Читать книгу: «Seewölfe Paket 34», страница 22
„Genug jetzt, Ruthland! Erproben Sie Ihre zweifelhaften Schießkünste woanders. Wenn Sie nicht augenblicklich verschwinden, lasse ich Ihnen einen höllischen Gruß rüber schicken. Sie haben eine Viertelstunde Zeit, um aus der Bucht zu verschwinden, wenn nicht, werden Sie es zutiefst bereuen.“
„Fahr zur Hölle, du Bastard!“ brüllte der Engländer laut zurück.
Die weitere Antwort bestand aus einem Steilschuß, der ein paar Handbreiten neben einer der Jollen einschlug.
„Wie sieht es aus, Al?“ fragte der Seewolf ruhig. „Ist das Abschußgestell klar?“
„Alles klar, Sir“, versicherte Al Conroy. „Ich habe einen Flammenbaum genommen.“
„Sehr gut.“
Flammenbäume waren die chinesische Bezeichnung für einen Brandsatz, der sich am Himmel wie ein weitverästelter Baum entfaltete. Die Äste waren aus hell- und dunkelrotem Feuer und zuckten grellen Blitzen gleich durch die Luft. Zudem entstand noch ein erheblicher Krach dabei, der jedem auf die Nerven ging.
Sie hätten auch einen kompakten Brandsatz nehmen können, eine Bombe, wie sie auf die „Aguila“ abgefeuert worden war und damit ihren Untergang eingeleitet hatte. Aber zu diesen Waffen griffen sie nur in letzter Konsequenz, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab. Außerdem waren die Brandsätze knapp und sollten nicht sinnlos verpulvert werden.
Hasard wollte diesem englischen Bastard nur eine Lektion erteilen, und dazu genügte ein „Flammenbaum“ völlig.
„Soll ich feuern, Sir?“ fragte Al Conroy erwartungsvoll. Er hatte eine glimmende Lunte neben sich liegen, die Mac Pellew aus der Kombüse gebracht hatte.
„Ja, Feuer frei“, sagte Hasard.
Drüben löste sich in diesem Augenblick wieder ein Schuß. Wo die Kugel einschlug, war nicht mehr festzustellen. Wahrscheinlich raste sie irgendwo in den Dschungel.
Al Conroy hatte sein Ziel längst anvisiert. Er schoß ebenfalls in einem steilen Winkel und hielt die Lunte an das herausragende, fingerlange Luntenstück des Brandsatzes.
Blitzschnell stoben Funken davon. Es zischte laut, ein Prasseln und Knistern folgte, und dann ging der „Flammenbaum“ unter höllischer Geräuschentwicklung auf seine Reise in das Blau des Himmels.
Er raste in einer schnurgeraden Linie hinauf, bis er auf dem Scheitelpunkt mit einem donnernden Knall explodierte.
Am Himmel entstand ein bizarr verlaufendes Muster wie ein verästelter Blitz, der sich immer wieder neu entfaltete und Zickzacklinien hervorzauberte. Die Enden dieser Linien explodierten wieder unter entsetzlichem Getöse und erzeugten weitere blutrote Linien. Die senkten sich jetzt langsam nach allen Seiten nieder.
Die Bucht glänzte vom Widerschein bengalischen Feuers, und selbst der schwarze Qualm schien sich rot zu färben.
6.
Bisher hatte es Ruthland eine gewisse Freude bereitet, auf die Arwenacks zu feuern und sich selbst dabei in Sicherheit zu fühlen. „Scheibenschießen“ hatten sie veranstaltet, und er hatte die Worte des Seewolfs in seiner Selbstüberschätzung nicht ganz ernst genommen.
Jetzt sah das plötzlich alles ganz anders aus, als mit unheimlichem Getöse etwas in den Himmel schoß und sich dort farbenprächtig entfaltete. Das Getöse wurde noch lauter und wirkte beängstigend, als zerplatze der gesamte Himmel und stürze ein.
Schluckend und mit hervorquellenden Augen stierte Ruthland nach oben. Garcia, der neben ihm stand, bekreuzigte sich hastig.
