DER ENGEL DES SCHRECKENS

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DER ENGEL DES SCHRECKENS
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EDGAR WALLACE

DER ENGEL

DES SCHRECKENS

Roman

Apex-Verlag

Impressum

Copyright dieser Ausgabe © 2021 by Apex-Verlag.

Der Roman The Angel Of Terror von Edgar Wallace ist gemeinfrei.

Übersetzung: Friedrich Pütsch, bearbeitet von Christian Dörge (OT: The Angel Of Terror).

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.

Satz: Apex-Verlag.

Verlag: Apex-Verlag, Winthirstraße 11, 80639 München.

Verlags-Homepage: www.apex-verlag.de

E-Mail: webmaster@apex-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Das Buch

Der Autor

DER ENGEL DES SCHRECKENS

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

Das Buch


Wenn Jim Meredith bis zu seinem 30. Geburtstag nicht verheiratet ist, gehen die Meredith-Millionen an Jims geldgierige Cousine. In letzter Minute wird Jims Hochzeit mit der Journalistin Lydia Beale arrangiert. Kaum hat Jim die Zeremonie jedoch hinter sich, da wird er von Unbekannten erschossen. Seiner jungen Witwe droht ein ähnliches Schicksal...

Der Roman Der Engel des Schreckens von Edgar Wallace, der als einer der erfolgreichsten Kriminal-Schriftsteller aller Zeiten gilt, erschien erstmals im Jahr 1922; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1931.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

Der Autor


Edgar Wallace.

(* 1. April 1875, † 10. Februar 1932).

Richard Horatio Edgar Wallace war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Er gehört zu den erfolgreichsten und populärsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.

Wallace wurde in Greenwich bei London als unehelicher Sohn des Schauspielerpaares Mary Jane „Polly“ Richards und Richard Horatio Edgar geboren und unmittelbar nach seiner Geburt von dem Londoner Fischhändler-Ehepaar Freeman adoptiert. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und brach im Alter von 12 Jahren die Schule ab. Nach diversen Jobs ging er als 18-Jähriger zur Armee und arbeitete sich im Zweiten Burenkrieg in Südafrika bis zum Kriegsberichterstatter hoch.

Nach seiner Rückkehr nach London arbeitete er als Journalist und Sonderberichterstatter. 1901, noch in Südafrika, heiratete er Ivy Maude Caldecott (1880?–1926), Tochter eines Missionars. Mit ihr hatte er vier Kinder. 1918 wurde die Ehe geschieden. 1921 heiratete er seine Sekretärin Ethel Violet King (1896–1933), Tochter des Bankiers Friedrich König, mit der er eine Tochter hatte.

1905 erschien im Eigenverlag sein erster Kriminalroman Die vier Gerechten (The Four Just Men), der zwar ein Publikumserfolg war, aber für Wallace ein finanzielles Desaster bedeutete. Er hatte jedem, der die Lösung des Buches erraten würde, einen Preis in Höhe von 500 Pfund versprochen, für damalige Zeiten eine ungeheure Summe: Zu viele Menschen errieten das Ende des Romans, und er war damit finanziell am Ende. Nur dem Eingreifen von Lord Harmworth von der Daily Mail war es zu verdanken, dass Wallace diese Pleite überstand. Bekannt wurde er vor allem durch seine journalistische Arbeit und seine Afrikaromane, deren erster 1911 unter dem Titel Sanders vom Strom (Sanders Of The River) erschien.

Wallaces berühmtester Krimi war Der Hexer (The Ringer), der als Theaterstück am 1. Mai 1926 uraufgeführt wurde und ein riesiger Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Für die erste Verfilmung seines Romans The Squeaker (dt. Der Zinker, 1930) schrieb er nicht nur das Drehbuch, sondern führte auch selbst Regie.

Darüber hinaus verfasste er zahlreiche Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Theaterstücke. Ebenfalls begann er noch mit der Abfassung des Drehbuches für den später mit Fay Wray in der weiblichen Hauptrolle gedrehten Filmklassiker King Kong und die weiße Frau (King Kong, 1932), doch er verstarb in Beverly Hills, Hollywood/Kalifornien an den Folgen einer Lungenentzündung vor dessen Vollendung. Seine Frau Violet überlebte ihren Mann um nur 14 Monate, sie starb im Alter von 37 Jahren im April 1933.

