Die blaue Hand

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3

An demselben Nachmittag trat Jim in Mr. Salters Büro.

»Ich gehe jetzt zum Tee«, sagte er.

Mr. Salter schaute auf die altmodische Uhr an der gegenüberliegenden Wand.

»Es ist gut. Sie gehen in letzter Zeit immer sehr pünktlich zum Tee, Steele – warum werden Sie denn rot? Handelt es sich um ein Mädchen?«

»Nein«, erwiderte Jim unnötig laut. »Ich treffe zwar ab und zu eine Dame beim Tee, aber –«

»Machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte der alte Mann ärgerlich. »Grüßen Sie sie von mir.«

Jim mußte lachen, während er die Treppe hinunterstieg und auf die Marlborough Street hinaustrat. Er beeilte sich, weil es schon etwas spät war. Erleichtert atmete er auf, als er in das stille, ruhige Lokal trat und den Tisch, an dem er gewöhnlich saß, noch unbesetzt fand.

Als er am Tisch Platz genommen hatte, kam die Kellnerin strahlend auf ihn zu, um nach seinen Wünschen zu fragen.

»Ihre junge Dame ist noch nicht gekommen, Sir«, sagte sie.

Es war das erste Mal, daß sie Eunice Weldon erwähnte, und Jim war es höchst peinlich.

»Die junge Dame, die manchmal mit mir Tee trinkt, ist nicht meine junge Dame«, erwiderte er etwas kühl.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte die Kellnerin und kritzelte auf ihrem Notizblock, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Sie bestellen wohl wie gewöhnlich?«

»Ja. Bringen Sie alles wie sonst.«

In diesem Augenblick trat eine Dame zur Tür herein, und er erhob sich schnell, um sie zu begrüßen.

Sie war von schlankem Wuchs und ging sehr, aufrecht. Etwas Liebenswürdiges und Elegantes lag in ihren Bewegungen, so daß die Herren, die auf den Straßen umherschlenderten, stehenblieben, wenn sie vorbeiging. Eunice hatte ein reines, fast madonnenhaftes Gesicht, aber ihre fröhlich lachenden, blauen Augen und ihre schön geschwungenen Lippen waren sehr lebhaft und schienen nicht gewillt, das Leben in klösterlicher Abgeschlossenheit zu vertrauern. In ihren Augen lag ein eigentümlicher Glanz, in dem sich eine Bitte und auch zugleich eine Warnung ausdrückte. Es lag Reinheit in ihrem ganzen Wesen, in all ihren Zügen, in dem ausdrucksvollen Mund, in dem runden, jugendlichen Kinn. Es lag wie ein Hauch von Taufrische über ihrer weißen, klaren, fast durchsichtigen Haut. Alle Schönheit der Jugend schien in ihr vereinigt zu sein.

Sie ging Jim mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Ich bin etwas spät dran«, sagte sie vergnügt. »Wir hatten eine langweilige Herzogin im Atelier, die ich in siebzehn verschiedenen Stellungen aufnehmen mußte – sie sah nicht besonders schön aus, aber gerade mit den unansehnlichsten Menschen hat man meistens die größte Mühe.«

Sie setzte sich, zog ihre Handschuhe aus und erwiderte freundlich den Gruß der Kellnerin.

»Die einzige Möglichkeit, schön zu sein, besteht für Leute mit Durchschnittsgesichtern in einer effektvollen Fotografie«, sagte Jim.

Eunice Weldon war in einem bekannten fotografischen Atelier in der Regent Street angestellt. Jim hatte sie vor einiger Zeit erst in dem Lokal, in dem sie augenblicklich saßen, beim Tee kennengelernt, und zwar bei einer besonderen Gelegenheit. Die Gardinen am Fenster, in dessen Nähe sie saß, hatten Feuer gefangen. Jim löschte die Flammen und verbrannte sich dabei die Hand. Und Miss Weldon hatte ihn verbunden.

Wenn ein Herr einer Dame einen Dienst erweist, so führt das meistens nicht zu einer näheren Bekanntschaft. Wenn aber umgekehrt eine junge Dame einem Mann hilft, so ist das unweigerlich der Beginn einer Freundschaft.