„Das Licht!“ schrie ein Spanier wie von Sinnen. „Das fürchterliche Licht des Satans wird uns alle verschlingen! Wir sind verloren!“
„Gott steh uns bei!“ schrie ein anderer. „Ich war immer ein gläubiger Mensch.“
Die Dons, die auf der „Aguila“ die erste Berührung mit dem Feuer gehabt hatten, gerieten sofort in Panik, als sich schillernde und knatternde Schlangen durch den Himmel fraßen und mit tausend glühenden Armen nach ihnen griffen.
Mit Mühe und Not hatten sie sich vor dem Teufelszeug retten können, und jetzt stand ihnen die nächste Begegnung bevor.
Einer von ihnen, der bereits beim ersten Feuerregen in blinder Angst über Bord gesprungen war, hastete jetzt wieder kopflos hin und her und rannte alles um, was sich ihm in den Weg stellte. Dabei stieß er markerschütternde Schreie aus, die nichts Menschliches mehr an sich hatten.
Das Höllenfeuer wanderte über den Himmel, und niemand wußte, wohin es sich wenden würde, weil es alle Augenblicke mit höllischer Geschwindigkeit seine Richtung änderte.
Dabei erzeugte das Feuer eine Kakophonie von Geräuschen, die aus wildem Kreischen oder donnerndem Krachen bestanden. Stürmte einer der Dons oder Engländer in eine bestimmte Richtung, dann änderte er blitzartig seinen Kurs, denn das Feuer schien direkt auf ihn zu zielen. Wich er abermals aus, trat derselbe unheimliche Effekt auf. Das Feuer verfolgte jeden einzelnen von ihnen, das war jedenfalls ihr ganz persönlicher Eindruck.
Ruthland selbst war wie gelähmt, als winzige, brennende Kugeln dicht neben der „Ghost“ ins Wasser zischten. Ein paar fielen auch auf das Schiff und setzten sich in den Planken fest. Er sah, wie sie glimmten, qualmten und sich ins Holz fraßen. Auch auf das Wrack ging ein bunter Funkenregen nieder, und das Holz begann zu brennen.
„Sie müssen etwas tun!“ schrie Garcia außer sich vor Angst. „Tun Sie doch etwas, sonst verbrennt das Schiff!“
„Was denn?“ fragte Ruthland hilflos und starrte wieder auf die kleinen, brennenden Kugeln.
„Sand streuen!“ brüllte der Spanier.
Endlich regte sich der Engländer und rief seine Leute zur Ordnung. Es gelang ihm mit Mühe und Not, die Ruhe wiederherzustellen und eine Panik zu verhindern.
Sand wurde geholt und auf die qualmenden Stellen gestreut. Die Männer taten es in hektischer Eile.
Zu Ruthlands Glück war das Holz so naß, daß es kaum Feuer fing. Er sah aber auch, daß viele der kleinen Kugeln aufloderten und weiterbrannten, wenn sie auf die nassen Planken fielen. Zu seinem weiteren Glück trafen die meisten brennenden Kugeln das Wrack. Da war das Holz hoch warm von dem Feuer und fand schnell neue Nahrung. Überall loderte es schlagartig auf.
Garcia packte zwei seiner Leute, die fassungslos und verängstigt herumstanden, und stieß sie ans Schanzkleid der Kuhl.
„Drückt das Schiff ab!“ rief er. „Beeilt euch gefälligst, wir fangen sonst Feuer!“
Er und Molina griffen selbst mit zu, nahmen die Haken und hieben sie ins qualmende Holz der Galeone. Ein anderer Mann nahm sich nicht mehr die Zeit, erst umständlich die Leinen zu lösen. Er hieb mit einem Schiffshauer zu und kappte die Leinen.
Die anderen streuten wie wild Sand auf die Planken. Schon jetzt hing über den Decks der Karavelle der üble Geruch von angesengtem Holz.
In einem der Segel qualmte es jetzt ebenfalls. Ein Mann enterte auf und schlug mit bloßen Händen auf eine der im Segel haftenden Kugeln ein. Mit verbrannten Fingern enterte er wieder ab. In dem lose herabhängenden Segel klaffte ein schwarzes Loch mit ausgefransten Rändern.
Die Leute wurden von Ruthland und Lefray mit Schlägen und wüsten Beschimpfungen zur Eile angetrieben. Inzwischen löste sich die Karavelle von dem neu aufgeflammten Wrack und trieb auf die Einfahrt der Bucht zu.
Ruthland zitterte vor Wut. Er hob drohend die Faust und schüttelte sie in Richtung der Schebecke. Schaum stand in seinen Mundwinkeln, er konnte sich nur noch mühsam beherrschen.