In der Nähe der Fleet Street erinnert am „Ludgate Circus“ eine Gedenktafel an Edgar Wallace mit dem Text: Er lernte Reichtum und Armut kennen – er verkehrte mit Königen und doch blieb er sich selbst treu. Seine Talente widmete er der Literatur, doch sein Herz gehörte der Fleet Street.

Sein Sohn Bryan Edgar Wallace (Death Packs At Suitcase, 1961, dt. Der Tod packt seinen Koffer) und seine Tochter Penelope Wallace (Kensington Gore, 1985, dt. Eine feine Adresse, 1987) waren ebenfalls Kriminalschriftsteller.

Die Romane von Edgar Wallace wurden in vierundvierzig Sprachen übersetzt. Auch gab es nach dem 1959 gedrehten deutschen Spielfilm Der Frosch mit der Maske in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Edgar-Wallace-Boom in Deutschland mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele dieser Filme wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ eingeleitet. In den Filmen stellte Klaus Kinski oft den Verbrecher oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern der deutschen Serie gehörten auch Karin Dor, Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Siegfried Schürenberg und Heinz Drache. Auch in Großbritannien entstanden in dieser Zeit viele Romanverfilmungen, die jedoch in Deutschland kaum bekannt sind.

Der Apex-Verlag widmet Edgar Wallace eine umfangreiche Werk-Ausgabe.

DER ENGEL DES SCHRECKENS

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Im Gerichtssaal herrschte völlige Stille. Die Geschworenen waren zurückgekehrt, und der Richter warf dem hochgewachsenen Angeklagten einen schnellen Blick zu. Dann legte er Akten und Papiere auf die linke Seite seines Tisches, ergriff einen Federhalter und schrieb einige Worte auf ein vor ihm liegendes Formular.

Eine atemlose Pause - jetzt nahm er die Kappe aus schwarzer Seide und setzte sie auf seine weiße Perücke.

»James Meredith, nach langer, sorgfältiger Untersuchung sind Sie des schwersten Verbrechens, des vorsätzlichen Mordes, für schuldig befunden worden. Ich stimme mit dem Urteil der Geschworenen völlig überein. Nach der Zeugenaussage der bedauernswerten Dame, mit der Sie verlobt waren, einer Aussage, die Sie hartnäckig als unwahr hinzustellen versuchten, besteht nicht der geringste Zweifel, dass Sie Ferdinand Bulford aus Eifersucht erschossen haben. Die Aussage Miss Briggerlands, Sie hätten den jungen Mann bedroht und sie selbst in einem Zustand maßloser Erregung verlassen, war nicht zu erschüttern. Ein unglücklicher Zufall wollte es, dass Sie mit Mr. Bulford vor der Tür Ihrer Verlobten zusammentrafen. In Ihrer wahnsinnigen Eifersucht schossen Sie ihn nieder.

Sie selbst haben behauptet, Ihr Besuch bei Miss Briggerland habe nur stattgefunden, um Ihre Verlobung mit der jungen Dame zu lösen. Sie haben weiterhin behauptet, diese Unterredung sei in jeder Beziehung ruhig verlaufen. Sie haben damit sagen wollen, Miss Briggerland habe bewusst einen Meineid geleistet, bewusst Ihre Verurteilung zum Tode herbeiführen wollen - eine ungeheuerliche Behauptung, die Sie durch die Verwandtschaft zwischen Ihnen und Miss Briggerland zu erklären versuchen: Miss Briggerland ist Ihre Cousine und würde durch Ihren Tod in den Besitz eines bedeutenden Vermögens gelangen! Diese abscheulichen Verdächtigungen Ihrer Braut reihen sich würdig an das schwere Verbrechen an, dessen Sie für schuldig befunden wurde, und ich muss sagen, dass ich selten in einen solchen Abgrund von Ehrlosigkeit und Niedertracht geblickt habe. Niemand, der das junge Mädchen auf der Zeugenbank gesehen hat, eine mitleiderregende und in ihrem Kummer so überzeugende Erscheinung, wird auch nur einen Augenblick Ihren phantastischen Erzählungen Glauben schenken.

Wer sollte Ferdinand Bulford denn getötet haben? Einen Mann, der in der ganzen Welt auch nicht einen Feind besaß? Alle Ihre Behauptungen geben keine Erklärung für den Tod dieses Mannes.

