Seidenkinder

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Kapitel 5

Matt saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und starrte jetzt schon seit einer halben Stunde vor sich auf die Wand. Er wusste, dass er bald nach Indien reisen würde, im Mai, wenn Tom mit der Schule fertig sein würde. Ja, er war sich sicher, dass er Tom mitnehmen würde und diese Zeit für ihre Vater-Sohn-Beziehung von großer Bedeutung sein würde. Er war sich inzwischen auch darüber im Klaren, dass seine Mutter in Verbindung mit dieser Reise irgendeine Bitte an ihn hatte und es ihr aus irgendeinem Grund sehr viel bedeutete, dass er dorthin reisen würde. Sie würde es ihm sicher bald erklären, noch aber, das spürte er, war sie nicht so weit. Sie blieb in diesen Tagen oft allein in ihrem Zimmer, saß in ihrem Sessel am Fenster und schrieb, wirkte nachdenklich, in sich gekehrt und doch alles andere als schwermütig, eher euphorisch. Blieb nur noch Amy. Er verstand nicht, warum seine Frau sich seiner Idee, zu reisen, so total versperrte, und es machte ihn traurig und hilflos, dass es scheinbar keinen Schlüssel gab, damit sie sich seinen Plänen mehr öffnen könnte. Er rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht, verdrängte das Gefühl der aufkommenden Kopfschmerzen und machte seinen Laptop an.

In den nächsten zwei Stunden surfte er durch das weltweite Netz. Dank verschiedener Suchmaschinen fand er auf Anhieb einige Seiten mit genau den Informationen, die er suchte. Er las gebannt. Die Berichte über die Staudammprojekte fielen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie von Regierungskreisen, Baufirmen, Ingenieuren oder Umweltorganisationen geschrieben waren. Er las alles, bis er nach einer Weile zunehmend den Eindruck bekam, jetzt zwar eine Menge Wissen angesammelt zu haben, aber noch lange keine Weisheit, wie mit diesen Informationen umzugehen sei. Als er gerade aufgeben wollte, stieß er auf einige Berichte über Arundhati Roy, eine indische Schriftstellerin und Aktivistin, die mit ihrem Buch „Der Gott der kleinen Dinge“ einen Bestseller geschrieben hatte, der inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt worden war und internationale Beachtung erhalten hatte. Eine Frau, die für die Rechte der Armen kämpfte, sich dabei schon mit den Allergrößten angelegt hatte, die immer wieder mal im Gefängnis landete und unter Druck geriet, weil sie zum Beispiel die Methoden der Staudammfirmen entlarvte und nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, dass weder die weggeschwemmten Dörfer im Norden noch die Trockenheit im Süden des Landes Schicksal, Karma, waren, sondern hausgemacht.

Das war, was er suchte. Ohne lange nachzudenken, bestellte er einige Bücher von ihr und fand, bevor er sich dann ausloggte, ein Zitat, das ihn sehr berührte und das gleich auf mehreren Ebenen in seine Situation hineinzusprechen schien. Er kopierte die klaren, herausfordernden Worte der jungen Aktivistin, druckte das Zitat auf einem weißen DIN-A4-Blatt aus, hängte es gut sichtbar über seinem Schreibtisch auf und las es wieder und wieder durch, bis er sich sicher war, dass er es auswendig konnte:

„Liebe. Und lass dich lieben. Vergiss niemals deine eigene Bedeutung. Gewöhn dich nie an die unsagbare Gewalt, die Gemeinheit und Verzweiflung um dich herum. Such Freude und Schönheit noch in den dunkelsten Orten. Vereinfache nicht, was komplex ist, und verkompliziere nicht, was einfach ist. Respektiere Stärke, aber nicht bloße Macht. Beobachte. Und versuch zu verstehen. Sieh nicht weg.“

Er surfte weiter. Bald merkte er, dass die Staudämme zwar ein großes Thema waren, dass es aber eine ganze Reihe anderer dringender Herausforderungen gab, denen sich Indien gegenübersah oder denen es ausgeliefert war - so wirkte es manchmal. Die schlimmste Bedrohung ging vielleicht von der schnellen Verbreitung von Aids aus.

HIV ist in Indien außer Kontrolle. Nach Angaben von Experten hat Indien Südafrika als das Land mit den meisten Aidskranken oder HIV-positiven Patienten überholt. Die Epidemie habe sich so rasch ausgebreitet, dass Indien „aufwachen“ und das Problem ernst nehmen müsse. Anderenfalls würden Millionen Menschen sterben.