„Ihr Schweinehunde, ihr verdammten!“ schrie er durch die Bucht. „Das zahle ich euch noch heim, das ist nicht vergessen! Ihr werdet mich noch von einer ganz anderen Seite kennenlernen!“
„Recht so“, hetzte Garcia. „Wir werden es ihm gemeinsam geben, ich weiß auch schon, wie wir das anstellen.“
„Lassen Sie mich jetzt in Ruhe!“ brauste Ruthland auf. „Zuerst müssen wir das Schiff retten. Alles andere überlegen wir uns später. Wir müssen so schnell wie möglich auf den Fluß hinaus, sonst nehmen uns die Hunde wieder unter Feuer.“
Sie schafften es mit Mühe und Not, die immer wieder aufflackernden kleinen Brände zu löschen. Mitunter gruben sie glühende Kugeln mit Messern aus dem Holz.
Die Decks waren verschmiert, dreckig und voller Sand. An einigen Stellen qualmte es noch unter dem Sand. Kleine Rauchwölkchen drangen mit zischenden Geräuschen hoch und bliesen den feuchten Sand weg.
Segel wurden in aller Eile gesetzt, dann zeigte der Bug der Karavelle bereits auf den Tapti. Die Strömung riß ihn herum, und das Heck des Schiffes streifte erneut das Ufer. Es gab einen dumpfen Schlag. Die Karavelle wurde kräftig durchgeschüttelt.
Alle Manöver und jeder Handschlag wurden in überhasteter Eile ausgeführt. Die Angst diktierte das Geschehen, und Ruthland mußte immer wieder hart und brutal durchgreifen, damit seine Kerle nicht in Panik gerieten.
Noch einmal schoren sie dicht am Ufer entlang, dann nahm der Tapti sie auf und trieb sie flußabwärts. Hinter ihnen wurde die Bucht unsichtbar, nur der beizende Qualm kündete noch vom Untergang der spanischen Galeone.
Der Schreck saß den meisten noch so in den Knochen, daß sie eingeschüchtert schwiegen.
Auch Ruthland hielt sich lange zurück. Vor diesem Teufelszeug, das so urplötzlich vom Himmel fiel, hatte er einen Heidenrespekt. Es dauerte lange, bis er den Spanier ansprach.
„Das zahlen wir den Halunken zurück“, sagte er voller Wut. „Beinahe hätte es mich das Schiff gekostet.“
„Viel fehlte nicht mehr, das stimmt. Wir haben es nur dem Regen zu verdanken, daß das Feuer wenig Nahrung fand. Aber wir sollten jetzt ernsthaft überlegen, wie wir diesen Kerlen alles heimzahlen können. Ich setzte jederzeit mein Leben dafür ein, daß El Lobo zur Hölle fährt – und seine verdammten Bastarde ebenfalls.“
„Aber wie? Sie hatten doch vorhin eine Idee. Ich gebe jetzt auch nicht eher Ruhe, bis wir die Schlappe ausgebügelt haben.“
Garcia lehnte am Schanzkleid des Achterdecks und blickte auf den Tapti, dessen Fluten immer lehmiger und dunkler wurden. Holzstücke, Palmenwedel und Unrat trieb dahin. An manchen Stellen rauschte der Fluß oder zeigte durch kleine schnelle Wirbel tückische Untiefen an.