Ich habe Ihnen jetzt die Strafe zu verkünden, mit der das Gesetz Ihre Untat sühnt. Das von den Geschworenen vorgeschlagene Gnadengesuch wird der zuständigen Stelle zugeleitet werden...«

Dann verkündete er das Todesurteil, und der hochgewachsene Mann auf der Anklagebank lauschte, ohne dass sich ein Muskel seines Gesichtes bewegte.

Der Mord in der Berkley Street hatte seinen Abschluss gefunden, und als wenige Tage später mitgeteilt wurde, dass die Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt worden war, gab es Zeitungen und Menschen, die von unangebrachter Milde sprachen. Würde James Meredith nicht vielleicht doch dem Henker überliefert worden sein, fragten sie, wenn er nicht der reiche, mächtige Mann, sondern nur ein armer Teufel gewesen wäre?

 

»Das ist also das Ende«, sagte Jack Glover, als er in Begleitung des hervorragenden Anwaltes, der seinen Freund verteidigt hatte, den Gerichtshof verließ. »Die kleine Dame hat gewonnen.«

Der Anwalt blickte ihn lächelnd von der Seite an.

»Seien Sie mal ehrlich, Glover. Glauben Sie denn wirklich, das arme Ding könnte so gemein lügen, wenn es um das Leben des Mannes geht, den sie liebt?«

»Liebt?«, wiederholte Jack Glover spöttisch.

»Ich glaube, Sie sind voreingenommen.« Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf. »Ich persönlich halte Meredith für nicht normal und glaube, dass die angebliche Unterredung mit dem jungen Mädchen nur in seiner Einbildung stattgefunden hat. Jean Briggerland hat einen sehr tiefen Eindruck auf mich gemacht. Sie ist - aber sehen Sie, da kommt sie ja gerade!«

Sie hatten das Portal des Justizpalastes erreicht. Ein großer Wagen stand am Bürgersteig, und einer der Gerichtsdiener öffnete einem jungen Mädchen in tiefem Schwarz den Schlag. Einen kurzen Augenblick sah man ein blasses, trauriges Gesicht von auffallender Schönheit, dann setzte sich das Auto in Bewegung.

Der Anwalt atmete tief auf.

»Wahnsinnig!«, sagte er heiser. »Der Mann muss wahnsinnig sein. Wenn ich jemals Unschuld und Reinheit in dem Gesicht einer Frau gesehen habe, dann in diesem hier.«

»Sie sind zu viel in der Sonne gewesen, Sir John – Sie fangen an, elegisch zu werden«, erwiderte Jack Glover grob, und der Anwalt hustete entrüstet.

Jack Glover hatte eine eigene Art, seinen Freunden Liebenswürdigkeiten zu sagen, selbst wenn diese Freunde zwanzig Jahre älter waren und allen Anspruch auf respektvolle Behandlung hatten.

»Wissen Sie, Glover«, sagte Sir John beleidigt, »manchmal sind Sie wirklich unmöglich.«

Aber Jack Glover war schon seiner Wege gegangen, die Hände in den Taschen und den Hut in den Nacken geschoben.

Der grauhaarige Mitinhaber der Firma Rennett, Glover & Simpson - einen Simpson gab es schon seit zehn Jahren nicht mehr - war im Begriff, das Büro zu verlassen, setzte sich aber wieder, als sein jüngerer Teilhaber erschien.

»Ich habe das Resultat schon durchs Telefon erfahren«, begann er. »Ellbery sagt, Berufung werde unmöglich sein. Das Gnadengesuch wird ja höchstwahrscheinlich bewilligt werden - es ist ja doch schließlich eine crime passionelle -, und wegen mörderischer Eifersucht wird man noch nicht gehängt. Die Aussage des Mädels hat ihm den Rest gegeben?«

Jack nickte.

»Und sie sah aus wie ein Engel - frisch aus dem Eisschrank«, rief er verzweifelt. »Ellbery hat ja alles Mögliche getan, um sie in Widersprüche zu verwickeln, aber der alte Narr ist ja auch schon in sie verliebt - als ich ihn verließ, schwärmte er von ihrer reinen Seele und ihren anderen, himmlischen Eigenschaften.«

»Sie hat eben gewonnen«, sagte Mr. Rennett. Aber Glover fuhr wütend auf.

