren, daß die kalte, sonnige Luft lachte, sie zu
hören.
»Dies sind nur Schatten der Dinge, die da gewesen sind,« meinte
der Geist,
»sie wissen nichts von uns.«
Die fröhlichen Reisenden kamen näher, und Scrooge erkannte
sie jetzt alle und konnte sie alle beim Namen nennen. Warum
freute er sich über alle Maßen, sie zu sehen, warum wurde sein
freute er sich über alle Maßen, sie zu sehen, warum wurde sein
kaltes Auge feucht, warum frohlockte sein Herz, als sie
vorübereilten, warum wurde sein Herz weich, wie sie an den
Kreuzwegen voneinander schieden und einander fröhliche
Weihnachten wünschten?
Was gingen denn Scrooge fröhliche Weihnachten an? Der
Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Welchen Nutzen hatte
er wohl jemals davon gehabt?
»Die Schule ist nicht ganz verlassen«, nahm der Geist wieder das
Wort. »Ein Kind, eine verlassene Waise, sitzt noch einsam dort.«
Scrooge sagte, er wisse es. Und er schluchzte.
Sie verließen nunmehr die Heerstraße auf einem wohlbekannten
Feldweg und erreichten bald ein Haus aus dunkelroten
Backsteinen mit einem kleinen Türmchen auf dem Dach und
einer Glocke drin. Es war ein großes Haus, aber jetzt
vernachlässigt und ziemlich verwahrlost, weil die geräumigen
Gemächer wenig gebraucht waren, die Wände feucht und grün,
die Fenster zerbrochen, die Türen morsch und halb zerfallen.
Hühner gluckten und scharrten in den Ställen, und der
Wagenschuppen war mit Gras überwachsen. Auch im Innern
war nichts übriggeblieben von seiner alten Pracht, denn als sie in
den verödeten Hausflur eintraten und durch die offenen Türen in
die vielen Zimmer blickten, sahen sie nur ärmlich ausgestattete,
kalte, große Räume. Ein erdiger, multriger Geruch lag in der Luft,
kalte, große Räume. Ein erdiger, multriger Geruch lag in der Luft,
eine frostige Unbehaglichkeit von allzu häufigem Aufstehen bei
Kerzenlicht und nicht al zu reichlichem Essen.
24
Der Geist ging mit Scrooge über den Hausflur nach einer Tür auf
der Rückseite des Hauses. Sie öffnete sich vor ihnen und zeigte
ihnen einen langen, kahlen, unbehaglichen Saal, den Reihen von
einfachen hölzernen Bänken noch kahler und unbehaglicher
machten.
Auf einer davon saß einsam ein Knabe neben einem schwachen
Feuer und las; und Scrooge setzte sich auf eine Bank nieder und
weinte, als er sein eigenes, vergessenes Selbst sah, wie es in
früheren Jahren war.
Kein dumpfer Widerhall in dem Haus, kein Rascheln der Mäuse
hinter dem Getäfel, kein Getröpfel des halbgefrorenen
Brunnentrogs hinten im Hof, kein Seufzer in den blattlosen
Zweigen einer verlassen trauernden Pappel, nicht das Knarren
der vom Wind hin und her bewegten Tür des Vorratshauses im
Hof, selbst nicht das Knistern des Feuers war für Scrooge
verloren. Alles fiel auf sein Herz wie erweichende Töne und löste
seine Tränen.
Der Geist berührte seinen Arm und wies auf sein jüngeres, in ein
Buch vertieftes Abbild. Plötzlich stand draußen vor dem Fenster
ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einer Axt im Gürtel und
ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einer Axt im Gürtel und
einen mit Holz beladenen Esel am Zaume führend.
»Was! Das ist ja Ali Baba!« rief Scrooge voller Freude aus. »Es
ist der alte, liebe, ehrliche Ali Baba. Ja, ja, ich weiß es noch.
Einst zur Weihnachtszeit geschah es, daß dieser verlassene
Knabe ganz allein hier saß, und er zum ersten Male wirklich
kam, gerade wie er dort steht. Der arme Junge! Und Valentin«,
fuhr Scrooge fort, »und auch sein wilder Bruder Orson, dort
gehen sie! Und wie heißt doch der, der mitten im Schlaf vor das
Tor von Damaskus gesetzt wurde?
Siehst du ihn nicht? Und der Stallmeister des Sultans, der von
den bösen Geistern auf den Kopf gestellt wurde, dort ist er ja
auch! Ha, ha, es geschieht ihm schon recht! Wer hieß es ihn
auch, die Prinzessin heiraten wol en!«
Scrooge mit vollem Ernst über solche Gegenstände reden zu
hören und mit einer zwischen Lachen und Weinen schwankenden
Stimme, dann auch sein vor Freude aufgeregtes Gesicht zu
sehen: das wäre für seine Geschäftsfreunde in der City gewiß
eine große Überraschung gewesen.