Er las, dass Indien auf Druck der Welthandelsorganisation wohl seine Gesetze zum Patentrecht für Medikamente würde ändern müssen. Tja, dachte er, ganz der Anwalt, ein Patentrecht macht natürlich Sinn, es schützt die Ansprüche derjenigen, die etwas erfinden und zum Beispiel viel Zeit und Energie in die Forschung investiert haben. Aber im Zusammenhang mit Aids kam doch die Frage auf, ob man mit der Behandlung dieser Krankheit überhaupt noch Geld verdienen durfte. Er schüttelte den Kopf: Multikonzerne wachen über ihre Patentrechte. Wer überwachte eigentlich die Wächter? Hatte der Markt seine Grenzen? Und wer dürfte die festlegen?

Matt reiste durchs Internet, vor seinen Augen entstanden Bilder, er las sich in das Land hinein, das er bald besuchen würde. Er versuchte, sich vorzubereiten, heranzutasten, und fragte sich: Was bedeutet es, wenn man als Nation größte Armut erlebt und technischen Fortschritt? Den Tsunami erlebt und Dürrekatastrophen, Hungertote? Was, wenn man das HI-Virus nicht unter Kontrolle bekommen würde? Und wer würde sich dafür eigentlich verantwortlich zeigen? Welche Rolle spielten die Religion und die Religionskonflikte, Terror und Gewalt, die Auseinandersetzungen mit Pakistan? Wie lebte eine Atommacht mit unzähligen Slums wie Kalkutta? Wie hielt man die Gegensätze aus und den täglichen Kampf der vielen ums Überleben? Das Zitat von Arundhati Roy gab ihm irgendwie Kraft, vielleicht weil die Worte so stark waren oder die Frau, die sie sagte.

Er hatte großen Respekt vor Menschen wie ihr. Vor Frauen und Männern, die sich nicht einschüchtern ließen. Die wussten, warum sie morgens aufstanden. Die eine tiefere Ahnung von Sinn und von Frieden gefunden hatten. Die etwas Bedeutendes taten, und wenn es auch noch so anstrengend war. Die Widerstand auslösten und damit etwas schafften, was zunächst einmal das System störte und auf Dauer die Chance hatte, echte Veränderung, etwas Gutes für diese Welt, zu bewirken.

Er fragte sich, was diesen Menschen die Kraft gab, durchzuhalten? Bei dieser Frage dachte er an eine E-Mail, die er vor einigen Tagen von einer Bekannten bekommen hatte, die als Ärztin für verschiedene Hilfsorganisationen arbeitete; sie hatte viel von der Welt gesehen, meistens die kaputten, umkämpften Regionen. Er wusste, dass sie zuletzt in Afghanistan gewesen war. Ihre letzten Mails hatten aufgewühlt, traurig, überarbeitet und müde geklungen. Aber ihre letzte Nachricht hatte ganz überraschend einen vollkommen anderen, neuen Ton gehabt.

Total verzweifelt war sie in ihre Heimat nach Deutschland zurückgekommen. Afghanistan war eine Erfahrung, die sie innerlich fast ausgehöhlt hatte. Das vom Krieg zerstörte Land, die Angst auf allen Seiten, die Begegnungen mit Kindern, Soldaten, Kranken verfolgten sie bis in ihre Träume. Diesmal wollte sie aufgeben, sie konnte nicht mehr. Sie beriet sich mit ihrem Mann. Mit ihren Freunden, viele davon selbst Ärztinnen und Ärzte. Sie alle sagten: Was wir brauchen, ist ein Zeichen! Eine kleine Bestätigung, dass richtig ist, was wir tun. Einen Wink von Gott, einen Fingerzeig.

Sie trafen sich, um zu diskutieren und irgendwann, zu müde zum Reden, um zusammen zu schweigen. Und dann fingen sie an zu beten. Acht Leute, Freundinnen und Freunde. Sie beteten sich alles von der Seele, die Ohnmacht, die Wut, die vielen kleinen Geschichten. Alles. Und dann war etwas Merkwürdiges passiert. In dem Moment, als sie ihre Gebete beendet hatten und gerade ihre Köpfe hoben, sahen sie auf der Brüstung des Balkons, direkt vor ihnen, eine weiße Taube sitzen. Sie hatten wohl alle ungläubig geguckt und den Atem angehalten, um sie ja nicht verschrecken. Sie fragten sich: Wo kommt die denn her? Irgendwo in der Stadt gab es graue Tauben auf dem Marktplatz. Aber weiße?