»Noch nicht. Ehe nicht Jim Meredith tot oder...«

»Oder...«, wiederholte der alte Herr bedeutungsvoll. »Von dem Oder wollen wir lieber nicht sprechen, Jack. Er bekommt so sicher lebenslänglich, wie zwei mal zwei vier ist. Aber ich würde, weiß Gott, viel tun, um Jimmy zu helfen - ich würde sogar Geschäft und Ansehen aufs Spiel setzen!«

Jack Glover sah ihn verblüfft an.

»Großartig!«, sagte er bewundernd. »Ich hätte gar nicht gedacht, dass Sie so viel für Jimmy übrighaben.«

Mr. Rennett stand auf und zog sich die Handschuhe an. Das Erstaunen, das er hervorgerufen hatte, schien ihm nicht sehr angenehm zu sein.

»Sein Vater war mein erster Klient«, es klang beinahe entschuldigend. »Einer der besten Menschen, die je gelebt haben. Hatte erst spät geheiratet. Man kann ruhig sagen, dass der alte Meredith unsere Firma gerettet hat. Sehen Sie, Simpson und ich waren beinahe erledigt, als Meredith uns seine Vertretung übertrug. Das war dann der Wendepunkt. Ihr Vater, Jack, konnte wieder und immer wieder vom alten Meredith erzählen. Ich wundere mich eigentlich, dass er darüber nie zu Ihnen gesprochen hat.«

»Ich glaube, ich kann mich noch daran erinnern«, sagte Jack nachdenklich. »Und Sie würden wirklich alles tun, um Jimmy zu helfen?«

»Alles!«, sagte der alte Rennett kurz.

Jack Glover pfiff laut und unmelodisch vor sich hin.

»Ich sehe ihn morgen. Haben Sie übrigens gelesen, Rennett, dass kürzlich ein Mann aus dem Gefängnis in ein Privatkrankenhaus entlassen wurde, um sich einer kleinen Operation zu unterziehen? Im Parlament ist sogar deswegen interpelliert worden. Ist das eigentlich gebräuchlich?«

»Das lässt sich natürlich machen«, antwortete der alte Herr. »Warum?«

»Halten Sie es für möglich, dass wir Jim Meredith in einigen Monaten in ein Krankenhaus bringen können zu einer - sagen wir: Blinddarmoperation?«

»Leidet er denn an Blinddarmentzündung?«, fragte Rennett überrascht.

»Weiß ich nicht - aber er kann doch so tun«, versetzte Jack ruhig.

Rennett blickte unter seinen buschigen Augenbrauen hervor auf den jungen Mann.

»Ach so - Sie dachten an das Oder?«

Jack nickte.

»Es lässt sich machen - wenn er am Leben ist«, sagte nach kurzem Schweigen Rennett.

»Er wird leben«, prophezeite sein Teilhaber. »Aber die Hauptsache - wo soll ich das Mädel finden?«

Zweites Kapitel

Lydia Beale nahm die Papiere auf, die ihren Schreibtisch bedeckten, ballte sie zusammen und warf sie in das Kaminfeuer.

Es klopfte, und sie wandte sich lächelnd ihrer rundlichen Wirtin zu, die auf einem Tablett eine große Tasse Tee, zwei dicke Scheiben Brot, Butter und Marmelade hereinbrachte.

»Fertig, Miss Beale?« frage die Wirtin besorgt.

»Für heute, ja.« Das junge Mädchen stand auf und reckte die steifgewordenen Glieder.

Sie war beinahe einen Kopf größer als Mrs. Morgan. Die tiefblauen Augen und das feine, geistvolle Gesicht kamen von ihren keltischen Vorfahren, aber auch die Grazie ihrer Bewegungen und die schlanken, weißen Hände ließen die gute Rasse erkennen, der sie entstammte.

»Ich möchte es so gern mal sehen, wenn ich darf, Miss Lydia«, sagte Mrs. Morgan und wischte ihre Hände an der Schürze ab.

Lydia zog eine der Schubladen des Schreibtischs auf und nahm einen großen Bogen Papier heraus. Es war eine Bleistiftzeichnung. Bewundernd betrachtete Mrs. Morgan das Bild eines maskierten Mannes, der eine Horde Angreifer mit seiner Pistole im Schach hält.

»Das ist in der Tat wunderschön, Miss«, sagte sie begeistert. »Ob so was heute noch verkommt?«

Das junge Mädchen lachte und schloss die Zeichnung weg.