Seit dieser Zeit hatten sie sich täglich hier beim Tee getroffen. Einmal versuchte Jim auch, sie zum Theater einzuladen, aber sie schlug seine Bitte ab.

»Haben Sie weitere Erfolge gehabt bei Ihrer Suche nach der verlorenen jungen Dame?« fragte sie, während sie sich Marmelade auf ein Brötchen strich.

Jims Stirn legte sich in Falten.

»Mr. Salter hat mir heute klargemacht, daß es wenig an den Verhältnissen ändern würde, wenn ich sie fände.«

»Es wäre aber doch wundervoll, wenn das Kind gerettet worden wäre. Haben Sie jemals an diese Möglichkeit gedacht?«

Er nickte. »Leider dürfen wir uns keine Hoffnung in dieser Richtung machen, so schön es auch wäre. Und am meisten würde ich mich freuen«, meinte er lachend, »wenn Sie die vermißte Erbin wären!«

»Das ist hoffnungslos«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich bin die Tochter armer, aber ehrlicher Eltern, wie es immer so schön heißt.«

»Ihr Vater lebte immer in Südafrika?«

»Ja, er war Musiker. Auf meine Mutter kann ich mich kaum besinnen, sie muß sehr lieb gewesen sein.«

»Wo wurden Sie denn geboren?«

»In Kapstadt-Rondebosch, um genau zu sein. Aber warum geben Sie sich denn solche Mühe, die verlorene Dame aufzufinden?«

»Weil ich nicht will, daß dieser schreckliche, ungebildete Mensch, das große Erbe der Danton-Millionen antreten soll.«

Sie richtete sich erstaunt auf.

»Wer ist denn dieser ungebildete Mensch? Sie haben mir bis jetzt seinen Namen noch gar nicht genannt.«

Das stimmte, Jim Steele hatte ihr erst vor ein paar Tagen von dieser Sache erzählt, die ihn so sehr beschäftigte.

»Der junge Mensch heißt Digby Groat.«

Sie schaute ihn verwirrt an.

»Was haben Sie denn?« fragte er erstaunt.

»Als Sie vorhin den Namen Danton erwähnten, erinnerte ich mich daran, daß unser erster Fotograf neulich sagte, Mrs. Groat sei die Schwester Jonathan Dantons«, sagte sie langsam.

»Kennen Sie die Familie Groat?«

»Ich kenne sie nicht«, sagte sie langsam, »wenigstens nicht sehr gut –« Sie zögerte. »Aber ich werde eine Stellung bei Mrs. Groat als Sekretärin annehmen.«

Er sah sie groß an. »Und davon haben Sie mir noch nichts gesagt?«

Aber als sie die Augen niederschlug, erkannte er, daß es falsch von ihm war, so zu fragen.

»Natürlich«, fügte er schnell hinzu, »es liegt ja kein Grund vor, warum Sie mir das sagen sollten.«

»Ich weiß es selbst erst seit heute. Mr. Groat ließ sich fotografieren, und seine Mutter begleitete ihn zum Atelier. Sie waren schon ein paarmal da, aber ich habe kaum von ihnen Notiz genommen. Heute rief mich der Chef zu sich und sagte, daß Mrs. Groat eine Sekretärin brauchte und daß es eine sehr gute Stelle für mich sein würde. Sie will fünf Pfund die Woche zahlen, die ich vollständig sparen kann, denn ich werde in ihrem Hause wohnen.«

»Wann hat sich denn Mrs. Groat entschlossen, eine Sekretärin anzustellen?«

»Das weiß ich nicht – warum fragen Sie mich, danach?«

»Ich habe sie vor einem Monat in unserer Kanzlei gesehen. Mr. Salter machte ihr damals den Vorschlag, sich eine Sekretärin zu halten, um ihre Korrespondenz in Ordnung zu bringen. Sie erklärte aber, daß sie das unter keinen Umständen täte, sie wolle keine Fremde um sich haben, die weder Dienstbote noch Freundin sei.«

»Sie wird ihre Absicht eben geändert haben«, meinte Eunice lächelnd.