Die Taube war das erhoffte Zeichen. Sie bedeutete alles: Frieden. Durchhalten. Kraft. Erhörte Gebete. Neue Freude. Wunder. Matt verstand, dass der neue lebensfrohe Ton, die neue Leichtigkeit von dieser Erfahrung genährt wurden. Diese Taube hatte ihr Kraft gegeben, neue Hoffnung. Für sie war das kein Zufall, es war eine Antwort auf ihr Gebet. Klein, heilig und nicht wegzudiskutieren. Es bedeutete, sie würde weitermachen. Das freute ihn sehr für sie und er spürte die Energie, über Meilen hinweg, über Kontinente, kam sie bei ihm an.

Er selbst tat sich schwer damit, zu beten und darauf zu vertrauen, dass ein Gott seine Worte hörte oder sogar irgendwie darauf reagieren sollte. Aber seine Mutter war ein zutiefst gläubiger Mensch. Vielleicht müsste man sagen, dass sie eigentlich an die Menschen glaubte und darauf vertraute, dass Gott es auch tat. Einige seiner besten Freunde waren religiös und auch viele der Weltverbesserer - das Wort hatte für ihn seinen positiven starken Klang behalten, auch wenn es über die Jahre Amys spöttischer Spitzname für ihn geworden war - waren offensichtlich motiviert von großen Ideen wie Gerechtigkeit, Frieden, Liebe und Gütekraft, Ideen, die so heilig waren, dass Gott scheinbar fast unweigerlich darin mitschwang. Er wusste, dass er mit dieser Frage noch nicht endgültig abgeschlossen hatte. Gott, dachte er, wie sollte man mit Gott fertig werden, dem Größten, was ein Mensch wohl überhaupt sagen konnte?


Kapitel 6

Sie machten sich alle gemeinsam auf den Weg zum Kinderheim. Der Wagen war voll klimatisiert, was die Gäste sehr zu schätzen wussten. Jaya aber sah, dass Raja schon nach ein paar Minuten zu frieren begann. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts. Jaya sah aus dem Fenster. Die Straßen, in anderen Ländern den Autos vorbehalten, wurden hier mit allen geteilt und waren voller Menschen. Alte, Erwachsene, Kinder, Babys, Kranke an Krücken. Sandalen, Saris, Turbane. Rufen, Hupen, Winken, Betteln. Mittendrin immer wieder mal eine Kuh. Es roch nach Hitze, nach Schweiß, Knoblauch, reifen Mangos, die am Straßenrand verkauft wurden, frisch geschält. Indien war ein volles Land. Ihr Auto kam immer wieder zum Stehen.

 

Die Gespräche waren verstummt. Alle sahen jetzt aus dem Fenster und konnten sich nicht losreißen von den vielen Eindrücken. Am Rand der Straße befanden sich kleine Läden, Blechhütten, die vor die Häuserfront gesetzt waren und in denen Lebensmittel verkauft wurden und Drogerieartikel, ein buntes Gemisch aus Bananen, Avocados, Kokosnüssen, Kaugummi, Blumengirlanden, Hautcreme, Zahnpulver, Schuhputzcreme, Bonbons, Kuchen, kleinen Tüten mit Kräutermischungen oder Tabak, Kaffee und Tee. Frisch geschlachtete Hühner hingen an Haken von der Decke eines muslimischen Ladens. Die Gemüsestände führten zurzeit nur Kartoffeln, Mais und Zwiebeln und Gewürze wie Chili, Pfeffer, Ingwer, Koriander und Zimt. Dazwischen fand sich auch der ein oder andere Shop, in dem Videokassetten verkauft wurden, CDs, kleine Radios und Filme für die Kameras der Touristen. Direkt daneben Stoffe und Sandalen. Nur auf dem Bazar und dem Markt ging es noch bunter und hektischer zu.

