TARZAN UND SEIN SOHN

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Viertes Kapitel



Der seltsame Tod des Russen Michael Sabrow, der keinen Freund hinterlassen zu haben schien, gab der Presse tagelang Stoff für sensationelle Meldungen. Auch Lord Greystoke las die Berichte und ließ sich von der Polizei auf dem Laufenden halten, nachdem er sichergestellt hatte, dass sein Name nicht mit dem Fall in Verbindung gebracht wurde.



Sein Interesse konzentrierte sich zunächst auf das geheimnisvolle Verschwinden des Affen, der seinen Herrn getötet hatte, aber auch einige Tage später, als man ihm meldete, dass sein Sohn die Schule nicht wieder auf gesucht habe, brachte er die Tatsache nicht mit der Flucht des Affen in Zusammenhang. Erst einen Monat später, als sich herausstellte, dass Jack den Zug vor der Abfahrt verlassen hatte und von einem Taxi zur Adresse des Russen gebracht worden war, kam Tarzan zu Bewusstsein, dass ein Zusammenhang zwischen dem doppelten geheimnisvollen Verschwinden bestehen müsse.





Am Tage, der dem Tod Alexis Paulvitschs folgte, begleitete ein Junge seine kranke, gehunfähige Großmutter in Dover an Bord eines Schiffes. Die alte Dame war tief verschleiert und so schwach, dass sie in einem fahrbaren Krankenstuhl an Bord gebracht werden musste. Der Junge gestattete niemandem anderen, den Stuhl zu schieben, und die beiden verschwanden in der Kabine, um erst am Schluss der Reise wieder an Deck zu kommen.



Unter den Passagieren des Schiffes befand sich ein Amerikaner mit Namen Condon. Condon war ein notorischer Betrüger, der von einem halben Dutzend amerikanischer Staaten gesucht wurde. Er hatte sich wenig für den Jungen interessiert, der mit seiner Großmutter an Bord gekommen war, aber dies änderte sich, als er den Jungen bei einer Gelegenheit ein beträchtliches Banknotenbündel aus der Tasche ziehen sah. Von diesem Zeitpunkt an bemühte sich Condon um die Freundschaft des jungen Engländers. Er erfuhr schnell, dass der Junge allein mit seiner kranken Großmutter reiste und dass ihr Bestimmungsort ein kleiner Hafen an der Westküste Afrikas, wenig unter dem Äquator, war. Der Junge und die alte Dame hießen Billings, und sie hatten keine Freunde in der kleinen Siedlung, die sie als ihr Ziel angaben. Über den Zweck der Reise konnte Condon nichts erfahren, denn sobald er diesen Punkt berührte, wurde der Junge sehr still. Der Amerikaner drängte nicht weiter; er hatte erfahren, was er wissen wollte.



Mehrmals versuchte Condon, den Jungen zu einem Kartenspiel zu bewegen, aber sein Opfer hatte kein Interesse daran, und die finsteren Blicke der andern Passagiere ließen es Condon geraten scheinen, nach einem anderen Weg zu suchen, um die Banknotenrolle des Jungen in seine eigene Tasche zu zaubern.



Schließlich kam der Tag, an dem das Schiff an einer bewaldeten Landzunge nahe der Äquator-Siedlung vor Anker ging. Sie bestand aus einer Handvoll Blechhütten. An den Rändern der Siedlung standen die mit tropischen Blättern gedeckten Hütten der Eingeborenen. Der Junge hatte die Hände auf die Reling gestützt. Sein Blick ging über die von Menschen gebaute kleine Stadt in den von Gott erschaffenen Dschungel. Erst jetzt schien ihm zu Bewusstsein zu kommen, auf welches Abenteuer er sich eingelassen hatte, denn vor seinem Auge tauchten plötzlich das zarte Gesicht der Mutter und die strengen Züge des Vaters auf, aus denen alle Liebe der Welt sprach. Jack wurde schwankend in seinem Entschluss, Heimweh packte ihn. Er wandte sich an einen vorbeigehenden Offizier und fragte:



»Wann legt das nächste Schiff nach England hier an?«



»Die Emanuel müsste jeden Tag ankommen«, erwiderte der Offizier. »Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass wir sie bei unserer Ankunft antreffen.« Mit diesen Worten wandte sich der Offizier ab, um weiter das Landemanöver zu überwachen.