»Das bedeutet also, daß wir uns nicht weiter beim Tee treffen können. Wann werden Sie Ihre neue Stelle antreten?«

»Schon morgen früh.«

Jim ging in düsterer Stimmung in sein Büro zurück. Sein Leben schien plötzlich arm und traurig geworden zu sein.

›Du hast dich verliebt, alter Kerl‹, sagte er zu sich selbst.

Es gehörte zu seinen Pflichten, das große Tagebuch zu führen, und wütend blätterte er die Seiten um.

Mr. Salter war schon nach Hause gegangen. Jim steckte seine Pfeife an und trug die Vorgänge nach den kurzen Bleistiftnotizen seines Chefs ein, die er auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte.

Als er fertig war, ging er noch einmal in das Zimmer seines Chefs, um zu sehen, ob er nicht etwas vergessen hätte.

Mr. Salters Schreibtisch war für gewöhnlich in bester Ordnung, aber er hatte die merkwürdige Angewohnheit, wichtige Akten oder Notizen beiseite zu legen, man hätte fast sagen können, sie zu verstecken. Jim hob alle Gesetzbücher auf, die auf dem Tisch standen, ob er nicht noch irgendeine Notiz darunter finden könnte. Ein dünnes, goldgerändertes Notizbuch war zwischen zwei Bänden eingeklemmt gewesen und fiel nun auf die Tischplatte. Er konnte sich nicht besinnen, es früher gesehen zu haben. Als er es öffnete, entdeckte er, daß es ein Tagebuch für das Jahr 1929 war. Mr. Salter pflegte für seinen Privatgebrauch Notizen zu machen und tat das in einer sonderbaren, nur ihm verständlichen Kurzschrift. Keinem seiner Schreiber oder Sekretäre war es jemals gelungen, sie zu entziffern. Auch dieses Tagebuch war in dieser Geheimschrift abgefaßt.

Jim drehte die Blätter neugierig um und wunderte sich, daß ein so vorsichtiger und ordentlicher Mann ein Tagebuch herumliegen ließ. Er wußte, daß in dem großen, grünen Geldschrank ganze Stapel solcher kleinen Bände aufbewahrt wurden. Vielleicht hatte der Rechtsanwalt einen herausgenommen, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Es waren Hieroglyphen für Jim. Nur ab und zu stand ein Wort in offener Schrift dazwischen.

Aber plötzlich stutzte er, denn unter dem vierten Juni fand er eine lange Eintragung. Sie schien erst später von dem Rechtsanwalt gemacht worden zu sein, denn sie war mit grüner Tinte geschrieben. Aus diesem Umstand konnte er feststellen, wann sie geschrieben war, denn vor achtzehn Monaten hatte ein Augenarzt Mr. Salter gesagt, daß es ihm leichter fiele, grüne Schrift zu lesen, und seit diesem Zeitpunk hatte der Rechtsanwalt stets grüne Tinte für seine Schriftsätze benutzt. Jim hatte den Absatz gelesen, bevor er sich darüber klar wurde, daß er eigentlich nicht dazu berechtigt war.

»Ein Monat Zuchthaus im Holloway-Gefängnis. Entlassen am 2. Juli. Madge Benson (dieser Name war unterstrichen) 14, Palmer's Terrace, Paddington. 74, Highcliffe Gardens, Margate. Hatte lange Besprechungen mit dem Bootsmann, dem die ›Saucy Belle‹ gehörte.

 

Keine Spur von –«

Hier endete der Abschnitt in offener Schrift.

»Was, in aller Welt, mag das bedeuten?« murmelte Jim vor sich hin. »Das muß ich mir notieren.«

Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß er im Begriff war, etwas Unehrenhaftes zu tun, aber er war so interessiert an diesem neuen Hinweis, daß er seine Bedenken überwand.

Offenbar bezog sich diese Bemerkung auf die verschwundene Lady Mary. Wer diese Madge Benson war, und was die Erwähnung des Gefängnisses in Holloway bedeutete, wollte er herausbringen.

Als er die Notizen abgeschrieben hatte, ging er in sein Zimmer zurück, schloß seinen Schreibtisch ab, ging nach Hause und überlegte angestrengt, welche weiteren Nachforschungen er anstellen könnte.