Raja war der Einzige im Wagen, der nicht aus dem Fenster sah. Sein Blick ging von einem zum anderen und blieb dabei immer wieder an kleinen Details hängen. Interessiert betrachtete er die weißen Ausländer. Die schwarzen festen Schuhe, die auf ihn, der sein Leben lang barfuß gelaufen war, wie Särge für die Füße wirkten. Die Uhr am Arm des einen, von der er nicht so ganz genau wusste, wie man sie entziffern konnte, der aber sogar er ansehen konnte, dass sie viel Geld gekostet haben musste. Die Hosen, die sie trugen, ohne jede Bügelfalte und mit vielen kleinen Taschen besetzt, die ein komisches Geräusch machten, wenn man sie öffnete, wie ein hartes Rascheln. Ihre Haut und die Farbe ihrer Augen, ihrer Wimpern, ihrer Lippen, ihrer Fingerkuppen. Besonders der eine wirkte auf ihn, als sei die Farbe aus ihm ausgelaufen, so hell waren seine Haut und seine Haare. Raja sah sich seine eigenen Hände an, die Innenflächen waren etwas heller, ansonsten war er überall dunkel.

Er sah zu dem Mann hinüber, zu dem Inder, der ihn angesprochen und eingeladen hatte. Er hatte bemerkt, man nannte ihn Jaya, aber er wusste noch nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Er war sehr dunkelhäutig, klein und hatte einen Bauch. Er lachte viel, und auch wenn sein Mund einmal nicht lächelte, dann strahlten doch immer noch seine Augen. Er mochte ihn. Er wusste nicht genau, was gerade mit ihm passierte, aber er ahnte, dass dieser Mann ihm Glück brachte.

Er hatte ihn am Morgen gesehen, als er mit den Weißen zusammen in die Kapelle der Klinik kam. Der Andachtsraum, sein Zuhause. Er schlief unter dem großen Tisch, über dem immer eine Decke hing, die bis auf den Boden reichte, sodass niemand sehen konnte, dass sich jemand darunter verbarg. Die Kapelle roch gut und sie war ruhig. Nachts wurde die Tür verschlossen, sodass er sich wirklich sicher wusste, wie in einem eigenen Haus.

Tagsüber sortierte er die kleinen Kerzen in ihren Aluminiumbechern, die man am Eingang der Kapelle kaufen und aufstellen konnte. Die meisten Lichter brannten aus, bevor ihr Wachs ganz verbraucht war, oder wenn er ganz viel Glück hatte, ertrank die Flamme, weil der Docht zu kurz war. Von solchen Kerzen sammelte er das Wachs, goss es, solange es noch flüssig war, in einen der leeren Becher, wartete, bis die Kerzen trocken waren, und verkaufte sie dann. Das war doch eigentlich kein Diebstahl, sagte er sich, sondern eine ganz vernünftige Verwertung von Resten, von dem, was die Schwester, die die Kapelle säuberte, sonst ohnehin nur wegwerfen würde. Er aber konnte sich mit den Kerzen ein bisschen Geld verdienen, meistens gerade genug für einen Tag. So jedenfalls hatte er die letzten Jahre irgendwie überlebt.

Sie hielten an einer Kreuzung an. Ein Polizist regelte den Verkehr und winkte jetzt eifrig, damit sich die Linksabbieger in Bewegung setzten. Er trug ein Tuch vor dem Mund, um sich vor den Abgasen zu schützen, darunter blies er immer wieder in seine Trillerpfeife, die ein schrilles Geräusch von sich gab, aber für so einen Ordnungshüter, eine Staatsautorität, zu sehr an Kindergeburtstag erinnerte. Niemand wollte mit ihm tauschen.

Rechts am Straßenrand - nur die eine Hälfte derer, die im Auto saßen, konnten die Szene sehen, aber die konnten nicht daran vorbeischauen - saß ein Mann, nur mit einem Lunghi bekleidet, der nackte Oberkörper ausgezehrt, man konnte jede einzelne seiner Rippen sehen. In seinem linken Arm hielt er ein ganz junges Baby, auf dessen Augen Fliegen saßen. Der Mann versuchte, die Fliegen mit seiner rechten, freien Hand zu verjagen, aber man sah ihm an, dass seine Muskeln zu müde waren. Die Fliegen hatten mehr Ausdauer als er, er war schwächer. Er wirkte wie betäubt, übermüdet, erschöpft. Hin und wieder hob er seine Hand hoch, mit einer bettelnden Geste, aber niemand legte eine Münze in die offene Handfläche. Dann wieder ging seine Hand zum Gesicht des Babys.