„In der Bucht können wir uns nicht mehr sehen lassen, jedenfalls nicht mehr mit dem Schiff“, sagte er. „Wir können aber heute nacht einen Angriff wagen, und zwar zu einer Zeit, in der wirklich jeder schläft – bis auf die Wachen.“
„Wie stellen Sie sich das vor?“
„Wir nehmen eine Jolle und ein paar Fässer Schießpulver, die wir so präparieren, daß sie wie Explosivladungen hochgehen. Diese Ladungen bringen wir achtern an der Schebecke an, wo sie auf Land liegt. Wir zünden die Lunten und verschwinden wieder. Das ist alles.“
„So, wie Sie das sagen, klingt es ganz simpel“, sagte Ruthland. „Aber gar so einfach ist das nicht. Man wird die Jolle bemerken und sofort mit dieser mörderischen Waffe angreifen.“
„Wenn wir geschickt vorgehen, wird man nicht auf uns aufmerksam“, widersprach der Spanier, der sich jetzt in Eifer zu reden begann. „Es müssen nur die richtigen Leute dabei sein. Ich habe ja nicht vor, durch die Lücke im Mangrovenwald zu pullen. Wir bringen das Schießpulver nur in die Bucht und verstecken uns hinter der ‚Aguila‘. Dort wird uns niemand vermuten und auch keiner bemerken, selbst wenn sie Wachen aufgestellt haben.“
„Damit sind Sie aber immer noch nicht an dem Schiff.“
„Die Fässer werden ein Stück durch den Dschungel transportiert“, erklärte Garcia. „Wir nähern uns von dort, denn von dieser Seite rechnet niemand mit einem Angriff. Wenn, dann wird uns El Lobo bestenfalls von der Bucht her erwarten. Er wird jedoch annehmen, daß wir die Nase voll haben und abgezogen sind. So, das wäre mein Vorschlag. Wir sollten dann aber die nächste kleine Bucht anliegen, weil die Jolle gegen den Strom ankämpfen muß.“
„Und Sie glauben, das gelingt?“
„Davon bin ich überzeugt. Das Unternehmen hängt nur von den richtigen und entschlossenen Leuten ab.“
„Wer soll das Unternehmen Ihrer Meinung nach denn leiten?“ fragte Ruthland mit einem lauernden Ton in der Stimme. „Als Kapitän kann ich ja schlecht mein Schiff verlassen.“
„Das Unternehmen leite ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis. Ich werde auch meinen Ersten Offizier mitnehmen, und Sie geben mir noch zwei gute Leute dazu.“
Ruthland brauchte nicht lange zu überlegen. Wenn Garcia für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen wollte, so war das eine gute und akzeptable Lösung. Er schickte gern andere Leute vor, wenn für ihn die Gefahr bestand, sich die eigenen Finger zu verbrennen.
Er selbst hatte dann keine Verantwortung und brauchte sich auch keine Sorgen zu machen, daß ihm etwas passierte. Das war so ganz nach Ruthlands Geschmack. Wenn der Don bei dem Unternehmen draufging, dann hatte er eben Pech gehabt. Er würde ihm jedenfalls keine einzige Träne nachweinen.
Er tat so, als müsse er überlegen und ließ sich mit der Antwort etwas Zeit. Schließlich nickte er.
„Nun gut, wenn Sie wollen. Ich wäre ja selbst gern dabei“, sagte er heuchlerisch, „aber ich kann das Schiff nicht verlassen, schon gar nicht hier, wo alles so unwägbar ist. Ich bin einverstanden.“
Feigling, dachte Garcia. Du hast viel zuviel Angst, um so ein Unternehmen zu leiten. Er grinste unmerklich, denn er hatte den Engländer längst durchschaut.
„Dann sind wir uns ja einig, Engländer. Wir sollten keine Zeit mehr verlieren und unseren Einsatz noch heute nacht beginnen.“
Unterhalb der nächsten Flußbiegung befand sich wieder eine Bucht. Sie war nur klein und bot der Karavelle gerade noch genügend Platz.
Sie segelten hinein, um den Tag abzuwarten. Dabei wurden auch gleich ein paar Fäßchen Schießpulver präpariert und alle Vorbereitungen für den nächtlichen Überfall getroffen.
7.
Die Arbeiten gingen zügig voran, seit Ruthland mit der Karavelle Hals über Kopf geflüchtet war. In zwei Tagen, so schätzte Ferris Tucker, würden sie wieder segeln können.
Um das Schanzkleid auszubessern, besorgten sie sich Holz von der „Aguila“. Es gab noch etliche Stellen an dem Wrack, die unversehrt waren.
An diesem frühen Nachmittag wurde auch die kleine Exkursion begonnen, um die Bucht zu erkunden.
Old O’Flynn, Carberry und die Zwillinge nahmen Waffen mit, denn niemand wußte, was sie im hinteren Teil der Bucht erwartete. Möglicherweise gab es sogar eine Siedlung, von der sie nichts ahnten. Sie mußten jedenfalls auf Überraschungen gefaßt sein.