Es erwies sich als ziemlich schwierig, die Großmutter des Jungen vom Deck in eines der schwankenden Kanus hinabzulassen. Der Junge bestand darauf, stets an ihrer Seite zu sein, und im Eifer des Gefechts entging ihm, dass das Geldbündel aus seiner Tasche gefallen und im Wasser versunken war.



Kaum hatte das Boot, in dem sich Großmutter und Enkel befanden, Kurs auf das Ufer genommen, als Condon auf der anderen Seite des Schiffes ebenfalls ein Kanu bestieg, um sich mitsamt seinem Gepäck an Land rudern zu lassen. Hier blieb er vorerst außer Sichtweite des schäbigen zweistöckigen Gebäudes, das sich stolz Hotel nannte. Erst als es dunkel wurde, näherte er sich dem Bau und bezog ein Zimmer.



In einem Hinterzimmer des zweiten Stockes erklärte der Junge, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten seiner Großmutter, dass er sich entschlossen habe, mit dem nächsten Dampfer nach England zurückzukehren. Er machte der alten Dame klar, dass sie in Afrika bleiben könne, wenn sie es wünsche, ihn jedoch zwänge sein Gewissen, zu den Eltern zurückzukehren, die sich seinetwegen sicher schwerste Sorgen machten.



Nachdem diese Entscheidung gefallen war, fühlte sich der Junge frei von den Selbstvorwürfen, die ihn in der letzten Zeit gequält hatten, und als er sich schlafen legte, gaukelte ihm ein leichter Traum bald das glückliche Wiedersehen mit den Seinen vor. Aber schon schlich das Schicksal, das anderes mit ihm vorhatte, durch den Korridor des schäbigen Gebäudes - das Schicksal in Gestalt des amerikanischen Betrügers Condon.



Vorsichtig näherte sich der Mann der Tür des Zimmers, hinter der er den Jungen wusste. Er beugte sich zum Schlüsselloch hinab und horchte, bis er sicher war, dass die beiden Hotelgäste schliefen. Mit geschickten Händen schob er einen Nachschlüssel in das Schloss und öffnete die Tür, die lautlos nach innen aufschwang. Halbdunkel erfüllte den Raum. Condon tastete sich zum Bett vor, in dem seiner Meinung nach der Junge und seine hilflose Großmutter schliefen.



Der Amerikaner dachte nur an das Banknotenbündel, das er gesehen hatte. Wenn er es unbemerkt an sich bringen konnte, umso besser. Sollte er auf Widerstand stoßen, so war er auch hierfür gewappnet. Die Kleidung des Jungen lag auf einem Stuhl neben dem Bett. Flink durchsuchte der Gauner sie, fand aber das Geld nicht. Gewiss lag es unter einem Bettkissen versteckt. Er trat näher an den Schläfer. Schon war seine ausgestreckte Hand halb unter das Kissen geglitten, als sich die große Wolke, die den Mond verdunkelte, weiterbewegte und helles Licht den Raum überflutete. Im gleichen Augenblick öffnete der Junge die Augen und blickte in das Gesicht Condons. Der Mann erkannte, dass der Junge allein im Bett lag. Seine Hand schloss sich um die Kehle Jacks. Der Junge richtete sich auf, kämpfte. Condon hörte ein Knurren hinter sich. Und während die Hände des Jungen seine Gelenke packten, fühlte er andere Hände an seiner Kehle, haarige Hände, die von hinten über seine Schultern langten. Er warf einen entsetzten Blick nach hinten - ein Schauer überlief ihn, als er den großen Menschenaffen erkannte. Die entblößten Fänge Akuts befanden sich nahe seiner Kehle. Der Junge hielt mit eisernem Griff seine Hände fest. Keiner gab einen Laut von sich. Wo war die Großmutter? Condons verzweifelter Blick nahm jetzt jede Bewegung in dem Raum auf. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, als er erkannte, auf welches Abenteuer er sich eingelassen hatte. Er wollte den Jungen fortstoßen, um den Angreifer in seinem Rücken abzuwehren. Er riss eine Hand los und führte einen heftigen Schlag gegen das Gesicht des Jungen. Dieser Schlag schien die ganze Wut des haarigen Geschöpfes hinter ihm hervorzurufen. Condon hörte ein tiefes, wütendes Knurren. Dann wurde er zurückgerissen und zu Boden geworfen. Ein schwerer Körper warf sich auf ihn, mächtige Zähne packten seine Halsschlagader und zerrissen sie.