Jaya sah auf die Gesichter seiner Gäste und konnte ihre Fragen dort lesen: Was wird aus den beiden? Wer stirbt zuerst? Wie lange wird der Vater sich noch um sich selbst und das Kind kümmern können? Wo ist die Mutter? Wie viele solcher Menschen gibt es in diesem Land? Wo soll man anfangen? Wie könnte man helfen? Eingreifen in ein Rad aus Armut und Chancenlosigkeit? Den Teufelskreis unterbrechen? Wie? Da fuhr der Wagen an und sie wurden weggebracht von diesem Anblick, einem Augenblick voller Fliegen, die stärker waren als ein Vater.

Der Fahrer lenkte sie sicher und mit viel Hupen durch die Straßen, bis sie in ein Viertel kamen, in dem es ruhiger wurde. Auf der rechten Seite lag das große Gelände der Don-Bosco-Schule. Für die meisten Jungen war der Unterricht zu Ende und man sah jede Menge Kinder, die in unterschiedliche Richtungen auseinandergingen, sich Bälle zuwarfen, um die Wette liefen, sich voneinander verabschiedeten und winkten. Die unterschiedlichen Jahrgänge, je nach Alter und Klasse, waren für jeden an der jeweiligen Farbe des T-Shirts zu erkennen, Rot, Gelb, Blau und Grün, immer mit weißem Kragen, das neben der schwarzen Hose die Schuluniform ausmachte. Jetzt sah auch Raja aus dem Fenster, mit großen, neugierigen und neidischen Augen.

Jaya erklärte an seine Gäste gewandt: „Die meisten unserer Kinder besuchen diese Schule. Sie ist recht groß, aber sehr gut. Die Lehrerinnen und Lehrer sind engagiert, geleitet von der Pädagogik von Don Bosco. Ja, die Schule überzeugt mich. Unsere Kinder lernen gerne und sie bringen gute Ergebnisse mit nach Hause, nicht nur in Mathematik oder Englisch, auch in Sport und Musik. Wenn ich die Entwicklung unserer Kinder betrachte, bin ich froh, so eine renommierte Schule in der Nähe zu haben und sie hierhin schicken zu können.“

Die Gäste nickten und einer, der Lehrer, meinte: „Don Bosco in allen Ehren, aber die Entwicklung der Kinder im Pattu-Heim hat ganz sicher noch viel mehr mit dir zu tun, mit deiner Art, mit der Atmosphäre, die du dort schaffst, mit der Liebe, die du schenkst, du und das ganze Team.“

Jaya hörte die Anerkennung in diesen Worten und bedankte sich auf eine so einfache Art und mit der für Inder typischen kleinen Verbeugung, dass klar war, er würde die Komplimente zulassen, aber niemals irgendeine Form von Verehrung. Das aber schien den Lehrer geradezu herauszufordern, doch noch weiterzureden, und Jaya hörte in seiner Stimme diese Spur von Aggressivität, so typisch für Gäste aus dem Westen. Einer von ihnen, ein Deutscher, hatte ihm einmal erklärt, dass echte Bescheidenheit sie unglaublich provozierte.

Das Gespräch konnte nicht fortgesetzt werden, denn in diesem Moment bogen sie in die Karishma-Straße ein. Sofort öffnete sich das Tor zu Haus Nummer sieben und mehrere Kinder sprangen auf die Straße, um das ankommende Auto zu begrüßen. Jaya wusste, sie waren aufgeregt, sie mochten es, Besuch zu haben, das brachte Abwechslung in ihren Tagesablauf, neue Geschichten, erweiterte ihren Horizont, machte das Leben spannend. Die Jungen öffneten die Türen des Autos und halfen den Gästen, auszusteigen, nahmen ihnen die kleinen Taschen und Rucksäcke ab und begleiteten sie mit ihren fröhlichen Grüßen ins Haus. „Uncle! Uncle!“ Überall waren ihre Stimmen, die Kinder wünschten sich Aufmerksamkeit. Sie holten Stühle und platzierten sie im Eingang, bedeuteten den Gästen, sich zu setzen, und brachten innerhalb kürzester Zeit Tassen, frischen Tee und Kekse. Dann begannen sie, den Gästen ihre Bücher und Schulhefte zu zeigen, und die hatten keine andere Wahl, wurden mitgerissen von ihrem Eifer und fanden sich ein paar Minuten später alle mitten in der konzentrierten Stimmung von Kindern, die tatsächlich gerne ihre Hausaufgaben machten.