»Nur in den Geschichten, die ich illustrieren muss, Mrs. Morgan«, sagte sie trocken. »Heutzutage sehen die Räuber meistens aus wie Gerichtsbeamte und kommen mit Klagen und Zahlungsbefehlen. Aber die Zeichnung war tatsächlich eine Erholung für mich. Endlich einmal keine Modezeichnung, wie sonst immer. Wissen Sie, ich werde beinahe schon krank, wenn ich nur ein Damenmodengeschäft sehe.«

Mrs. Morgan schüttelte mitleidig den Kopf, und Lydia wechselte das Thema.

»Ist jemand hier gewesen?«

»Nur der junge Mann von Spadd & Newton«, erwiderte die dicke Frau seufzend. »Ich habe gesagt, Sie wären nicht da, aber ich kann so schlecht lügen.«

Das junge Mädchen stöhnte.

»Ob ich jemals mit all den Schulden zu Ende komme?«, fragte sie verzweifelt. »Ich habe genug Klagen und Zahlungsbefehle und Rechnungen, um das ganze Haus damit zu tapezieren, Mrs. Morgan.«

Vor drei Jahren war Lydias Vater gestorben, der wie ihr bester Freund gewesen war. Sie wusste, er war verschuldet, hatte aber keine Ahnung, wie groß seine Verpflichtungen waren. Einer der Gläubiger hatte sie am Tag nach der Beerdigung aufgesucht und anzügliche Bemerkungen über die Annehmlichkeiten eines Todes gemacht, der die Schulden George Beales mit einem Schlage wegwischte. Und diese rohe Bemerkung hatte genügt, um das junge Mädchen zu einem Schritt zu veranlassen, der ebenso töricht wie großmütig war. Sie hatte allen Gläubigern geschrieben, dass sie selbstverständlich für die Schulden ihres Vaters einstehen werde.

Das keltische Blut in ihr hatte sie getrieben, sich eine Last aufzubürden, die sie kaum tragen konnte, aber niemals hatte sie ihre vorschnelle Handlung bereut.

Einige Gläubiger hatten die schwierige Lage des jungen Mädchens erkannt und ließen sie in Ruhe, aber andere...

Als Mitarbeiterin der Moderedaktion des Daily Megaphone bezog Lydia ein ziemlich gutes Einkommen, aber sie hätte ein Ministergehalt haben müssen, um alle die Forderungen zu befriedigen, die einen Monat später an sie herantraten.

»Gehen Sie heute Abend aus, Miss?«

Lydia fuhr aus ihren unangenehmen Träumen auf.

»Ja, ich muss ein paar Zeichnungen von Carfews neuen Kostümen machen. Ich bin gegen zwölf zurück.«

Mrs. Morgan war schon in der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte.

»Passen Sie auf, Miss Lydia. Eines schönen Tages werden Sie aus allen Sorgen heraus sein. Sie werden sehen, dass ich recht behalte. Ich wette, Sie heiraten einen sehr reichen jungen Mann.«

»Die Wette würden Sie verlieren, Mrs. Morgan«, antwortete Lydia. »Reiche junge Herren und arme junge Mädchen heiraten einander nur in den Geschichten, für die ich die Zeichnungen machen muss. Sollte ich wirklich einmal heiraten, dann vielleicht einen armen Menschen, der bald unheilbar krank wird und den ich dann bis an sein Ende pflegen muss. Und dann hasse ich ihn sicher so sehr, dass ich mit ihm nicht glücklich sein kann, aber er wird mir doch so leidtun, dass ich nicht weglaufen kann.«

Als Zeichen ihrer Missbilligung schnaufte Mrs. Morgan hörbar.

»Übrigens möchte ich auch gar nicht verheiratet sein«, fuhr Lydia lächelnd fort. »Erst muss ich mal alle meine Rechnungen bezahlen, und bis das soweit ist, bin ich eine alte, grauhaarige Frau mit einer Schute auf dem Kopf.«

Lydia hatte ihren Tee getrunken und stand - ziemlich spärlich bekleidet - in der Mitte des Zimmers, als Mrs. Morgan zurückkam.