Sekunden später erhob sich der Affe von der leblosen Gestalt.



Der Junge sprang entsetzt aus dem Bett und beugte sich über den Toten. Er wusste, dass Akut in Notwehr getötet hatte, nicht anders als im Falle Michael Sabrows, aber wie sollte er das beweisen? Die Strafe für Mord war der Tod. Sie traf den Täter wie seinen Komplizen gleichermaßen. Wer würde sie hier, in einem fremden Land, verteidigen? Alle würden gegen ihn sein. Sie waren in einem primitiven Land. Vielleicht würde es nicht einmal eine Gerichtsverhandlung geben, und man würde sie beide an den nächsten Baum knüpfen. Solche Dinge geschahen in Amerika, wie er gelesen hatte, und Afrika war noch viel wilder als der große Westen, dem seine Mutter entstammte. Ja, gewiss würde man sie beide bei Morgengrauen hängen!



Gab es keinen Ausweg? Er überlegte minutenlang, sich zur Ruhe zwingend, dann stieß er einen Ruf der Erleichterung aus und langte nach seiner Kleidung. Geld löste alle Probleme! Geld würde ihn und Akut retten. Er tastete nach dem Banknotenbündel, das er mitgebracht hatte. Es war nicht da! Er suchte noch einmal, langsam und gründlich, aber der Erfolg war der gleiche - das Geld blieb verschwunden. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder und suchte den Fußboden ab. Er zündete die Lampe an, rückte das Bett zur Seite und setzte die Suche fort. Neben der Leiche Condons zögerte er, zwang sich dann aber, sie zu berühren. Er rollte sie zur Seite, doch das Geld befand sich nicht darunter. Er erriet, dass der Mann in ihr Zimmer eingedrungen war, um ihn zu berauben, aber er hielt es für unmöglich, dass der Gauner das Geld in der kurzen Zeit hatte in Sicherheit bringen können. Also musste es sich in seiner Kleidung befinden. Er durchsuchte Jacke und Hose des Amerikaners - vergeblich.



Jack war verzweifelt. Was sollten sie tun? Am Morgen würden sie entdeckt und getötet werden. Trotz seiner Größe und Stärke, die er von seinem Vater geerbt hatte, war er ein kleiner Junge geblieben, der nur nach den kümmerlichen Erfahrungen seiner Jugend urteilen konnte. Er kauerte sich auf dem Bett zusammen und überlegte. Am Abend zuvor war er noch entschlossen gewesen, nach Hause zurückzukehren und seine Eltern wegen des Abenteuers, in das er sich gestürzt hatte, um Verzeihung zu bitten. Jetzt würde er sie wahrscheinlich nie wiedersehen, denn das Blut eines Mitmenschen klebte an seinen Händen (er hatte längst vergessen, dass es eigentlich Akut gewesen war, der den Eindringling tötete). Schwer fühlte er die Schuld auf sich lasten. Mit Geld wäre es ihm vielleicht gelungen, das schwere Schicksal abzuwenden, sich loszukaufen, aber welche Chancen hatte er ohne einen Penny im fremden Land?

