Seidenkinder

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Kapitel 4

Wie verabredet hatte Jaya seine Gäste an diesem Morgen direkt vor dem Eingang des großen Krankenhauses in Vellore getroffen. Die Einrichtung war keine normale Touristenattraktion, diese Klinik war ein Zeugnis wahrer Liebe und Jaya kam gerne hierhin, um Besucherinnen und Besuchern aus Europa oder Amerika die Geschichte ihrer Entstehung zu erzählen. Jaya grüßte in die Runde. Die eigentlichen Freunde und Unterstützer der Pattu-Stiftung, die das Kinderheim trug und darüber hinaus mehrere hundert andere Kinder im Süden Indiens unterstützte und soziale Projekte initiierte, kamen aus Singapur, wo er studiert hatte, und aus Deutschland, eine Verbindung, die auf ganz eigenen Wegen zustande gekommen war. Diese vier Männer waren Amerikaner, ein Arzt, ein Lehrer, ein Journalist und ein Pfarrer, eigentlich Freunde seiner Freunde aus Singapur. Er hatte sie vor drei Tagen am Flughafen in Chennai in Empfang genommen, hatte sie gestern Abend in seinem Zuhause empfangen, bot ihnen für eine Woche seine Gastfreundschaft an. Einer von ihnen, der Lehrer, war bereits vor zwei Jahren einmal hier bei ihnen zu Besuch gewesen. Für drei von ihnen war es der erste Besuch in Indien. Sie wohnten im Kinderheim, in den Gästezimmern, die genau für solche Gelegenheiten gebaut worden waren, in der zweiten Etage des Hauses, jeweils mit eigenem Bad und westlicher Toilette.

Er selber hatte keine Pläne mit diesen Besuchern, verband keine Ambitionen oder Wünsche mit ihnen, hatte sich aber seinen Freunden aus Singapur zuliebe dazu bereit erklärt, sie für eine Woche zu empfangen, ihnen die Arbeit der Stiftung vorzustellen und daneben auch etwas von Indien zu zeigen. Die vier hatten sich gestern ausgeruht, hatten versucht, sich an die Wärme zu gewöhnen, an die Zeitumstellung und das ungewohnte Essen. Heute waren sie wohl bereit, sich weiteren Herausforderungen Indiens zu stellen.

Jaya zeigte hinter sich auf das große, eindrucksvolle Gebäude und sagte: „Willkommen in einem der größten Krankenhäuser Indiens. Ich nenne diese Klinik und alles, was dazugehört, einen Ort des Segens, denn das ist sie. Es ist ein Ort des Heils und der Inspiration. Sie hat vor inzwischen mehr als hundert Jahren einmal klein begonnen, wie so manche Initiative, aber sie entwickelt sich ständig weiter, bis heute. Kommt bitte und seht selbst.“

Jaya ging der Gruppe voran, um aber nach ein paar Metern direkt wieder stehen zu bleiben, vor einem Bild der Gründerin des Krankenhauses, Doktor Ida Scudder. Hier begann er zu erzählen: „Ida Scudder hatte als junge Frau eigentlich nur einen Traum. Sie wollte glücklich sein, ein schönes Leben in Amerika führen, Indien so schnell wie möglich den Rücken kehren und einen Millionär heiraten.“

Jaya lächelte und fragte sich, wie viele junge Menschen auf dieser Welt, ob in Amerika oder Indien, wohl diesem Traum nachhingen, und fuhr dann fort: „Idas Eltern lebten als Missionare hier in Tamil Nadu. Ihr Vater engagierte sich als Arzt und so war sie dazu gezwungen, das indische Leben zu teilen. Sie aber war es leid, Missionarstochter zu sein. Wahrscheinlich“, sagte er mit einem Grinsen, „machte ihr auch die Hitze zu schaffen.“

Dieser letzte Satz war nur ein Zugeständnis an seine Gäste, die schon jetzt, am frühen Morgen, wieder schwitzten. Jaya lächelte sie an, er war die Wärme gewohnt. Die drei lächelten, solidarisch mit der jungen Ida, die die Hitze vielleicht genauso wenig hatte leiden können, wie sie selbst es offensichtlich taten.