»Ich habe das ganz vergessen, Miss. Ein Herr und eine Dame haben nach Ihnen gefragt.«

»Ein Herr und eine Dame? Wer denn?«

»Ich weiß nicht, Miss. Ich hatte mich gerade ein bisschen hingelegt, und das Mädchen hat geöffnet. Ich hatte ihr doch eingebläut, jedem Menschen zu sagen, Sie seien nicht zu Hause!«

»Haben sie keinen Namen genannt?«

»Nein, Miss. Sie haben nur gefragt, ob Miss Beale hier wohne und zu sprechen sei.«

»Hm«, Lydia zog die Brauen zusammen. »Ich möchte wissen, wieviel ich denen wieder schuldig bin.«

Sie dachte nicht weiter daran, bis sie auf dem Weg ins Theater in der Redaktion anrief und von dem Schriftleiter ihrer Abteilung erfuhr, dass nach ihr gefragt worden sei.

»Alte Freunde von Ihnen, wie es scheint. Ich war nicht da, und Brand sagte ihnen, Sie seien heute Abend im Erving-Theater. Wahrscheinlich werden Sie sie dort finden.«

»Aber wer war es denn?«, fragte sie.

»Keine blasse Ahnung«, war die Antwort.

Im Theater sah sie keinen Bekannten, wie neugierig sie auch um sich blickte. In den Pausen wurde sie auch von niemand angesprochen.

In der Reihe vor ihr, etwas nach rechts, saßen zwei Personen, die Lydia genau beobachteten, als sie hereinkam. Der Mann war Mitte Fünfzig, kahlköpfig und sehr dunkel - sein Gesicht hatte beinahe Kupferfarbe, obwohl er sicherlich Europäer war. Blaue Augen blickten wohlwollend durch starke Brillengläser, aber das Blau war so hell, dass der Kontrast zum Rot des glattrasierten Gesichtes es beinahe weiß erscheinen ließ.

Das junge Mädchen an seiner Seite war - auch für die kritischen Augen Lydias - von auffallender Schönheit. Ihr volles Haar schimmerte wie gesponnenes Gold. Es war nicht gefärbt, wie Lydia sofort feststellte. Ihre Gesichtszüge waren von seltener Ebenmäßigkeit. Die junge Zeichnerin glaubte niemals so wundervoll geschwungene Lippen gesehen zu haben. Auf der ganzen Erscheinung lag eine solche Frische und natürliche Unschuld, dass Lydias Herz sich sogleich der schönen Unbekannten zuwandte und sie den Vorgängen auf der Bühne kaum folgen konnte. Das junge Mädchen schien übrigens ein ähnliches Interesse für sie selbst zu empfinden, denn Lydia überraschte sie, wie sie sich zweimal nach ihr umwandte. Wer konnte sie wohl sein? Sie war mit erlesenem Geschmack gekleidet und trug eine kostbare Platinkette mit Smaragden.

 

Es bedurfte einer wirklichen Anstrengung, um Lydias Gedanken zur Bühne zurück und an ihre Arbeit zu bringen. Mit wenigen, geschickten Strichen skizzierte sie die Kostüme und vergaß im Augenblick die bezaubernde Fremde.

Nach Schluss der Vorstellung betrat sie das Vestibül und zog den abgetragenen Mantel dichter über ihre zarten Schultern. Die Nacht war rau, und ein scharfer Westwind trieb die dicken, weißen Schneeflocken bis in die große Halle. Die glücklicheren Theaterbesucher schritten über die schmutzige Straße und stiegen in die wartenden Wagen; dann fuhren die Taxis in endloser Reihe vor - ein Türenzuschlagen, ein Stimmendurcheinander, bis sich die Menge schließlich zerstreut hatte.

»Taxi, Miss?«

Lydia schüttelte den Kopf. Der Bus war gut genug für Sie, aber schon zwei waren vollbesetzt an ihr vorbeigefahren, und sie begann ungeduldig zu werden. Jetzt fuhr ein besonders elegantes Taxi an den Bürgersteig heran.

Der Chauffeur beugte sich aus dem Wagen und rief: »Ist Miss Beale hier?«

Das junge Mädchen fuhr überrascht zusammen und ging auf den Wagen zu.

»Ich bin Miss Beale.«

»Ich komme von Ihrem Verlag.«

Der Leiter des Megaphone hatte sich schon verschiedene Extravaganzen geleistet. Er hatte über ihre Zeichnungen Ansichten zum besten gegeben, bei deren Erinnerung sie heute noch schauderte. Mitten in der Nacht hatte er sie wecken lassen, um sie als Zeichnerin auf einen Maskenball zu beordern. Aber noch niemals hatte er sich so aufmerksam gezeigt, ihr ein Taxi zu schicken. Trotzdem überlegte sie nicht lange, sondern stieg ein.