Raja war in der Eingangstür stehen geblieben und wartete auf ein Zeichen, wie es weitergehen würde mit ihm. Er beobachtete die anderen Jungen, die ganze Szene. Alles wirkte natürlich und gleichzeitig eingespielt. Er hatte so ein Haus noch nie erlebt. Er konnte nur ahnen, dass es hier bestimmte Spielregeln gab, und er war neugierig, sie kennenzulernen, und fragte sich, ob er sie verstehen und einhalten könnte. Aber weil alle so ausgelassen wirkten, wurde er allmählich ruhiger.

„Raja!“ Die warme Stimme von Jaya riss ihn aus seinen Gedanken und er ging zu ihm, folgte ihm eine Treppe hinauf in die erste Etage in ein Büro. Jaya bot ihm einen Stuhl an, aber bevor sie anfingen, miteinander zu sprechen, kam einer der Jungen mit einem Tablett mit zwei Bechern, einer Teekanne und einem Teller mit Keksen und in Scheiben geschnittenem Apfel. Er stellte das alles auf dem Tisch ab und reichte Raja dann die Hand. „Ich bin Muthu“, sagte er und schenkte ihm ein breites Lächeln. Raja ergriff die Hand und sagte ebenfalls lächelnd: „Ich bin Raja.“

Jaya bedankte sich für den Tee und bat Muthu, später, in einer Stunde etwa, wiederzukommen und Raja dann das Haus zu zeigen. Muthu nickte und verließ das Zimmer. Raja sah ihm hinterher und musste plötzlich ganz unerwartet und heftig weinen. Er kämpfte gar nicht erst gegen die Tränen an, denn er merkte, sie überwältigten ihn. Er fragte sich auch nicht, warum er weinte oder ob er hier überhaupt weinen dürfe, er weinte einfach. Die Traurigkeit war auf einmal so groß, gleichzeitig war es hier endlich möglich, sie loszulassen. Auch Jaya fragte sich nicht, warum der Kleine weinte, es war nicht das erste Mal, dass er genau diese Reaktion erlebte. Er ließ ihn eine Weile für sich, reichte ihm dann die Pappbox mit den Papiertüchern hinüber und berührte ihn dabei kurz am Arm. Raja spürte, dass alles in Ordnung war, putzte sich die Nase und sah Jaya an. Der sagte mit ruhiger Stimme: „Weinen ist nicht schlimm, ist auch nicht peinlich, weinen ist manchmal einfach angemessen.“ Raja nickte, er verstand und er wusste sich verstanden.

Die beiden begannen, sich zu unterhalten. Diesmal aber folgten sie nicht mehr dem Frage-Antwort-Schema wie bei ihrer Unterhaltung im Krankenhaus, sondern Raja erzählte seine Geschichte. Jaya fragte sich wieder, wie viele solcher Gespräche er jetzt im Laufe der Zeit wohl schon geführt hatte? Damals bei der Kindernothilfe hatte er zunächst zugehört, wenn sein Lehrer, sein Mentor Lüder Lürs, mit den Kindern sprach. Er hatte sehr genau beobachtet, sich einiges von ihm abgeschaut und dann gemerkt, dass er selbst eine gute Art hatte, mit den Kindern umzugehen. Ja, es waren viele Kinder, aber von Routine konnte man nicht sprechen, weil sich die Geschichten zwar ähnelten, aber vor allem der Schmerz, den ein Mensch erlebte, immer seinen eigenen Respekt forderte. So sah er Raja an, ein besonderes Kind mit einer eigenen Geschichte.

Er erzählte tapfer, Satz für Satz: Seinen Vater hatte er kaum gekannt, er war die meiste Zeit des Jahres in Sri Lanka, arbeitete dort, trank aber auch sehr viel. Wenn er nach Hause kam, wurde das Leben in der kleinen Hütte anstrengender, er hatte nicht gelernt, sich seinen Kindern zuzuwenden, und auch seiner Frau gegenüber kannte er nur einen kommandierenden Ton. Als er den Unfall und den Tod seines Vaters erwähnte, kam er kurz ins Stocken.