 



Er wandte sich Akut zu. »Komm!«, sagte er in der Sprache der großen Affen. Er vergaß, dass er nur mit einem Pyjama bekleidet war, als er ans Fenster eilte. Er steckte den Kopf hinaus und horchte angespannt. Wenige Meter vor dem Fenster ragte ein hoher Baum auf. Geschmeidig sprang der Junge auf den nächsten Ast und ließ sich am Stamm hinab. Dicht hinter ihm kam Akut. Zweihundert Meter weiter führte ein Weg in den Dschungel. Niemand sah sie, und wenig später verschlang der Dschungel John Clayton, den zukünftigen Lord Greystoke.





Am folgenden Morgen klopfte spät ein Hausdiener an die Tür des Zimmers, das von Mrs. Billins und ihrem Enkel gemietet worden war. Als er auf Klopfen und Rufen keine Antwort erhielt, steckte er seinen zweiten Schlüssel ins Schloss. Aber der Zimmerschlüssel steckte von innen. Er meldete Herrn Schopf, dem Besitzer, seine Entdeckung, und Herr Schopf eilte ins zweite Stockwerk hinauf, um laut mit beiden Fäusten an die Tür zu hämmern. Als alles still blieb, bückte er sich, um zu sehen, ob er durch das Schlüsselloch nicht doch einen Blick in den Raum werfen könnte. Dabei verlor er fast das Gleichgewicht, er musste sich mit einer Hand auf den Boden stützen - und fühlte etwas Feuchtes, Klebriges an seinen Fingern. Im Dämmer des Korridors erkannte er den roten, dunklen Fleck als Blut. Er sprang auf und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Das dünne Holz zersplitterte, und Herr Schopf taumelte in das Zimmer.



Was er sah, blieb für ihn das größte Rätsel seines Lebens. Zu seinen Füßen lag der entseelte Körper des Amerikaners, der am Abend zuvor ein anderes Zimmer genommen hatte. Die Taschen seiner Kleidung waren nach außen gedreht, als hätte sie jemand gründlich durchsucht. Das Genick des Mannes war gebrochen, an der Halsschlagader klaffte eine riesige Wunde. Die alte Dame und ihr Enkel waren verschwunden. Das Fenster stand offen. Die beiden mussten durch das Fenster verschwunden sein, denn der Schlüssel steckte von innen im Schloss.



Wie aber hatte der Junge seine kranke Großmutter zwei Stockwerke tief hinablassen können? Ein unvorstellbarer Gedanke. Wieder durchsuchte Herr Schopf das kleine Zimmer. Er stellte fest, dass das Bett von der Wand gerückt war - warum? Er blickte zum dritten oder vierten Mal unter das Bett und in den Schrank. Die beiden waren fort, und das, obwohl der Verstand Herrn Schopf sagte, dass der Junge seine Großmutter nicht getragen haben konnte. Die weitere Untersuchung ließ das Rätsel noch geheimnisvoller erscheinen. Die gesamte Kleidung der beiden befand sich noch im Zimmer, die Verschwundenen konnten nur ihre Nachtkleider getragen haben. Herr Schopf schüttelte den Kopf, dann kratzte er sich den Schädel. Er hatte nie von Sherlock Holmes gehört, sonst hätte er nicht gezögert, den Meisterdetektiv herbeizurufen, denn hier lag ein wirklich geheimnisvolles Rätsel vor - eine alte Frau, eine Kranke, die vom Schiff zum Hotel gefahren bzw. getragen werden musste, und ihr Enkel hatten am Abend zuvor ein Hotelzimmer im zweiten Stock bezogen. Sie hatten sich das Abendessen auf dem Zimmer servieren lassen, und das war das Letzte, was man von ihnen sah. Um neun Uhr am nächsten Morgen war die Leiche eines Fremden der einzige Bewohner des Raumes. Kein Boot hatte den Hafen inzwischen verlassen, es gab im Umkreis von Hunderten von Meilen keine Eisenbahn, die nächste weiße Siedlung lag so weit entfernt, dass sie nur in drei Tagen harten Marsches erreicht werden konnte, und das mit einer gut ausgerüsteten Safari. Die beiden hatten sich in Nichts aufgelöst, denn der eingeborene Diener, den Herr Schopf nach draußen geschickt hatte, kam mit der Meldung wieder, dass sich keinerlei Fußspuren auf dem weichen Rasen unter dem Fenster befänden. Herr Schopf schauderte. Ja, es war ein großes Rätsel, in dem etwas Unheimliches lag. Der Hotelbesitzer dachte mit Unbehagen an die kommende Nacht.