„In ein, zwei Stunden könnt ihr wieder zurück sein“, sagte Hasard. „Erkundet nur, wie es weiter hinten aussieht. Falls es da einen Nebenfluß des Tapti gibt, dann befahrt ihn nicht. Im übrigen brauche ich heute nacht ausgeruhte Männer. Wir werden Posten aufstellen, denn ich rechne mit einem kleinen Besuch. Ruthland und Garcia werden irgend etwas unternehmen, um die Scharte auszuwetzen.“
„Alles verstanden, Sir, aye, aye“, sagte der Profos.
Old Donegal, Philip und Jung Hasard enterten bereits in die Jolle ab. Der Profos folgte so hastig, als befürchte er, die drei könnten ohne ihn ablegen. Er flog förmlich in die Jolle, wo Old O’Flynn bereits die Pinne übernommen hatte.
Die Zwillinge pullten los.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel. Es war unerträglich schwül. Auf der linken Seite dampfte der Sumpf unter den Mangroven.
Durch die Bresche konnten sie das Wrack sehen. Es qualmte immer noch. Der Regen hatte vorübergehend aufgehört, er hatte es nicht geschafft, das Feuer vollständig zu löschen. Ein unangenehmer Geruch nach verbranntem Holz lag auch über der zweiten Bucht. Die Qualmwolke über dem Wrack trieb nur langsam auseinander.
„Glaubst du, daß Ruthland noch etwa unternimmt?“ fragte Old Donegal in die Stille hinein. „Der muß doch jetzt endgültig die Nase voll haben.“
„Dem Schnapphahn ist nicht zu trauen“, erwiderte der Profos. „Und Garcia erst recht nicht. Die haben etwas ausgeheckt. Aber wir werden uns die Bande schnappen, verlaß dich drauf. Die Überraschten werden ganz bestimmt nicht wir sein.“
Sie pullten in der Mitte der Bucht entlang und musterten die Uferstreifen. An vielen Stellen begann der Dschungel unmittelbar am Wasser und schien undurchdringlich zu sein.
Eine fast unnatürliche Stille herrschte hier. Kein Tier ließ sich blicken. Der Lärm hatte sie vorübergehend alle vertrieben. Selbst die Wasservögel waren verschwunden.
Carberry konnte es kaum erwarten, jene Stelle zu erreichen, die man von der Schebecke aus nicht einsehen konnte. Alle Augenblicke wandte er den Kopf und sah sich um.
Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis die Schebecke schließlich aus ihrem Blickfeld verschwand. Jetzt war nur noch eine Qualmwolke über der Bucht zu sehen.
Auf der rechten Seite wurde das Ufer sandig, dann begann das, was Dan O’Flynn als Küste bezeichnet hatte. Das Ufer stieg etwas an, der Sandstreifen wurde breiter. Gleichzeitig verengte sich die Bucht. Die rechte Seite ähnelte einer Küstenlandschaft, wie sie für das Meer typisch war. Die Hügel gingen in Berge über, und alles war, bis auf ein paar kleine Lichtungen, dicht bewachsen.
Nach der Enge der Bucht folgte tatsächlich ein See, dessen Oberfläche von keinem Windhauch gekräuselt wurde. Ein fernes Plätschern verriet einen noch unsichtbaren Wasserfall.
Menschen waren nicht zu sehen. Diese Ecke sah wie ein Stück unberührter Natur aus, als hätte noch nie ein Mensch diese Idylle betreten.
„Da hinten ist ein Fluß“, sagte der Profos. „Dort, wo der See zu Ende ist, beginnt ein Flußlauf. Wir sollten mal hinpullen.“
„Aber nicht in den Fluß“, sagte Old Donegal. „Wir sehen ihn uns nur an.“
„Jaja“, knurrte der Profos ungeduldig. „Wir wollen uns ja auch nur orientieren, weiter nichts.“
Als sie über den See pullten, entdeckte Carberry den Wasserfall. Er entsprang irgendwo in den Bergen und plätscherte aus etwa zehn Yards Höhe in eine schmale Rinne, die wiederum in den See führte. Zwischen dem Wasserfall und dem Fluß bestand allerdings keine Verbindung.
„Hier ist bestimmt noch niemand gewesen“, meinte Old Donegal. „Darauf würde ich mein Holzbein verwetten.“
„Tu’s lieber nicht“, sagte Philip, „sonst mußt du wieder an Krücken laufen.“
„Ich habe ein Gefühl für derartige Dinge“, belehrte ihn der Admiral, und wußte noch nicht, daß er sich diesmal gründlich irren sollte.