Die Scheiben waren mit halbgeschmolzenem Schnee bedeckt, der schon seit Stunden fiel. Undeutlich sah sie die Straßenlichter an sich vorbeihuschen - der Wagen musste sehr schnell fahren. Sie rieb mit ihrem Handschuh die Scheibe, versuchte hinauszublicken und wollte das Fenster herunterlassen. Es ließ sich nicht bewegen. Jetzt sprang sie auf und klopfte zornig an die vordere Scheibe, um die Aufmerksamkeit des Chauffeurs auf sich zu lenken. Sie hatte sich nicht geirrt, als sie glaubte, über eine Brücke zu fahren, aber - zur Fleet Street kam man über keine Brücke.

Wenn der Chauffeur auch ihr Klopfen hörte, so beachtete er es doch nicht. Wütend klopfte sie von neuem gegen die Scheibe, sie war nicht ängstlich, aber über alle Maßen empört. Und auf einmal kam die Angst. Sie kam, als sie den Wagenschlag zu öffnen versuchte und feststellte, dass er von der Außenseite verschlossen war. Sie steckte ein Streichholz an und sah, dass die Fensterrahmen festgeschraubt waren - das Loch, in dem die Schraube saß, war frisch und der Schraubenkopf neu und glänzend.

Lydia hatte keinen Schirm - sie nahm nie einen ins Theater mit - und als Waffe nichts anderes als einen Füllfederhalter. Vielleicht ließ sich das Fenster mit dem Fuß zertrümmern. Als sie sich aber zurücklehnte, fand sie, dass das nicht so einfach war, wie sie glaubte. Sie gab ihr Vorhaben auf. Und jetzt wich auf einmal die sinnlose Furcht von ihr, sie wurde kühl und ruhig. Eine Entführung? Das war ja lächerlich. Aber was sollte das alles bedeuten? Der Chauffeur hatte ihren Namen genannt. Vielleicht wollte der Schriftleiter sie in seiner Wohnung sprechen, die irgendwo im Süden Londons war, wie sie sich erinnerte. Das würde ja alles erklären. Und doch sagte ihr eine innere Stimme, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging, dass ihr eine unangenehme Erfahrung bevorstand. Sie versuchte gegen diesen Gedanken anzukämpfen, aber er ließ sich nicht verdrängen.

Von neuem rüttelte sie an der Türklinke, dann fiel ihr ein leichter Lichtschein auf, der in den Wagen drang, und sie blickte durch das kleine hintere Fenster. Nur wenige Meter hinter dem Taxi sah sie zwei Scheinwerfer. Ein großer Wagen folgte, dessen Umrisse sie beim Schein einer Straßenlampe sehen konnte.

Sie mussten sich auf einer der Straßen nach den Vororten befinden. Auf der linken Seite sah sie Bäume vorbeifliegen, dann einen langen, grauen Zaun. Jetzt schoss der große Wagen an ihnen vorbei, und bald sah sie verzweifelt sein Schlusslicht in der Dunkelheit verschwinden. Bevor sie sich aber klarwerden konnte, was eigentlich vorging, hatte er gestoppt und sich quer über den Weg gestellt. Das Taxi musste plötzlich halten, und sie flog gegen die vordere Scheibe. Undeutlich bemerkte sie zwei Gestalten, hörte sprechen, und dann wurde die Tür aufgerissen.

»Wollen Sie bitte aussteigen, Miss Beale«, sagte eine angenehme Stimme; sie gehorchte mit schwankenden Knien. Zwei Männer standen an der Seite des Taxichauffeurs. Der eine trug einen langen Regenmantel, der bis ans Kinn zugeknöpft war.

»Sie können zu Ihren Freunden zurückkehren und ihnen erzählen, dass sich Miss Beale in guter Hut befindet«, sagte er zu dem Fahrer. »Und dann können Sie Ihrem Schutzpatron ein oder zwei Kerzen spenden, als Dank, dass Sie selbst noch am Leben sind.«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie eigentlich wollen«, erwiderte der Mann verdrossen. »Ich soll die Dame hier zu ihrem Büro bringen.«

»Seit wann wird denn das Daily Megaphone in diesem schönen Vorort gedruckt?«, fragte der andere höflich.

Dann wandte er sich dem jungen Mädchen zu und zog den Hut.