 Fünftes Kapitel



Hauptmann Armand Jacot von der Fremdenlegion saß auf einer ausgebreiteten Satteldecke am Fuß einer verkümmerten Palme. Seine breiten Schultern und der kurzgeschorene Kopf lehnten lässig am rauen Stamm des Baumes. Die langen Beine waren ausgestreckt, die Sporen hatten sich in den Wüstensand gebohrt. Hauptmann Jacot genoss die Ruhe nach einem langen und anstrengenden Ritt. Lässig rauchte er seine Zigarette und sah der Ordonnanz zu, die das Abendessen zubereitete. Rechts von ihm erfüllte die lärmende Geschäftigkeit seiner Truppe von kampferfahrenen Männern die Luft mit lauten Geräuschen. In ihrer Mitte kauerten gefesselt und scharf bewacht, fünf weißgekleidete Araber.



Der Anblick dieser Männer erfüllte Hauptmann Jacot mit dem beruhigenden Bewusstsein, seine Pflicht erfüllt zu haben. Fast einen ganzen Monat lang hatte er mit seinen Leuten die Wüste nach einer Schar von Banditen durchsucht, die außer zahlreichen Viehdiebstählen mehrere Morde auf dem Gewissen hatten, so dass ihnen die Guillotine sicher war.



Vor einer Woche hatte er sie endlich stellen können. Bei dem Kampf waren zwar zwei seiner Leute gefallen, aber die Verluste der Banditen kamen fast einer völligen Vernichtung gleich; nur ein halbes Dutzend hatte fliehen können. Dass sich der Führer der Banditen, Achmet ben Houdin, unter den Gefangenen befand, erfüllte Jacot mit besonderer Genugtuung.



Von den Gefangenen ließ der Hauptmann seine Gedanken die letzten Meilen in die Garnison schweifen. Im Geiste sah er sich schon von seiner schönen Frau und der kleinen Tochter willkommen geheißen, deren weiche Wangen er an seiner rauen Lederhaut zu spüren glaubte.



Plötzlich wurde er durch laute Rufe aus seiner Träumerei gerissen. Hauptmann Jacot hob den Blick. Die Sonne war noch nicht untergegangen, ließ aber schon die Schatten der kümmerlichen Bäume, der Männer und Pferde weit in die Wüste reichen. Jacots Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Postens, der den Alarm ausgelöst hatte. Er erkannte Reiter in der Wüste, die sich schnell dem Lager näherten. Jacot schickte den Ankömmlingen einen Sergeanten und ein Dutzend seiner Soldaten entgegen. Etwa zweihundert Meter vor dem Lager trafen die beiden Gruppen aufeinander. Jacot sah den Sergeanten in Unterhaltung mit einem hochgewachsenen, weißgekleideten Mann - offensichtlich dem Führer der Gruppe. Der Sergeant und der Araber wandten sich um und ritten Seite an Seite zum Lager. Jacot erwartete sie. Die beiden zügelten ihre Pferde vor ihm und stiegen ab.



»Scheich Amor ben Kathour«, sagte der Sergeant mit einer vorstellenden Geste.



Jacot musterte den Mann. Er kannte fast jeden Scheich im Umkreis von mehreren hundert Meilen. Diesen Mann hatte er noch nie gesehen. Er war hochgewachsen, sein Gesicht war von Wind und Sonne zerfurcht, sein Alter schätzte Jacot auf sechzig oder mehr. Die Augen des Mannes verrieten List und Verschlagenheit.



»Nun?«, fragte der Hauptmann.