„Am liebsten würde ich mich eine halbe Stunde lang unter den kühlen Wasserfall stellen“, sagte der Profos sehnsüchtig. „Bei der Hitze wäre das eine herrliche Erfrischung. Warum sollten wir das eigentlich nicht tun? Nur ein Weilchen, nicht länger.“
Da die anderen auch dafür waren, beschlossen sie, später diese Abkühlung kurz zu genießen.
Sie pullten zu jener Stelle hinüber, wo der Flußlauf zu sehen war.
Eine Furt war zwischen den Mangroven frei, dahinter begann ein kleiner Fluß, über dem sich der Dschungel schloß. Auf dem Wasser war es schattig und fast dunkel. Das Flüßchen war doppelt so breit wie die Jolle und konnte gut befahren werden. Tief war es allerdings nicht, wie Carberry feststellte. Man konnte nicht mal bis zum Hals darin stehen.
Hier, an dem kleinen Fluß, senkte sich auch wieder die Küste und ging in Dschungel über.
„So, jetzt wissen wir, wie es hier aussieht“, sagte Old Donegal. „Nun sehen wir uns den Sandstreifen an, nehmen ein Bad und kehren wieder zurück. Von dieser Seite aus droht uns keine Gefahr, da können wir ganz beruhigt weiterarbeiten.“
Philip und Hasard hielten jetzt auf den küstenähnlichen Sandstreifen zu und nahmen Kurs auf den Wasserfall.
Carberry kniff die Augen zusammen und blinzelte in die grelle Nachmittagssonne. Sehr aufmerksam spähte er zu dem sandigen Streifen.
„Da liegt so ein merkwürdiges Ding“, sagte er. „Was kann das sein?“
Philip drehte sich ebenfalls um und warf einen kurzen Blick ans Ufer.
„Sieht nach einem Gerippe aus“, sagte er trocken.
Old O’Flynn verriß daraufhin prompt die Pinne. Dem Profos war anzusehen, daß sich sein Magen verkrampfte.
„Gerippe?“ fragte der Admiral ächzend. „Hier gibt’s doch überhaupt keine Menschen.“
„Jedenfalls keine lebenden“, sagte Jung Hasard ungerührt. „Aber da drüben scheinen noch mehr zu sein. Sieht jedenfalls so aus. Wir werden das gleich feststellen, wenn wir am Wasserfall sind.“
„Ach, der Wasserfall“, erklärte der Profos wegwerfend. „So heiß ist es nun auch wieder nicht, daß ich unbedingt baden muß. Was meinst du, Donegal?“
„Heiß? Mir ist richtig kalt“, sagte der Admiral. „Wenn ich jetzt bade, kriege ich eine saftige Erkältung, und das kann sehr schnell den Tod nach sich ziehen.“
„Genau“, tönte Carberry. „Der Kutscher hat schon gesagt, daß man nicht bei großer Hitze ins kalte Wasser gehen soll. Dann kriegt man einen Herzschlag und nippelt ab. Außerdem wird es Zeit, zurückzukehren, sonst gibt es mit dem Sir Ärger. Es wird gleich dunkel.“
Die Zwillinge grinsten sich eins.
„Dunkel wird’s erst in etwa fünf Stunden“, sagte Hasard. „Wir sind noch nicht mal eine Stunde fort. Wenn wir zurückkehren und den anderen lapidar berichten, da lägen ein paar Knochen rum, dann will Dad Einzelheiten wissen. Schon aus diesem Grund müssen wir uns überzeugen, denn das Gerippe läßt darauf schließen, daß es hier Menschen gibt.“
Als Old Donegal die Pinne wieder festhielt, nahm er stur Kurs auf die Biegung und hielt vom Ufer ab. Daraufhin ließen Hasard und Philip die Riemen sinken und stellten das Pullen ein.
„Was soll das?“ fragte der Admiral gallig.
Die Zwillinge lehnten sich auf der Ducht zurück.
„Mir scheint, daß hier zwei ausgewachsene Männer Bammel vor ein paar ausgebleichten Knochen haben“, erklärte Philip. „Dad dürfte sich sehr darüber wundern.“
„Sehr“, bestätigte Hasard mit Nachdruck. „Vielleicht glaubt er uns das gar nicht.“
Langsam begannen sie weiterzupullen. Der Admiral nahm mit mürrischem Gesicht Kurs auf die Uferlandschaft. Carberry wirkte etwas verlegen und vermied es, zum Ufer zu blicken. Er gab sich so gelangweilt, daß es den Zwillingen sofort auffiel.