Jaya nahm den Faden wieder auf: „Ida hatte damals wohl einfach das Gefühl, das Leben zu verpassen. Sie muss ihren Vater sehr bewundert haben, war aber davon überzeugt, niemals selber so leben zu können wie er.“ Jaya löste sich von dem Anblick des Bildes, ging weiter und betrat die Eingangshalle der Klinik, blieb einen Moment stehen, um die Größe, die Hektik, das Vorbeieilen der vielen Menschen auf sie alle wirken zu lassen, und ging dann geradeaus auf die Kapelle zu.

Aus den Augenwinkeln nahm er einen kleinen Jungen wahr, der die Kerzen vor der Eingangstür zur Kapelle sortierte. Er sah ihm einen Moment lang fasziniert zu, wie er die Reste flüssigen Wachses aus mehreren heruntergebrannten Teelichten in einem der kleinen Becher aus Aluminiumfolie sammelte. Wie konzentriert er arbeitete. Ob ihm jemand aufgetragen hatte, das zu tun, oder ob er von sich aus auf die Idee gekommen war? Er nahm sich vor, später im Gespräch mit jemandem vom Klinikpersonal danach zu fragen.

Jetzt zog Jaya seine Sandalen aus und bedeutete seinen Begleitern, es ihm gleichzutun. Dann betraten sie alle zusammen die Kapelle der Klinik.

Die Kapelle war in ein helles sanftes Licht getaucht, durch ein Oberlicht fiel Sonne in den Raum, und das verlieh ihm einen besonderen Charakter. Immer wieder sagten die Menschen, die hier hinkamen, um zu beten und Frieden zu finden, dass man den Eindruck habe, selber in Licht getaucht zu werden, wenn man diesen heiligen Raum betrat. Wie in vielen Kirchen auch standen hier an einem Gang entlang und in Reihen aufgestellt einige Bänke, etwa zehn, ausgerichtet auf einen schlichten Altar, vorne im etwas höheren Raum der Kapelle. Einzelne Menschen saßen da oder knieten, einige beteten flüsternd, leise, aber hörbar. Jaya bat seine Gäste, in der ersten Reihe Platz zu nehmen, und fuhr damit fort, ihnen die Lebensgeschichte von Ida Scudder zu erzählen.

„Wie gesagt - Ida wollte nicht in Indien leben, geschweige denn die Arbeit ihres Vaters tun. Ihr müsst wissen, dass aus Familie Scudder in vier Generationen zweiundvierzig Missionarinnen und Missionare nach Indien und in andere Länder gegangen waren.“ Jaya zögerte kurz und wagte, zu sagen: „Die Geschichte, die ich euch an diesem Morgen erzähle, ist gut, sie inspiriert mich. Aber längst nicht immer war die Geschichte der Mission so positiv; manches Mal haben die Missionare die Menschen nicht beschenkt, so wie es sein sollte, sondern sie haben sie bestohlen, betrogen, eingeengt. Ida dagegen war eine ganz große Schenkerin.“

Er erzählte weiter: „Eigentlich sah Ida sich selbst überhaupt nicht in der Rolle, diese Familientradition der Mission mit ihrem Leben fortzusetzen. Wenn sie betete, sagte sie zu ihrem Gott, dass sie nicht in Indien bleiben, sondern in Amerika leben wolle, dass ihre Freunde schon auf sie warteten und mit ihr das Leben entdecken und feiern wollten. Nun - ihre Einstellung und ihre Gebete änderten sich ganz plötzlich, im Jahr 1890, innerhalb von einer Nacht.

Ida war allein zu Hause in ihrem Zimmer und las ein Buch, als ein Mann, ein Brahmane, zum Haus ihrer Eltern kam und sie bat, mitzukommen zu seiner Frau, die in Wehen lag und ein Kind zur Welt brachte. Die Hebammen hatten alles versucht, aber es gab Komplikationen und niemand wusste weiter. Ida musste dem Mann mitteilen, dass sie nur die Tochter des Arztes war und keinerlei Erfahrung mit Geburtshilfe hätte, dass sie aber ihren Vater gerne benachrichtigen würde. Der Mann lehnte das strikt ab, denn die Vorstellung, dass ein Mann seine Frau berühren würde, war für ihn undenkbar. Ida war hilflos, die schwangere Frau tat ihr leid, aber sie konnte nichts für sie tun.