Sie waren von Chennai aus nach Vellore gekommen, denn seine Mutter meinte, hier eine Verwandte, eine ältere Schwester, zu finden. Aber sie konnten diese Frau nicht finden. Als Raja erzählte, dass nur wenige Wochen nach dem Tod seines Vaters auch seine Mutter gestorben war, musste er wieder weinen, berichtete dann aber weiter von den näheren Umständen. Seine Mutter war seit dem Tod des Vaters nicht mehr dieselbe wie vorher, sie war verzweifelt, schlief kaum. Zunächst hatte sie ihre Hoffnung auf ihre Schwester gesetzt und hatte sich mit ihren drei Kindern auf den Weg nach Vellore gemacht, über hundert Kilometer zu Fuß. Als sie hier ankamen und sie sich hatte eingestehen müssen, dass sie seine Tante nicht finden würden und nicht wussten, wohin, war sie irgendwie ganz komisch geworden, wie verrückt, und dann ganz plötzlich schwer krank. Sie hatte sich vor Schmerzen gewunden, irgendwelche Fremden hatten sie ins Krankenhaus gebracht, ins CMC, und man hatte sich um sie gekümmert, aber nichts mehr für sie tun können. Drei Tage später war sie tot.

 

Da war er auf dem Gelände geblieben, sein älterer Bruder aber war schon Tage vorher weggegangen und hatte den Tod der Mutter nicht miterlebt, er wusste nicht, wo er jetzt war. Seine jüngere Schwester war bei seiner Mutter geblieben, weil sie noch so jung war, er nahm an, dass sich die Schwestern um sie gekümmert hatten und sie vielleicht in einem Kinderheim untergebracht worden war, auch sie hatte er nicht wiedergesehen, machte sich um sie aber nicht so große Sorgen. Das alles war jetzt schon über zwei Jahre her. Als er Muthu gerade hatte weggehen sehen, hatte er sich an seinen Bruder erinnert gefühlt und merkte, wie sehr er sich danach sehnte, Freunde zu haben, Geschwister, eine Familie, ein Zuhause.

Jaya ließ ihn in aller Ruhe erzählen, fragte zwischendurch ein paar Mal genauer nach, auch um zu wissen, wie Raja generell mit Erinnerungen umging, wie viel er verdrängt hatte, welche Erklärungen er für sich gefunden hatte. Dann brachte er seinerseits auch seine eigene Geschichte mit in das Gespräch ein, erzählte ebenfalls vom Tod seines Vaters.

Irgendwann kamen sie an den Punkt, wo Jaya ihm von der Idee, der Gründung und dem Bau des Kinderheims erzählte und wie ihr Zusammenleben hier organisiert war. Jetzt stellte Raja ein paar Fragen und Jaya merkte, dass er einen sehr aufgeweckten Jungen vor sich sitzen hatte. Er war zwar noch nie gefördert worden, aber sobald man einmal etwas Zeit in ihn investieren würde, er lesen lernen würde, genug zu essen bekam und sich sicher und angenommen fühlen konnte, würde er schnell große Fortschritte machen. Jaya erklärte ihm ein paar organisatorische Einzelheiten. Dass er, wenn Raja sich entscheiden würde, zu bleiben, morgen mit ihm zur Schule gehen würde, um ein paar Tests mit ihm zu machen. Dann würde Raja, je nachdem wie das Ergebnis dieser Tests ausfiel, für ein paar Wochen zusätzlichen Unterricht bekommen, Unterstützung bei seinen Hausaufgaben, und einer der älteren Jungen, vielleicht Muthu - bei dem Gedanken strahlte Raja über das ganze Gesicht - würde ihm helfen, den Alltag im Kinderheim zu verstehen und mit den anderen gemeinsam einige Aufgaben zu erledigen, Wäsche zu waschen, den Tisch zu decken, zu fegen, zu spülen, den Rasen zu schneiden, Tee zu kochen.

Was man außerdem erledigen müsste, wäre, ihn untersuchen zu lassen, um sicherzugehen, dass er gesund war, oder sich andernfalls um eine etwaige Krankheit zu kümmern. Raja schaute angespannt, fast ein bisschen ängstlich, aber als Jaya sagte: „Eine Ärztin aus dem CMC, Doktor Ranjini, du hast sie heute gesehen, wird das übernehmen“, entspannte er sich wieder.

Jaya stockte für einen Moment und sagte: „Du bist klein für dein Alter. Das kann daran liegen, dass du nicht viel zu essen hattest, aber bist du dir wirklich sicher, dass du schon neun Jahre alt bist?“ Raja nickte. Es war sich sicher. Und noch sicherer war er sich, dass er gerne größer wäre.