Deutlich war jetzt ein Gerippe auf der freien Fläche zu erkennen. Es handelte sich um ein ausgebleichtes Skelett, das in der Nähe einer Palme lag. Neben dem Gerippe lagen weitere Knochen herum, die von einem zweiten Menschen stammen mußten.
Die Zwillinge pullten ans Ufer und ließen die Jolle auf dem flachen Sandstreifen auflaufen.
Old Donegal und Carberry kletterten mit knallroten Köpfen aus dem Boot.
Die Zwillinge gingen direkt zu dem Knochenmann und betrachteten ihn.
„Dem haben sie den Schädel eingeschlagen“, sagte Philip und wies auf das große, gezackte Loch im Hinterkopf. Jemand mußte mit einem keulenartigen Gegenstand hart zugeschlagen haben.
Der Totenkopf grinste sie an. Das Gebiß war schadhaft, der Unterkiefer stark verrenkt. Um die Hüftknochen war der Fetzen eines dunklen Tuches geschlungen. Es war nur noch ein brüchiger Lappen.
„Ob es ein Inder war?“ fragte Old Donegal beklommen. Er hielt respektablen Abstand von dem Skelett wie der Profos auch, der immer wieder schlucken mußte. Knochenmänner waren nun mal nichts für ihn – für Old Donegal ebenfalls nicht. Vor Skeletten hatten beide einen Heidenrespekt.
„Vom Schiff kann es keiner gewesen sein“, erwiderte Hasard. Er beugte sich etwas vor. Am Oberarmknochen befand sich ein eiserner Schmuckring.
„So was tragen die Sikhs“, sagte Hasard. „Das sind fanatische Eiferer, die sehr rachsüchtig sind. Also war es ein Inder.“
Er drehte sich um und blickte weiter landeinwärts. Er sagte nichts, sondern wies nur stumm mit dem Finger in jene Richtung.
Dem Profos lief ein kalter Schauer über den Rücken. Neben einem Busch mit leuchtendroten Blüten lagen zwei weitere Skelette. Auch sie mußten sich schon länger hier befinden. Die Knochen waren fast weiß.
Der eine Tote sah fürchterlich aus. An seinem Schädel klebten noch dunkle und graue Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen.
„Schrecklich“, sagte der Profos. „Hat man ihnen auch die Schädel eingeschlagen?“
„Ja, beiden“, sagte Philip, nachdem er sich mit einem Blick davon überzeugt hatte. „Hier muß ein schrecklicher Kampf getobt haben. Vielleicht sind sich hier religiöse Fanatiker an den Kragen gegangen.“
„Da sind Fußspuren“, sagte Old Donegal. „Sie führen vom Ufer in den Dschungel. Hier wird es immer unheimlicher.“
Als seine Worte verhallt waren, hörte man nur noch das Rauschen des Wasserfalles. Es war eine zeitlose Melodie.
Deutlich waren Fußabdrücke nackter Sohlen zu erkennen. Anfangs entdeckten sie nur einige, dann wurden es immer mehr.
Carberry sah sich nach allen Seiten argwöhnisch um. Er fühlte sich von heimlichen Blicken belauert. Immerhin war nicht ausgeschlossen, daß man sie beobachtete. Langsam nahm er seine Pistole in die Hand und spannte den Hahn.
„Die Fußspuren sind noch nicht alt“, sagte Philip in die Stille. „Der Regen hat sie nicht verwischt. Sie sind zwar undeutlich, aber trotzdem einwandfrei zu erkennen. Hier müssen vor ganz kurzer Zeit etliche Leute gewesen sein.“
Sie untersuchten die beiden Skelette genauer. Dabei stellten sie fest, daß auch hier wieder die eisernen Oberarmringe zu sehen waren.
„Der Teufel mag wissen, was hier vorgefallen ist“, sagte der Profos unbehaglich. „Ich habe das lausige Gefühl, als seien wir hier nicht mehr allein.“
Der Uferstreifen mit seiner erhöhten Küste sorgte jedoch noch für mehr Überraschungen, als sie ihn näher in Augenschein nahmen.