So wandte sich Ida wieder ihrem Buch zu. Noch einmal hörte sie Schritte auf der Veranda. War der Brahmane etwa noch einmal zurückgekommen? Hatte er es sich anders überlegt? Diesmal stand ein Muslim vor der Tür. Er sagte:, Bitte, kommen Sie schnell. Bei meiner Frau haben die Wehen eingesetzt und es scheint Schwierigkeiten zu geben.` Diesmal war Idas Vater zu Hause und bot selber an, den Mann zu begleiten. Der aber lehnte das Angebot ab. Niemand außerhalb seiner Familie hatte jemals das Gesicht seiner Frau gesehen. Er würde nicht zulassen können, dass ein weißer Ausländer zu seiner Frau käme. Ida und ihr Vater konnten seine Meinung nicht ändern und Ida ging wieder zurück in ihr Zimmer. Die Lust, zu lesen, war ihr mittlerweile allerdings vergangen.

Erneut hörte sie Schritte auf der Veranda. Zu ihrem Schrecken erschien ein dritter Mann, ein Hindu, ein Angehöriger einer höheren Kaste, und auch er hatte eine junge Frau, die bei der Geburt ihres Kindes in Lebensgefahr schwebte.“

Jaya legte eine Pause ein und sah aufmerksam in die Gesichter seiner Zuhörer. Sie waren seine Gäste, vom anderen Ende der Welt, aus Amerika, wie Ida Scudder. Sie waren hier, um die Arbeit seines Kinderhilfswerkes zu unterstützen. Sie würden Geld spenden, damit mehr Kinder zur Schule gehen und eine Ausbildung machen konnten, und sie würden Pateneltern suchen, die sich dann jeweils für ein Kind verantwortlich zeigen würden. Er selbst hatte von dieser einfachen Idee profitiert und sie überzeugte ihn immer noch. Er war ein Patenkind deutscher Geber, die ihn über ein großes Kinderhilfswerk, die Kindernothilfe, unterstützt hatten. So war es ihm ermöglicht worden, zur Schule zu gehen und zu studieren. Er war ihnen dankbar. Jetzt versuchte er, dieses Prinzip weiter zu verbreiten. Familie Mensch, davon war er überzeugt, musste sich insgesamt für ihre Kinder verantwortlich zeigen. Weltweit.

Nach dieser Unterbrechung, in der er seinen Zuhörern erlaubt hatte, ihren eigenen Gedanken nachzugehen, erzählte er weiter, wie die Erfahrung dieser einen Nacht, in der drei Männer Ida um Hilfe gebeten hatten, ihr Leben für immer veränderte. „Ida“, so sagte er, „war in dieser Nacht nicht mehr eingeschlafen, sondern hatte nachgedacht, gegrübelt, Notizen in ihrem Tagebuch festgehalten und gebetet. Sie schrieb unter anderem:, Eine Frau hatte nicht helfen können und ein Mann, der hätte helfen können, der die nötige Ausbildung und das Engagement mitbrachte, hatte nicht helfen dürfen.`“

 

Jaya überlegte, wie er die spirituelle Dimension dieser Erfahrung vermitteln konnte, und entschied, es einfach genau so zu erzählen, wie Ida selbst es erlebt haben musste und wie er es in ihren Tagebüchern, die inzwischen veröffentlicht worden waren, nachgelesen hatte. Er wünschte sich sehr, dass Ida für sie lebendig wurde, nicht einfach ein totes Vorbild blieb, und wohl noch mehr wünschte er sich, dass seine Gäste selber auch Zugang zu dieser Kraft aus einer anderen Welt fanden. Und so erzählte er: „Ida hatte in dieser Nacht den Eindruck gehabt, als sei sie Gott begegnet, als hätte er sie berührt, wie mit einem Flügel, wie mit einem Schwung für ihr Herz, sodass sie auf einmal doch bewegt war von der Idee, Medizin zu studieren, um nach Indien zu kommen und hier insbesondere den Frauen, den Kindern und den Ärmsten zu helfen.

Am Morgen nach dieser besonderen Nacht erschrak Ida, als sie aus dem Dorf das Geräusch bestimmter Trommeln hörte. Sie wusste, das war ein Zeichen dafür, dass jemand gestorben war. Ida schickte eine der Hausangestellten, um herausfinden zu lassen, was passiert war, und auch, um sich danach zu erkundigen, was aus den drei jungen gebärenden Frauen geworden war. Sie kam zurück und musste Ida sagen, dass alle drei in der Nacht gestorben waren.