Der Araber kam sofort zur Sache. »Achmet ben Houdi ist der Sohn meiner Schwester. Wenn du ihn mir übergibst, werde ich dafür sorgen, dass er sich nicht mehr gegen das französische Gesetz vergeht.«



Jacot schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, erwiderte er. »Ich muss ihn mitnehmen. Ein Zivilgericht wird in fairem Verfahren das Urteil über ihn sprechen. Ist er unschuldig, kann er entlassen werden.«



»Und wenn er nicht unschuldig ist?«, fragte der Araber.



»Er ist vieler Morde angeklagt. Gelingt es, ihm nur einen dieser Morde nachzuweisen, muss er sterben.«



Die linke Hand des Arabers war unterm Burnus verborgen gewesen. Jetzt zog er sie mit einem Geldbeutel aus Ziegenleder hervor. Der Beutel war prall gefüllt. Der Scheich öffnete den Beutel und ließ einen Teil des Inhalts auf seine rechte Hand rinnen - alle Münzen waren französische Goldstücke. Aus der Größe des Beutels schloss Jacot, dass sein Inhalt ein kleines Vermögen darstellte. Langsam ließ Scheich Amor ben Kathour die Goldstücke wieder in den Beutel gleiten und verschloss ihn. Während der ganzen Zeit blieb er stumm. Jacot beobachtete ihn genau. Sie waren allein. Der Sergeant, von dem der Besucher ins Lager geleitet worden war, hatte sich zurückgezogen. Plötzlich hielt der Scheich dem Hauptmann den Beutel auf der flachen Hand entgegen.



»Achmet ben Houdin, der Sohn meiner Schwester, könnte heute Nacht entfliehen, nicht wahr?«



Hauptmann Jacots ohnehin dunkles Gesicht färbte sich noch dunkler.



»Sergeant!«, rief er.



Der Sergeant kam herbei und salutierte.



»Bringen Sie diesen Sohn einer Hündin wieder zu seinen Leuten zurück«, befahl Jacot. »Sorgen Sie dafür, dass alle sofort verschwinden. Und schießen Sie heute Nacht auf jeden, der sich dem Lager nähert.«



Scheich Amor ben Kathour richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Seine verschlagenen Augen verengten sich. Er hob den Geldbeutel, bis er sich auf gleicher Höhe wie die Augen des französischen Offiziers befand.



»Du wirst mehr als dieses hier für das Leben Achmet ben Houdins, meiner Schwester Sohn, zahlen«, sagte er. »Und noch einmal so viel für das Wort, mit dem du mich beleidigt hast.«



»Scher dich fort!«, knurrte Jacot. »Verschwinde, bevor mein Fußtritt dich wegbefördert.«



All dies ereignete sich etwa drei Jahre vor dem Einsetzen unserer Geschichte. Die Spuren Achmet ben Houdins und seiner Komplizen lassen sich noch heute verfolgen. Er nahm das Ende, das er verdient hatte, und starb mit dem Stoizismus der Araber.





Einen Monat später verschwand Jeanne Jacot, die siebenjährige Tochter Hauptmann Armand Jacots, auf geheimnisvolle Weise. Weder Geld noch die Macht der großen Republik vermochten das Rätsel um Jeannes Verschwinden zu lösen. Die ausgesetzte Belohnung war so hoch, dass sich immer wieder Abenteurer davon angezogen fühlten. Selbst moderne Detektive beteiligten sich an der Suche; die Gebeine vieler von ihnen bleichen heute im stummen Sand der Sahara.



Zwei Schweden, Carl Jenssen und Sven Malbihn, gaben ihre Versuche nach drei Jahren auf. Sie waren bis weit in den Süden der Sahara vorgedrungen und hatten das profitablere Geschäft des Elfenbeinhandels entdeckt. In weiten Bezirken waren sie bereits wegen ihrer Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit bekannt. Die Eingeborenen fürchteten und hassten sie, die Regierungen der Länder, in denen sie ihre Tätigkeit entfalteten, suchten ihrer vergeblich habhaft zu werden. Die Überfälle der Schweden waren meist erfolgreich. Sie ergriffen das gehortete Elfenbein und zogen sich mit ihrer Beute in die unzugängliche nördliche Einsamkeit zurück. Rücksichtslos töteten sie auch jeden Elefanten, der ihren Weg kreuzte. Ihr Gefolge bestand aus hundert oder mehr Arabern und Negersklaven, die eine rücksichtslose Bande von Halsabschneidern gebildet hatten. Merken wir uns die Namen, denn wir werden ihnen später wieder begegnen - Carl Jenssen und Sven Malbihn, zwei schwedische Riesen mit goldblonden Bärten.