Jaya merkte, dass ihm das Thema unangenehm war, und fragte: „Hast du Mohankumar gesehen? Den allerkleinsten der Jungen?“ Raja nickte. Dieser Junge war wirklich auffällig klein. Jaya fuhr fort: „Mohan ist kleiner als du und gleichzeitig ist er doch ein Jahr älter. Er war total unterernährt, als er zu uns kam, und es fällt ihm immer noch schwer, zu essen, er hat oft keinen Appetit; aber er wächst, langsam, und er schreibt mit die besten Noten.“

Wie um zu beweisen, dass er dabei sein wollte, nahm Raja einen ersten Keks und eine Apfelscheibe, stopfte beides in den Mund, kaute und nahm einen großen Schluck aus seinem Teebecher. Beide mussten lachen.

Auch um das Thema zu wechseln, sagte Jaya, dass man ihn nach dem Test in der Schule und der Untersuchung durch die Ärztin ganz offiziell und mit seinem vollen Namen und Geburtstag bei der Stadtbehörde unter der Adresse des Kinderheims anmelden würde. Er wäre dann kein Straßenkind mehr, sondern sesshaft und würde später ohne Schwierigkeiten einen Pass ausgestellt bekommen. „Wenn du das möchtest, können wir versuchen, Familienangehörige von dir zu finden und Kontakt herzustellen zu Geschwistern deiner Eltern oder auch zu deinen eigenen Geschwistern. Vielleicht werden wir bei so einer Suche keinen Erfolg haben, aber wir könnten es probieren. Nun, das hat allerdings Zeit, du musst es nicht heute entscheiden.

Zum Tagesablauf hier im Haus kann dir Muthu gleich Näheres erklären. Am Morgen vor der Schule treffen wir uns zum Frühstück und zum Morgengebet. Am Nachmittag nach der Schule machen alle zuallererst ihre Hausaufgaben, erledigen ihre anderen Arbeiten im Haus, dann ist freie Zeit zum Spielen. Wenn Gäste da sind, werden sie von uns allen mit in den Tagesablauf hineingenommen. Nach dem Abendessen sehen wir zusammen die Nachrichten im Fernsehen und wenn es Fragen gibt, besprechen wir sie. Und vor dem Zubettgehen treffen wir uns noch einmal alle zum Abendgebet, ich erzähle eine Geschichte und bete um Gottes Segen. Dies ist ein christliches Kinderheim. Wir leben hier in Frieden zusammen, damit meinen wir nicht nur Waffenstillstand, sondern mehr eine Art entwaffnendes ganzes Glück. Lern es einfach kennen.“

Jaya hatte jetzt alle eher formalen, äußerlichen Angelegenheiten mit ihm besprochen und hatte den Eindruck, Raja habe alles soweit verstanden. Ein letzter Punkt aber musste noch offen angesprochen werden, und der betraf die Grundregeln für ihr Zusammenleben.

„Raja, du musst wissen, dass das Kastensystem in diesem Haus nicht akzeptiert ist. Kasten haben hier keine Bedeutung. Wir fragen nicht, aus welcher Kaste jemand kommt, wir teilen niemals die Jungen in niedrigere oder höhere Kasten ein und wir wollen auch nicht, dass ihr einander einteilt. Auch die Hautfarbe macht keinen Unterschied. Es ist nicht wichtig, ob jemand hellere oder dunklere Haut hat. Alle sind gleich viel wert und alle verdienen Respekt, alle können Freunde sein. Wir haben außerdem die Verabredung, dass wir einander nicht belügen, nicht bestehlen und nicht schlagen. Und dass wir uns entschuldigen und verzeihen, wenn wir etwas falsch machen und es einsehen. Es gibt keine Strafen, bisher haben wir keine gebraucht. Mit diesen Regeln kann Vertrauen entstehen, und das bedeutet mir sehr viel.“

Er sah Raja offen an und fragte: „Bist du einverstanden? Können wir verabreden, dass du dich auf diese Regeln einlässt?“

Raja nickte mehrmals ernsthaft.

Die Stunde war schnell umgegangen und Muthu klopfte an die Tür und betrat das Büro. „Wenn du erst mal keine Fragen mehr hast, zeigt dir Muthu jetzt das Haus. Guck dir alles genau an, die Küche, den Gemeinschaftsraum, die Zimmer, den Garten. Nimm am Abendessen teil und am Abendgebet und sag, wie es dir geht, frag, wenn du etwas nicht verstehst, und teil mir irgendwann heute oder morgen deine Entscheidung mit. Danke, Muthu. Viel Spaß, euch beiden.“

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