Ida schloss sich für einige Stunden in ihrem Zimmer ein. Sie dachte über die Bedingungen nach, unter denen die Frauen Indiens leben mussten, und nach vielen Gedanken und Gebeten ging sie zu ihren Eltern und teilte ihnen ihre Entscheidung mit: Sie würde nach Amerika gehen, um Medizin zu studieren, und dann zurück nach Indien kommen, um den Frauen zu helfen. Ihr Entschluss stand fest.

Als Ida im Jahr 1900 schließlich zurück nach Indien kam, war sie eine gut ausgebildete Ärztin. Ihr Vater starb nur einige Monate, nachdem Ida zurück in Indien war, sodass sie von Anfang an auf sich gestellt und allein verantwortlich für die Arbeit war. Und die Not in Indien war überwältigend. Auf zehntausend Menschen kam ein Arzt. Außerdem hatte sie keine Räumlichkeiten, in denen sie hätte arbeiten können. Sie ließ ein erstes Gebäude errichten, in dem Platz für zehn bis zwölf Patienten war. Die Veranda diente als Wartezimmer, ein kleines Zimmer als Behandlungsraum. Heute ist in diesem Krankenhaus hier Platz für mehr als zweitausend Patienten.“ Jaya konnte sehen, dass seine Gäste beeindruckt waren.

„Am Anfang hatte Ida gegen das Misstrauen der Bevölkerung anzukämpfen. Ihr erster Patient war ein Mann, der todkrank war, dem sie nicht mehr hatte helfen können und der wenig später starb, sodass das Misstrauen in der Bevölkerung nur noch zunahm.

Eines Tages aber kam ein Hindu, Angehöriger einer höheren Kaste, und ließ seine Augen von ihr untersuchen. Ida konnte ihn erfolgreich behandeln und von diesem Moment an nahm die Zahl ihrer Patientinnen und Patienten beständig zu. Aus Mitleid nahm sie immer mehr und mehr Arbeit an, sie behandelte pro Tag hundert Kranke, zweihundert, ja manchmal dreihundert. Bis heute ist es so, dass Patienten, die zu arm sind und sich keine Behandlung leisten und keine Medikamente bezahlen können, umsonst behandelt werden. Spenden von außerhalb machen es möglich, diesem Ideal nachzukommen.

Manchmal kam es vor, dass Menschen vor Ida niederknieten, denn sie hielten sie für die Inkarnation einer Göttin. Sie selbst empfand diese Huldigung als total unangemessen und furchtbar unangenehm und flüchtete jedes Mal, wenn sie in eine solche Situation kam.

Sie merkte, dass sie dringend Unterstützung brauchte, weil die Arbeit ihr über den Kopf wuchs und die Not einfach zu groß war. Denn auch wenn ein paar Dutzend Doktoren und Schwestern aus Europa und Amerika kamen, war deren Hilfe doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Da hatte Ida eines Tages die Idee, Inderinnen selbst auszubilden, um sich der speziellen Nöte indischer Frauen anzunehmen. Sie begann damit, Krankenschwestern anzulernen, um schließlich noch einen mutigen Schritt weiterzugehen und Frauen auch als Ärztinnen auszubilden. Die Ärzte, die den Medizinstudenten das Examen abnahmen, behaupteten anfänglich doch tatsächlich, dass Idas Mädchen es niemals mit den männlichen Studierenden würden aufnehmen können. Aber bei der offiziellen Verlesung der Examensergebnisse sollten alle eine Überraschung erleben. Achtzig Prozent der Studenten hatten nicht bestanden, von den vierzehn jungen Frauen aber jede einzelne. Ida sorgte dafür, dass hohe Standards in der medizinischen Ausbildung gesetzt wurden.“

Jaya hielt inne. „Noch heute ist es überaus attraktiv, eine Ausbildung an diesem College zu machen. Auch die Kinder, die wir unterstützen, haben oft den eifrigen Wunsch, hier zu studieren, und sie wissen, dass sie dafür allerbeste Leistungen in der Schule nachweisen müssen. Krankenschwester zu werden oder sogar Ärztin oder Arzt, bedeutet, eine ausgezeichnete Ausbildung zu bekommen, in der man zwei Dinge großartig miteinander vereinbaren kann: ein eigenes Auskommen zu haben und anderen zu helfen.“

Jaya atmete tief durch und wies mit beiden Händen auf seine Umgebung. „So entstanden hier an diesem Ort, wo wir jetzt sitzen, ein Krankenhaus und eine Ausbildungsstätte, das CMC, das Christliche Medizinische College. Es steht allen Menschen offen, sowohl unter dem Personal und erst recht selbstverständlich unter den Patienten sind Angehörige aller Religionen. Und das alles hat mit einem einzelnen Menschen begonnen. Das wollte ich euch an diesem Morgen erzählen.“ Sie nickten. Ob sie verstanden hatten? Ob sie bereit wären, auf ihre Art selbst eine Ida zu werden?