Er hatte eine kleine Wohnung in einem Häuserblock, von dem aus man Regent's Park übersehen konnte. Von seinen eigenen Zimmern aus hatte man allerdings keinen Blick ins Freie. Man konnte nur die unangenehmen Rückseiten anderer Mietshäuser sehen, und unten führte die Eisenbahn vorbei. Er hätte von seinem Fenster aus Kupfermünzen auf die vorbeifahrenden Wagen werfen können, so dicht lagen die Schienen bei seinem Hause. Dafür war aber auch die Miete nur halb so hoch wie für ähnliche Wohnungen in besserer Lage. Er hatte ein kleines Privateinkommen von zwei bis drei Pfund wöchentlich, und wenn er sein Gehalt dazunahm, konnte er verhältnismäßig gut leben. Seine drei Zimmer waren mit wertvollen, alten Möbeln ausgestattet, die er aus dem Zusammenbruch seines väterlichen Vermögens gerettet hatte; denn als sein etwas leichtsinniger Vater starb, konnten von seiner Hinterlassenschaft gerade die zahlreichen Schulden beglichen werden.

Jim war im vierten Stock aus dem Lift gestiegen und wollte eben aufschließen, als er hörte, daß die gegenüberliegende Tür sich öffnete. Er wandte sich um.

Die ältere Frau, die heraustrat, trug die Tracht einer Krankenschwester. Sie nickte ihm freundlich zu.

»Wie geht es Ihrer Patientin?« fragte Jim.

»Es geht ihr gut. Das heißt, so gut es einer so kranken Dame eben gehen kann. Sie ist Ihnen sehr dankbar für die Bücher, die Sie ihr schickten.«

»Die arme Frau«, meinte Jim bedauernd. »Es muß doch schrecklich sein, wenn man nicht mehr ausgehen kann.«

»Sicherlich, aber Mrs. Fane scheint es nichts mehr auszumachen. Man gewöhnt sich daran, wenn man schon sieben Jahre krank liegt.«

Es kamen Schritte die Treppe herunter, und sie schaute hinauf.

»Der Postbote kommt«, sagte sie. »Ich dachte, er wäre schon dagewesen. Vielleicht bringt er uns etwas.«

Die Briefträger ließen sich im Fahrstuhl bis zum sechsten Stock fahren und teilten im Hinuntergehen die Post aus.

»Ich habe nichts für Sie, Sir«, sagte er zu Jim, während er das Paket Briefe in seiner Hand durchsah.

»Miss Madge Benson – das sind Sie doch, Schwester, nicht wahr?«

»Jawohl«, entgegnete die Frau schnell, nahm dem Postboten den Brief aus der Hand, verabschiedete sich durch ein kurzes Kopfnicken von Jim und ging die Treppe hinunter.

Madge Benson! Der Name, den er eben in Salters Tagebuch gelesen hatte!

4

Du langweilst mich zu Tode, Mutter«, sagte Digby Groat, »wenn du mir immer wieder dieselben Geschichten erzählst.« Er goss sich ein Glas Portwein ein. »Es kann dir doch genügen, wenn ich dir sage, daß ich die junge Dame als Sekretärin herhaben will. Ob du etwas für sie zu tun hast oder nicht, ist mir gleichgültig. Aber eins mußt du dir merken: Sie darf niemals den Eindruck bekommen, daß sie aus einem anderen Grund engagiert ist, als deine Briefe zu schreiben oder deine Korrespondenz zu erledigen.«

Die Frau, die ihm auf dem Sofa gegenübersaß, sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Jane Groat war über sechzig, aber manche hielten sie für zwanzig Jahre älter. Ihr gelbliches Gesicht war von vielen Runzeln und Falten durchzogen, und auf ihren blassen Händen traten die blauen Adern hervor. Nur ihre dunkelbraunen Augen machten noch einen lebendigen Eindruck, und in ihrem Blick lag Neugierde, beinahe Furcht. Ihre Gestalt war gebeugt. Ihr Benehmen ihrem Sohn gegenüber war fast kriechend, Sie sah ihm nicht in die Augen – sie sah überhaupt selten jemand an.