Im Herzen des Dschungels, verborgen am Ufer des unentdeckten Nebenflusses eines großen Stromes, der sich in den Atlantik ergießt, lag ein kleines, von schweren Palisadenzäunen umgebenes Dorf. Zwanzig mit Palmblättern bedeckte Hütten beherbergten die schwarzen Bewohner, während das halbe Dutzend zeltähnlicher Hutten aus Ziegenleder den Arabern Unterschlupf bot, die hier ihre Ladungen für den Markt in Timbuktu zusammenstellten.



Vor einem der Araberzelte spielte ein kleines Mädchen von zehn Jahren. Mit seinen schwarzen Augen, dem schwarzen Haar und der grazilen Haltung war jeder Zoll des Mädchens der einer geborenen Wüstentochter. Ihre kleinen Finger waren damit beschäftigt, der Puppe Geeka aus Gras ein neues Kleid zu fertigen. Der Kopf der Puppe war roh aus Elfenbein geschnitzt, während der Körper aus Rattenfell bestand. Die Arme und Beine waren Stücke Holz, an einem Ende durchbohrt und mit dem Körper verbunden. Die Puppe, alles andere als schön, stellte für Meriem das einzige Wesen dar, dem sie ihren Kummer und ihre Sorgen anvertrauen konnte, und darum war sie die schönste Puppe auf der Welt.



Fast alle Menschen, mit denen Meriem zusammenkam, waren entweder gleichgültig oder grausam zu ihr. So zum Beispiel die alte Hexe Mabunu - ein zahnloses, schmutziges Geschöpf von unberechenbarem Temperament. Sie ließ keine Gelegenheit vorübergehen, das Mädchen zu quälen; einmal hatte sie die kleine Meriem sogar mit glühenden Kohlen verbrannt. Dann war noch der Scheich da, ihr Vater. Ihn fürchtete Meriem mehr als selbst Mabunu, denn er schalt sie oft und beendete seine Tiraden meist mit schmerzhaften körperlichen Züchtigungen.

 



Als sie an diesem Tag vor dem väterlichen Zelt aus Ziegenfell saß, tauchte der Scheich unerwartet auf. Sofort erlosch der glückliche Ausdruck auf Meriems Gesicht. Sie kauerte sich zusammen, rückte auch zur Seite. Aber sie war nicht schnell genug gewesen. Mit einem brutalen Tritt fegte der Mann mit dem ledernen Gesicht sie aus dem Weg. Zitternd, aber tränenlos blieb Meriem liegen, während der Mann ihr eine Verwünschung nachschickte, bevor er in sein Zelt trat.



Als der Scheich im Zeltinnern verschwunden war, kroch Meriem in den Schatten ihrer Behausung, wo sie, die Puppe fest gegen die Brust gedrückt, liegenblieb, um abzuwarten, bis der Tränenstrom, der sich erst jetzt ergoss, versiegen würde. Meriem konnte sich nicht an Elternliebe erinnern. Sie kannte nur die Grausamkeiten des Scheichs und Manubus. Nur ganz verschwommen meinte sie sich an ein schöneres Bild aus ihrer ersten Jugend zu erinnern - an eine Mutter, die mit sanfter Stimme zu ihr sprach. Was dieses Bild ihr vorgaukelte, übertrug sie auf ihre Puppe, der ihre ganze Liebe galt.