Zwanzig Schritte weiter fanden sie wieder ein Skelett, dem merkwürdigerweise der Schädel fehlte.
Old Donegal und Carberry hatten ihre anfängliche Scheu fast verloren. Seit der Profos annahm, daß irgendwelche Kerle in der Nähe waren, fühlte er sich stark und überlegen, und dem Admiral erging es genauso. Kerle, die herumliefen, konnte man wenigstens greifen und sie notfalls ein bißchen durchklopfen, während die Knochen hier am Ufer ihnen unheimlich waren.
Sie betrachteten den Knochenmann, der keinen Schädel mehr hatte, und rätselten herum, was hier wohl vorgefallen sein mochte. Der Totenkopf war auch nirgendwo zu finden.
Sie stießen am Dschungelrand gleich auf vier weitere Skelette. Bei dem unheimlichen Anblick prallten sie zurück. Auch diese Skelette hatten keine Schädel mehr.
„Kopfjäger vermutlich“, sagte Hasard tonlos. „Das ist kein Zufall mehr, daß die meisten von ihnen keine Köpfe haben.“
„Oder Menschenfresser“, murmelte Old Donegal. „Aber ich dachte immer, die gäb’s nur noch auf abgelegenen Inseln.“
Verwischte Fußspuren tauchten wieder auf. Alle führten ausnahmslos in den Dschungel.
Philip entdeckte eine Feuerstelle mit Holzkohlenresten. Der Monsunregen hatte die Asche zu schwarzer Schmiere werden lassen und den Sand um die Feuerstelle dunkel gefärbt.
Die Feuerstelle war kreisförmig und bestand aus schwärzlichen Steinen.
Als Hasard in der Schmiere herumstocherte, förderte er ein paar Knochen zutage.
„Mann, wo sind wir hier bloß gelandet?“ fragte der Profos erschüttert. „Das sah hier alles so ruhig und friedlich aus, und jetzt sind wir mitten unter Kannibalen. Ich kann das kaum glauben.“
„Die Feuerstelle mit den Knochen darin sind wohl Beweis genug“, sagte Old Donegal. „Die haben hier Leute erschlagen und gefressen, nachdem sie sie geröstet haben.“
„Aber Inder tun das nicht“, sagte Philip bestimmt. „Das gibt es hier im ganzen Land nicht.“
„Weißt du es besser?“ fuhr ihn Old Donegal an.
„Nein, aber es kann ja etwas anderes sein. Möglicherweise ist das hier eine Art Kultstätte, wo die Opfer erschlagen und Teile von ihnen verbrannt werden, aber frage mich nicht warum. Darauf weiß ich auch keine Antwort.“
„Sollen wir den Fußspuren folgen?“ fragte Carberry. „Ich glaube, daß wir dort im Dschungel auch noch auf einiges gefaßt sein müssen. Das hier ist ja die reinste Skelettküste.“
„Nachsehen sollten wir auf alle Fälle“, erwiderte Jung Hasard. „Dann wissen wir vielleicht endlich, wo wir dran sind.“
Auf Anraten Edwin Carberrys nahmen sie ihre Pistolen in die Fäuste, um gewappnet zu sein. Sie mußten jedenfalls damit rechnen, auf Fremde zu stoßen, wenn die Fußspuren noch so frisch waren.
Vor dem schmalen Dschungelpfad fanden sie weitere Knochenmänner. Auch ihnen waren die Köpfe abgeschlagen worden. Einige trugen noch Fetzen von Kleidung, bei anderen waren die Knochen wahllos in alle Richtungen verstreut.
„Es wird immer unheimlicher“, sagte Old Donegal. Seine Stimme klang seltsam hohl. „Ich möchte nicht wissen, was uns noch alles bevorsteht.“
Langsam und vorsichtig drangen sie auf dem schmalen Pfad in den Dschungel vor. Schon hier stieg das Gelände sanft an und führte zu den langgestreckten Hügeln hinauf. Wie es schien, war der Pfad oft begangen worden. Aber zu welchem Zweck?
Als Jung Hasard ein paar dichte Zweige mit den Händen teilte, blickte er entsetzt auf eine kleine Lichtung. Das Licht der Sonne war etwas gedämpft und ließ die Szene noch gespenstischer erscheinen.
Er blieb so abrupt stehen, daß sein Bruder gegen ihn prallte.