»Die wird hier herumspionieren, sie wird stehlen!« sagte sie mit weinerlicher Stimme.

»Nun sei aber ruhig von dem Mädchen«, sagte er böse. »Und da wir uns nun einmal allein sprechen, möchte ich dir etwas sagen.«

Ihre unsteten Blicke schweiften nach rechts und links, aber sie vermied es ängstlich, seinen Augen zu begegnen. Es lag eine Drohung in seinen Worten, die sie nur allzu gut kannte.

»Sieh einmal hierher!«

Er hatte einen Gegenstand aus seiner Tasche gezogen, der im Licht der Tischlampe blitzte und glänzte.

»Was ist es denn?« fragte sie kläglich, ohne aufzuschauen.

»Ein Diamantenarmband!« rief er vorwurfsvoll. »Es gehört Lady Waltham. Wir waren das Wochenende auf ihrem Gut. Sieh her!«

Seine Stimme war rau und schrill, und sie senkte den Kopf und begann zu weinen.

»Ich habe es in deinem Zimmer gefunden, du alte Diebin!« zischte er sie an. »Kannst du dir diese entsetzliche Sache nicht abgewöhnen?«

»Es sah doch so schön aus«, schluchz je sie, und die Tränen rannen ihr über die hageren Wangen. »Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, wenn ich schöne Dinge sehe.«

»Du weißt doch, daß das Dienstmädchen von Lady Waltham verhaftet wurde, weil sie in dem Verdacht steht, das Armband gestohlen zu haben. Wenn nichts geschieht, wird sie zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.«

»Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen«, wiederholte sie mit tränenerstickter Stimme.

Er warf das Armband mit einem Fluch auf den Tisch.

»Jetzt kann ich es der Dame wieder zurückschicken und muß ihr in einem Brief etwas vorlügen, daß es aus Versehen in deinen Koffer gekommen ist! Ich tue es nicht, um dem Dienstmädchen zu helfen, sondern um meines guten Rufes willen.«

»Jetzt weiß ich, warum du das Mädchen ins Haus nimmst – sie soll mich nur ausspionieren!«

Seine Lippen kräuselten sich verächtlich.

»Da hätte sie wohl eine schwere Aufgabe«, erwiderte er ironisch und lachte heiser, als er sich erhob.

Mit harter Stimme sagte er: »Du mußt mit dieser üblen Angewohnheit, alle Dinge zu stehlen, die dir gefallen, unter allen Umständen brechen. Ich habe die Absicht, bei den nächsten Wahlen ins Parlament zu kommen, und ich will meine gesellschaftliche Stellung nicht durch eine alte, verrückte Diebin erschüttert sehen. Wenn in deinem Kopf etwas nicht ganz in Ordnung ist«, fügte er drohend hinzu, »so weißt du, daß ich ein kleines Laboratorium habe, wo wir den Schaden reparieren können.«

Sie zuckte erschreckt zusammen. Entsetzen und Furcht zeigten sich in ihren Zügen.

»Du – das wirst du doch nicht tun – mein eigener Sohn!« stammelte sie. »Ich bin vollkommen gesund – es ist nur –«

»Vielleicht kommt es doch daher, daß du irgendeinen Druck im Gehirn hast«, sagte er kalt. »Dergleichen muß durch Operation entfernt werden –«

Sie hatte ihren Stuhl zurückgeschoben und das Zimmer fluchtartig verlassen, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Er nahm das Armband, sah verächtlich darauf und steckte es wieder in die Tasche. Ihre krankhafte Neigung kannte er nun schon seit langer Zeit. Er hatte alles versucht, sie davon abzubringen und glaubte auch, daß es ihm gelungen wäre. Um so mehr war er durch dieses letzte Vorkommnis verbittert. Er ging in die Bibliothek, wo kostbare Bücherschränke aus Rosenholz standen. Ein silbernes Gitter war vor dem Kamin befestigt, und die ganze Ausstattung zeigte den größten Luxus. Er setzte sich nieder und schrieb einen Brief an Lady Waltham. Er packte das Armband und den Brief sorgfältig in einen kleinen Kasten und klingelte dann. Ein Mann in mittleren Jahren mit einem dunklen, abstoßenden Gesicht kam herein.