Um seine Geschichte abzuschließen, sagte er: „Eine Frau, die einmal den Staub Indiens von ihren Füßen hatte schütteln wollen, begann, Indien zu lieben. Eine schreckliche Nacht hat ihr Leben verändert. Der Tod von drei Frauen hatte sie tief berührt und bewegt, das zu tun, was sie konnte. Und so entstand etwas Großes. Man ehrte sie, Gandhi besuchte sie, sie kam zu internationalem Ruhm und wir ehren sie bis heute.“ Er blickte in die Runde. „Es ist mir wichtig, meine Freude über einen Menschen wie Ida zu teilen und meine Dankbarkeit, die ich immer empfinde, wenn ich an diesen Ort komme, denn ihre Geschichte inspiriert mich, selbst das zu tun, was ich kann. Ich denke, sie ist eine Herausforderung für uns alle.“

Jaya war glücklich, weil seine Gäste ihm sehr aufmerksam zugehört hatten. Jetzt würden sie mit dem seit einigen Jahren extra dafür angestellten Public-Relations-Manager der Klinik oder mit jemand aus seinem Team eine Führung durch die wichtigsten Bereiche des Krankenhauses machen. Man würde ihnen einen Überblick geben und immer wieder staunten Gäste aus der westlichen Welt über das medizinische Know-how, modernste Operationstechnik, innovative Therapiemethoden. Man würde sie teilhaben lassen an den aktuellen Entwicklungen in der Behandlung Leprakranker. Und auch über die immer noch neue und unkontrollierbare Krankheit, über Aids, würde man sprechen.

Er selbst wollte den Rundgang nicht mitmachen, sondern die Zeit nutzen, um einige Besuche zu machen. Eine seiner Nichten arbeitete hier, er würde sie gerne kurz sehen. Und ein junger Mann, der Bruder eines der älteren Jungen aus dem Kinderheim, lag hier als Patient; auch ihn würde er besuchen.

Sie verließen alle zusammen die Kapelle, zogen ihre Sandalen wieder an und Jaya ging voran zu den Büros der Klinikleitung. Man grüßte einander und eine junge Frau nahm sich auf charmante und zielstrebige Art der Besuchergruppe an.

Jaya sah ihnen einen kleinen Augenblick lang nach und sprach ein kurzes Gebet für seine Gäste. Schon im Weitergehen fügte er dann noch ein kleines Dankgebet für Ida Scudder an und bat seinen Gott um Segen für die Menschen hier in dieser Klinik, Kranke und Gesunde, Patienten und Personal.

Er ging den Gang hinunter, der ihn zum Krankenzimmertrakt bringen würde. Plötzlich kam ihm ein kleiner Junge entgegengerannt. Er wich ihm aus und sah ihm hinterher. Nur einen kurzen Moment später kam eine Frau um die Ecke gelaufen, sie gehörte wohl zum Personal, denn sie trug einen weißen Sari, der sie irgendwie beeindruckend aussehen ließ, sie jetzt aber daran hinderte, schnell laufen zu können.

Als sie Jaya sah, blieb sie stehen, ihr Atem ging schnell. „Langsam“, sagte er freundlich. Allmählich beruhigte sie sich. Sie sah den Gang hinunter und dann zu ihm.

„Dieser kleine Dieb“, seufzte sie tief und schüttelte den Kopf. „Steht neben der Kapelle, sammelt Wachs und verkauft dann die Teelichte.“

Jaya lächelte.