Mit tränenerstickter Stimme flüsterte sie: »Geeka liebt Meriem. Warum liebt der Scheich, mein Vater, mich nicht auch? Bin ich so unnütz? Ich versuche gut zu sein, weiß aber nie, warum er mich schlägt, so dass ich nicht sagen kann, was ich getan habe, um seinen Zorn zu erregen. Warum ist er so hässlich zu mir, Geeka? Ich weiß es nicht, und ich wünschte, ich wäre tot. Gestern brachten die Jäger den toten Körper El adreas. Nie wieder wird El adrea sich seiner ahnungslosen Beute nähern. Nie wieder wird sein mächtiger Schädel und sein gelber Rücken die Herzen der Grasfresser vor Furcht schneller pochen lassen, wenn sie nachts ihre Wasserstelle aufsuchen. Nie mehr wird sein donnerndes Brüllen den Erdboden erschüttern. El adrea ist tot. Sie schlugen seinen Körper fürchterlich, als sie ihn gestern brachten, aber die Schläge machten El adrea nichts aus, denn er war tot. Wenn ich tot bin, Geeka, werde ich auch nicht mehr die Schläge meines Vaters und Mabunus spüren. Dann werde ich glücklich sein. O Geeka, wie wünschte ich, tot zu sein!«



Plötzlich wurden Meriems Gedanken durch eine Bewegung am anderen Ende des Dorfes abgelenkt. Sie war neugierig wie alle Kinder und wäre gern hingeeilt, um zu sehen, was es gab, aber die Gefahr, dabei ihrem Vater zu begegnen, hielt sie zurück.



Sie hörte, wie eine Menge sich über die Straße dem Zelt des Scheiches näherte, und sah zwei Fremde - weiße Männer. Sie waren allein, aber aus den Gesprächen der anderen Dorfbewohner entnahm Meriem, dass die beiden ein großes Gefolge hatten, das außerhalb des Dorfes lagerte. Die Fremden waren gekommen, um mit dem Scheich zu palavern.



Der alte Araber kam ihnen aus seinem Zelt entgegen. Seine verschlagenen Augen verengten sich, als er die Ankömmlinge musterte. Die Fremden blieben stehen und begrüßten den Scheich. Sie seien gekommen, um Elfenbein zu kaufen oder einzuhandeln. Der Scheich knurrte, er habe kein Elfenbein. Meriem entfuhr ein unterdrückter Ausruf. Sie wusste genau, dass in einer nahegelegenen Hütte die großen Stoßzähne bis unter das Dach lagerten. Sie schob sich ein wenig weiter vor, um einen besseren Blick auf die Fremden zu bekommen. Wie weiß sie waren! Wie gelb ihre starken Bärte!



Plötzlich wandte der eine der beiden seinen Blick in Meriems Richtung. Sie wollte sich noch schnell verstecken, denn sie fürchtete alle Männer, aber er hatte sie schon gesehen. Meriem beobachtete das Erschrecken des Mannes. Auch der Scheich sah es und erriet den Grund.



»Ich habe kein Elfenbein«, wiederholte er. »Ich will keinen Handel. Gehen Sie. Gehen Sie sofort!«



Er drängte die Fremden in Richtung des Palisadentores. Sie erhoben Einwendungen, aber der Scheich drohte nur. Es wäre Selbstmord gewesen, dem Befehl nicht zu gehorchen, also verließen die beiden Männer das Dorf, um zu ihrem lagernden Gefolge zurückzukehren.



Der Scheich ging zu seinem Zelt, betrat es aber nicht. Er wandte sich Meriem zu, die angsterfüllt an der Seitenwand des Zeltes lag. Der Scheich bückte sich und packte ihren Arm. Mit einem Ruck riss er sie auf die Füße, zerrte sie zum Eingang des Zeltes und stieß sie hinein. Er folgte ihr und begann wütend auf das Mädchen einzuschlagen.



»Du bleibst drin, hast du verstanden?« herrschte er sie an. »Ich warne dich, Fremde dein Gesicht sehen zu lassen. Wenn du dich noch einmal Fremden zeigst, werde ich dich töten.« Ein wütender Schlag beförderte Meriem in die

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