»Da ist ja auch der Papagei«, rief Scrooge, »der mit grünem Leib
und gelbem Schwanz, da ist er! Der arme Robinson, er rief ihn,
als er von seiner Inselumsegelung wieder nach Hause kam
›Robinson Crusoe, wo bist du gewesen?‹ Er glaubte, er träume,
aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen
aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen
Bucht. Es gilt das Leben. Hallo, hob, hal o!«
Dann sagte er mit einem schnel en Wechsel der Gefühle, der
seinem gewöhnlichen Charakter sehr fremd war: »Der arme
Knabe!«, und er weinte wieder. Dann wischte er sich mit dem
Ärmelaufschlag die Augen, steckte die Hand in die Tasche und
murmelte: »Ich wünschte - aber es ist jetzt zu spät.«
»Was willst du?« fragte der Geist.
»Nichts«, sagte Scrooge, »nichts. Gestern abend sang ein Knabe
ein Weihnachtslied vor meiner Tür. Ich wünschte, ich hätte ihm
etwas gegeben, weiter war es nichts.«
25
Der Geist lächelte gedankenvoll und winkte mit der Hand. Dann
sagte er: »Laß uns ein anderes Weihnachtsfest sehen.«
Scrooges früheres Selbst wurde bei diesen Worten größer, und
das Zimmer etwas finsterer und schwärzer, das Getäfel warf
sich, die Fensterscheiben sprangen, Stücke des Kalkbewurfs
fielen von der Decke und das bloße Lattenwerk zeigte sich: aber
wie das alles geschah, wußte Scrooge ebensowenig wie ihr. Er
wußte nur, daß alles stimmte und sich ganz so zugetragen habe,
und daß er's nun wieder sei, der dort al ein sitze, während die
andern Knaben nach Hause gereist waren zur fröhlichen
Weihnachtsfeier.
Weihnachtsfeier.
Er las nicht, sondern ging wie in Verzweiflung im Zimmer auf und
ab.
Scrooge blickte den Geist an und schaute mit einem traurigen
Kopfschütteln und in banger Erwartung nach der Tür.
Da ging sie auf und ein kleines Mädchen, viel jünger als der
Knabe, sprang herein, schlang die Arme um seinen Hals, küßte
ihn und begrüßte ihn als ihren
»lieben, lieben Bruder«.
»Ich komme, um dich mit nach Hause zu nehmen, lieber
Bruder!« sagte das Kind, fröhlich mit den Händen klatschend.
»Dich mit nach Hause zu nehmen, nach Hause, nach Hause!«
»Nach Hause, liebe Fanny?« fragte der Knabe.
»Ja!« antwortete die Kleine in überströmender Freude. »Nach
Hause und für immer! Der Vater ist so viel freundlicher als sonst,
daß es bei uns wie im Himmel ist. Eines Abends, als ich zu Bett
ging, sprach er so freundlich mit mir, daß ich mir ein Herz faßte
und ihn fragte, ob du nicht nach Hause kommen dürftest -, und
er sagte ja, und schickte mich im Wagen her, um dich zu holen.
Und du sollst jetzt dein freier Herr sein«, sagte das Kind und
blickte ihn bewundernd an, »und nicht mehr hierher
zurückkehren; aber erst sol en wir alle zusammen das
Weihnachtsfest feiern und recht lustig sein.«
»Du bist ja eine ordentliche Dame geworden, Fanny!« rief der
Knabe aus.
Sie klatschte in die Hände und lachte und versuchte, bis an
seinen Kopf zu reichen; aber sie war zu klein, und lachte wieder
und stellte sich auf die Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie
ihn in kindlicher Ungeduld zur Tür, und er begleitete sie mit
leichtem Herzen.
Eine schreckliche Stimme im Hausflur rief: »Bringt Master
Scrooges Koffer herunter!« Es war der Lehrer selbst, der
Master Scrooge mit brutal hochnäsiger Herablassung anstierte,
und ihn in großen Schrecken setzte, als er ihm die Hand drückte.
Dann führte er ihn und seine Schwester in ein feuchtes,
fröstelnerregendes Empfangszimmer, an dessen Wänden
Landkarten und in dessen Fenster die Erd- und Himmelsgloben
vor Kälte glänzten. Hier brachte er eine Flasche merkwürdig
leichten Wein und ein Stück merkwürdig schweren Kuchen
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