„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte sie, halb entsetzt, halb belustigt - Jaya konnte nicht so recht einschätzen, was sie wirklich dachte und empfand. Er sagte:

„Ich habe ihn am Morgen kurz beobachtet, er ist sehr geschickt.“

Erstaunt fragte sie nach: „Wo? Hier? Sie waren hier in unserer Kapelle?“

Jaya nickte. Und als fühlte er sich von ihren Besitzansprüchen ausgegrenzt oder angegriffen, fügte er hinzu: „Eine Kapelle ist ein öffentlicher Ort des Gebetes und der Andacht. Eine Kirche spricht von Gnade, also von allergrößter göttlicher Zugänglichkeit, da sollte sie doch allen Menschen gehören, jedem offenstehen, meinen Sie nicht?“

Jetzt musste sie lachen. „Sie haben recht. So war es nicht gemeint. Ich habe mich nur gewundert.“

Jaya erklärte: „Ich habe einige Gäste, Amerikaner, zu einer Klinikführung hierhin gebracht.“ Sie verdrehte die Augen. Er ahnte, warum. „Nun“, fuhr er scheinbar streng fort, „auch Ida Scudder war Amerikanerin, nicht wahr? Und noch heute lebt das CMC doch von der Unterstützung aus der ganzen Welt, insbesondere von Spenden aus Amerika und Europa. Man könnte hier sonst wohl nie dem Ideal nachkommen, die ärmsten Patienten unentgeltlich zu behandeln. Aber mit ihrer Unterstützung ist es möglich.“

Sie schaute jetzt interessiert: „Haben Sie noch nie den Wunsch gespürt, unabhängig zu sein? Wäre es nicht wunderbar, das CMC könnte mittlerweile ganz auf eigenen Füßen stehen? Auf indischen Füßen?“ Er nickte. „Weil ausländische Füße manchmal stolzieren, trampeln, treten?“

„Ja, so in etwa“, sagte sie zustimmend, nachdenklich.

Jaya überlegte kurz, ob er sagen sollte, was er wirklich dachte, und weil er das Gespräch zu genießen begann, beschloss er, ehrlich zu sein. Diese Frau - Schwester oder Ärztin? - er sah flüchtig auf ihr Namensschild und las ihren Namen, „Dr. Kala Ranjini“ -, diese Frau machte den Eindruck, als wisse sie Aufrichtigkeit mehr zu schätzen als oberflächliche Zustimmung, und so sagte er: „Ich wünschte, und so habe ich es heute Morgen meinen Gästen gesagt, Familie Mensch fühlte sich insgesamt verantwortlich für ihre Kinder. Unabhängigkeit ist meiner Ansicht nach ein sehr merkwürdiges Konzept. Ich glaube, die Wahrheit liegt genau in der umgekehrten Richtung und es wäre wichtig, die Zusammenhänge zu sehen, das Ganze nicht immer weiter aufzuteilen, sich nicht immer mehr voneinander abzugrenzen und nur an sich zu denken.“

Er stockte, fragte sich, ob er vermitteln könnte, was ihm wichtig war. Sie sagte etwas spöttisch: „Sie sind also ein Globalisierungsbefürworter.“

Er war kurz irritiert, wollte schnell widersprechen, etwas entgegnen, aber da sah er sie lächeln, mit einem ironischen, frechen Schmunzeln, was ihn vollkommen aus dem Konzept brachte.

Mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte er: „Ist ja auch egal.“ Er sah ihren Sari, nahm wahr, dass er nicht weiß war, wie er zuerst gedacht hatte, sondern von einem sehr hellen Grün, sah die passenden grünen Perlen in ihren langen schwarzen Haaren, die zu einem Zopf zusammengebunden waren, sah ihre klugen Augen, die ihn anfunkelten, und erinnerte sich nicht mehr daran, was er eigentlich hatte sagen wollen. Sie hatte es doch tatsächlich geschafft, ihn zu verwirren. Mit freundlicher Stimme sagte sie: „Es ist nicht egal, es ist wichtig, über diese Themen zu sprechen.“

Bevor sie aber weitersprechen oder beide auf die Idee kommen konnten, in der Cafeteria einen Tee miteinander zu trinken, stand plötzlich der kleine Kerzenwachsdieb an einen Türpfosten gelehnt ihnen gegenüber, ganz in ihrer Nähe.