»Kommen Sie bitte, Miss Beale. Ich kann Ihnen eine angenehmere Fahrt versprechen, wenn ich auch keine Garantie übernehmen kann, dass ihr Abschluss weniger überraschend sein wird.«

Drittes Kapitel

Der Mann, der die Wagentür aufgerissen hatte, stand schon in vorgerücktem Alter und war untersetzt. Freundlich ergriff er den Arm des jungen Mädchens, und ohne ein weiteres Wort folgte sie ihm zum vorderen Wagen.

»Fein, Rennett!«, sagte der Mann im Regenmantel. »Alle Achtung, die Leute sind gerissen.«

»Niedertracht hat mir noch nie Bewunderung eingeflößt«, erwiderte der andere ablehnend, und der junge Mann, der Lydia gegenübersaß, lachte laut auf.

»Sie sollten das von einem objektiven Standpunkt aus betrachten, alter Freund. Ich kann mir nicht helfen, ich muss die Leute bewundern. Ich gebe zu, dass ich einen Schreck bekam, als mir klar wurde, dass Miss Beale das Taxi nicht gerufen, sondern dass man es ihr so bequem vor die Tür gestellt hatte, aber - ich kann die Leute nur bewundern.«

»Was soll das alles bedeuten?«, fragte das junge Mädchen verständnislos. »Ich bin vollkommen verwirrt - wo fahren wir jetzt hin? Zum Büro?«

»Ich fürchte, Sie werden heute Nacht nicht mehr in Ihr Büro kommen«, versetzte der junge Mann ruhig, »und es ist mir gleichfalls unmöglich, Ihnen zu erklären, warum Sie eigentlich entführt wurden.«

»Entführt?«, wiederholte das junge Mädchen ungläubig. »Wollen Sie damit sagen, dass der Mann...«

»Er fuhr mit Ihnen nach außerhalb und würde Sie wahrscheinlich an irgendeinem einsamen, gottverlassenen Platz abgesetzt haben. Ich glaube kaum, dass er etwas gegen Sie selbst im Schilde führte - die Leute laufen kein unnötiges Risiko, es kam ihnen vielmehr in erster Linie darauf an, Sie, Miss Beale, für diese Nacht aus dem Weg zu schaffen. Wie die eigentlich darauf gekommen sind, dass unsere Wahl gerade auf Sie gefallen ist, begreife ich nicht. Was sagen Sie dazu, Rennett?«

»Ihre Wahl ist auf mich gefallen?«, wiederholte das junge Mädchen verblüfft. »Wirklich, meine Herren, glauben Sie nicht auch, dass ich berechtigt bin, eine Erklärung zu verlangen? Wenn es Ihnen recht ist, wäre es mir lieber, Sie brächten mich zu meinem Büro. Ich muss nämlich an meine Stellung denken«, fügte sie bitter hinzu.

»Sechs Pfund zehn Schilling pro Woche, und dann noch ein paar Extra-Pfund für Illustrationen«, sagte der Mann im Regenmantel. »Glauben Sie mir, Miss Beale, bei dem Gehalt werden Sie niemals Ihre Schulden bezahlen, und wenn Sie hundert Jahre alt werden.«

Sie starrte ihn sprachlos an.

»Sie scheinen meine Privatangelegenheiten recht genau zu kennen«, sagte sie kühl.

»Genauer, als Sie denken.«

Sie glaubte, ihn in der Dunkelheit lächeln zu sehen, aber seine Stimme klang so freundlich und um Entschuldigung bittend, dass sie sich nicht beleidigt fühlen konnte.

»Im letzten Jahr lagen neununddreißig vollstreckbare Urteile gegen Sie vor, und in dem davor siebenundzwanzig. Sie leben von genau dreißig Schilling pro Woche, und der Rest geht an die Gläubiger Ihres Vaters.«

»Sie sind - Sie sind...«, begann sie hitzig.

»Bitte, Miss Beale, bleiben Sie ruhig. Darf ich mich übrigens vorstellen? Mein Name ist Glover - Jack Glover in Firma Rennett, Glover & Simpson. Der Herr an Ihrer Seite ist Mr. Charles Rennett, der Seniorteilhaber der Firma. Wir sind, wenn ich so sagen darf, eine ganz bekannte Anwaltsfirma, aber wie lange das nun noch der Fall sein wird, das hängt einzig und allein von Ihnen ab.«

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