Jaya hatte Sorge, er würde direkt wieder weglaufen, deshalb ging er nicht auf ihn zu, sondern fragte ihn von dort aus, wo er stand, nach seinem Namen. „Raja“, sagte der Junge. Einem inneren Impuls folgend, fragte er weiter: „Du bist allein?“ Der Junge nickte. Um sicherzugehen, dass er die Frage auch richtig verstanden hatte, fragte er noch einmal anders nach: „Wo ist deine Mutter?“ Der Kleine sagte leise: „Sie ist tot.“ Und setzte noch hinzu: „Die anderen auch.“ Jaya spürte, dass er die Wahrheit sagte. Wer sich hinter „die anderen“ verbarg, würde er vielleicht später herausfinden. „Und wo lebst du?“ Es war eine riskante Frage, denn der Kleine brauchte sein Versteck noch und würde es ihm sicher nicht verraten. Jaya wartete gespannt und nickte anerkennend, als Raja eine Antwort gab, die wohl gleichzeitig der Wahrheit entsprach als auch klug war: „Hier“, sagte er, „auf dem Gelände.“ Jaya nickte. Das Gelände war sehr weitläufig, die Gebäude verwinkelt und der Junge war klein, er rollte sich vermutlich nachts in einer Ecke zusammen und schlief unentdeckt hinter irgendeiner der vielen Türen. Er sah aus wie fünf oder sechs, aber Jaya wollte es genau wissen und fragte: „Wie alt bist du?“

 

„Ich bin neun Jahre alt“, sagte der Junge. Und etwas selbstbewusster fügte er hinzu: „Ich habe am 30.Januar Geburtstag.“

Jaya betrachtete ihn aufmerksam. Er hatte also einen Jungen vor sich, der nicht genug zu essen gehabt hatte und mit seiner körperlichen Entwicklung hinter seinem Alter zurückgeblieben war, der aber wohl wusste, dass er an einem historischen Tag geboren worden war, am Todestag Gandhis.

„Was ist mit der Schule?“, fragte er offen.

Raja sah auf den Boden und sagte traurig: „Ein Jahr. Ich bin nur ein Jahr lang hingegangen. Als meine Mutter noch da war. Danach ging es nicht mehr.“

Jaya verstand. „Bist du gerne hingegangen?“

Der Junge sah ihn an und strahlte: „Ja, sehr, sehr gerne.“

Er konnte später nicht sagen, in welchem Moment genau er gewusst hatte, dass er dem Jungen einen Platz in seinem Kinderheim anbieten würde, aber als er es tat, war er sich sicher, dass Raja das Angebot annehmen würde. Und so war es auch. Er stellte sich ihm kurz vor, erzählte ihm von dem Kinderheim und lud ihn ein, sich das Haus selber anzusehen und dort zu entscheiden, ob es ein Platz sein könnte, an dem er leben wollte. Es war jetzt Mittag und die jüngeren Kinder würden gleich aus der Schule nach Hause kommen. Er könnte sie kennenlernen, mit ihnen spielen und am Abend entscheiden, ob er länger bleiben wollte.

Doktor Ranjini dachte, dass dieser Mann absolut vertrauenswürdig wirkte und dass auch der Junge das zu merken schien. Er lehnte jetzt nicht mehr an dem Türrahmen, sondern war näher gekommen und hörte dem Leiter des Kinderheims zu. Wie oft dieser wohl schon enttäuscht worden war, weil ein Kind seine Chance nicht erkannte? Wie oft so eine Begegnung vielleicht zwar zunächst vielversprechend weiterging, dann aber doch im Leeren verlief, weil ein Kind, das einmal auf der Straße und auf sich gestellt gelebt hatte, sich schwer in so ein System wie ein Kinderheim eingliedern ließ? Wie oft dieser Mann wohl schon diese Art von Gespräch mit einem Kind geführt hatte?

Jaya selbst stellte sich in diesem Moment ganz ähnliche Fragen: Wie oft bin ich schon auf diese Weise meiner Intuition gefolgt? Warum habe ich den Kleinen heute Morgen wahrgenommen, als er bei den Kerzen vor der Kapelle stand? Und warum habe ich andere Kinder dagegen wohl übersehen? Ist es Gott, der mich leitet? Wird dieser Junge seine Chance erkennen? Wird er irgendwann sagen können, dass es Glück war, ihn heute getroffen zu haben? Wird er zu den anderen Kindern passen, wird er gerne zur Schule gehen, gut lernen, fleißig sein?

Er fragte: „Kommst du mit, um dir das Ganze anzusehen?“

Raja willigte, ohne zu zögern, ein.

Jaya merkte, dass die Zeit weggelaufen war und er es nicht mehr schaffen würde, seine geplanten Besuche zu machen. Er erklärte Raja, dass sie in wenigen Minuten einige ausländische Besucher vor dem Haupteingang treffen würden, um dann gemeinsam mit dem Auto zum Heim in der Karishma-Straße zu fahren. Raja nickte und Jaya wandte sich Doktor Ranjini zu.

Sie war jetzt nachdenklich und erklärte ihm, bevor er noch etwas sagen konnte: „Ich arbeite hier als Kinderärztin in der Kinderklinik.“ Gerade hatte sie noch den Eindruck gehabt, als habe er es eilig, aber als er jetzt nicht signalisierte, dass er sich schnell verabschieden wollte, sprach sie weiter: „Wussten Sie, dass Doktor Scudder ihrer Zeit weit voraus war, auch was die Behandlung von Kindern angeht? Als sie ihre Arbeit hier begann, starb noch jedes vierte Baby bei der Geburt. Eine ihrer ersten Taten war, ein kleines Haus zu bauen für die Neugeborenen der Ärmsten, wo sie in wohnlicher Atmosphäre besondere Pflege bekamen. Eine Kinderklinik entstand und ein besonderer Trakt für Kinder mit ansteckenden Krankheiten und für Frühgeborene kam hinzu, außerdem das Therapiezentrum für behinderte Kinder.“ Sie hielt inne. „Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass Sie sich jederzeit an mich wenden können, wenn Sie im Kinderheim medizinische Hilfe brauchen, ich eins Ihrer Kinder untersuchen soll oder Sie irgendwie spezielle Unterstützung brauchen. Ich könnte dann natürlich auch zu Ihnen kommen, in die Karishma-Straße, um Ihnen und den Kindern den Weg zu ersparen.“

Sie hoffte inständig, dass dieses Angebot nicht zu gewagt war und er ihr nicht anmerkte, wie neugierig er sie gemacht hatte und wie gerne sie das Kinderheim sehen und ihn wiedertreffen würde. Sie wusste, sie hatte ihm Unrecht getan, als sie ihn als Globalisierungsbefürworter bezeichnet hatte. Warum hatte sie ihn so provozieren müssen? Sie wollte sich entschuldigen, das Gespräch fortsetzen, es wiedergutmachen. Sie wollte ihn kennenlernen.

Jaya bedankte sich bei ihr für das großzügige Angebot. Er überlegte, mit welchem Argument er sie überzeugen könnte, doch möglichst bald einmal vorbeizukommen, am liebsten gleich heute, als ihm eine Idee kam und er sagte: „Sie haben den Jungen ja gesehen, Raja. Er wirkt wie ein Fünfjähriger, höchstens wie sechs, ist aber schon neun Jahre alt. Wahrscheinlich ist er aus Mangelernährung nicht gewachsen. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn sich einmal ansehen könnten.“

„Und wäre es nicht gut, ich würde ihn mir gleich heute ansehen“, fragte sie, „bevor Sie ihn aufnehmen? Nur, um zu wissen, wie es wirklich um ihn steht.“

„Wenn das möglich wäre, so spontan, wäre das wunderbar.“

Sie nickte. „Also abgemacht. Dann komme ich gegen Abend vorbei“, sagte sie. „Auf Wiedersehen.“ Sie gaben sich die Hand und sie wandte sich zum Gehen.

„Karishma-Straße Nummer sieben“, rief er hinter ihr her. „Das hellblaue Haus mit dem blühenden Oleander vor dem Tor.“

Sie drehte sich zu ihm um und sagte: „Ich werde Sie finden.“ Und damit war sie um die Ecke verschwunden.

„Ich werde Sie finden“, wiederholte Jaya für sich. Was bedeutete dieser letzte Satz jetzt genau? Und was bedeutete er in Verbindung mit diesem schelmischen Funkeln? Jaya musste lachen und schüttelte den Kopf. Mit neuen leichten Schritten ging er in Richtung Eingangshalle.

Seine Gäste waren so sehr ins Gespräch vertieft, dass sie ihn zunächst gar nicht bemerkten. Das war sicher ein gutes Zeichen; der Besuch im Krankenhaus hatte ihnen Stoff zum Nachdenken gegeben. Er stellte sich zu ihnen und hörte mit halber Aufmerksamkeit zu, wie sie über Krankenversicherungen und das Gesundheitssystem Amerikas diskutierten. Die andere Hälfte war bei Raja, der mit etwas Abstand bei ihm stand und geduldig wartete, wie es weitergehen würde. Jaya merkte, dass er ihn jetzt schon in sein Herz geschlossen hatte. Er erinnerte ihn an sich selbst und er fragte sich, ob es am Ende immer wieder seine eigene Lebensgeschichte war, die ihn mit jedem neuen Jungen einholte.

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