»Jackson, bringen Sie das sofort zu Lady Waltham. Meine Mutter geht heute Abend in ein Konzert – wenn sie fort ist, durchsuchen Sie ihre Räume genau.«

»Das habe ich schon getan, Mr. Groat, aber ich konnte nichts finden.« Er war im Begriff zu gehen, als Digby ihn zurückrief.

»Haben Sie der Haushälterin – gesagt, daß sie sich um das Zimmer für Miss Weldon kümmert?«

»Jawohl, Sir. Sie wollte ihr zuerst ein Zimmer im obersten Stock geben, wo das Personal schläft, aber das habe ich nicht zugelassen.«

»Sie soll das beste Zimmer im ganzen Haus bekommen. Sorgen Sie dafür, daß der ganze Raum mit Blumen geschmückt ist. Stellen Sie auch noch den Bücherschrank und den chinesischen Tisch in ihr Zimmer, die jetzt bei mir stehen.«

Der Mann nickte.

»Und wie soll das mit dem Schlüssel werden, Sir?« fragte er zögernd.

»Meinen Sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer?« fragte Digby und schaute auf.

Der Mann nickte. »Wünschen Sie, daß man die Tür von innen abschließen kann?« fragte er bedeutungsvoll.

Mr. Groats Lippen zogen sich böse zusammen.

»Sie sind verrückt!« sagte er. »Natürlich will ich, daß man die Tür von innen verschließen kann. Bringen Sie auch einen Riegel an, wenn keiner vorhanden sein sollte.«

Jackson schaute erstaunt auf.

Zwischen den beiden schien ein engeres Verhältnis zu bestehen als gewöhnlich zwischen Herr und Diener.

»Ist Ihnen schon jemals ein Mann namens Steele begegnet?« fragte Digby plötzlich.

Jackson schüttelte den Kopf. »Wer ist das?« fragte er.

»Der Sekretär eines Rechtsanwaltes. Tun Sie sich nach ihm um, und beobachten Sie ihn gelegentlich, wenn Sie einmal freie Zeit haben – aber nein, lassen Sie die Sache lieber Bronson machen. Er wohnt ja in Featherdale Mansions.«

Eunice Weldon hatte ihre wenigen Habseligkeiten gepackt, der Wagen wartete vor der Tür. Es tat ihr nicht leid, daß sie die dumpfe, unordentliche Wohnung aufgeben mußte, in der sie nun die beiden letzten Jahre gewohnt hatte. Der Abschied von der etwas nachlässigen Wirtin fiel ihr nicht schwer, und sie konnte Jim Steeles Ansicht nicht teilen, der mit ihrer neuen Stellung so unzufrieden war.

Sie war noch zu jung, um einen neuen Posten nicht als den Beginn eines geheimnisvollen Abenteuers anzusehen, der alle möglichen, wunderbaren Ereignisse in sich barg. Sie seufzte, als sie daran dachte, daß diese kleinen Gespräche beim Tee, die eine so angenehme Unterbrechung ihres alltäglichen Lebens waren, nun aufhören mußten. Und doch war sie davon überzeugt, daß Jim alle Anstrengungen machen würde, sie wiederzusehen.

Sie würde Stunden, ja vielleicht sogar halbe Tage für sich haben. Plötzlich erinnerte sie sich daran, daß sie nicht einmal seine Adresse hatte! Aber er kannte ja ihren Aufenthaltsort. Dieser Gedanke beruhigte sie, denn sie hätte ihn gar zu gern wiedergesehen. Sie sehnte sich mehr nach ihm, als sie es jemals geglaubt hatte. Wenn sie die Augen schloß, erschien ihr sein schönes Gesicht, und seine lachenden, blauen Augen sahen sie treuherzig an. Die Bewegung seiner Schultern, wenn er ging, der Klang seiner Stimme beim Sprechen, alle seine charakteristischen Eigentümlichkeiten standen klar vor ihr.

Und der Gedanke, daß sie ihn nicht wiedersehen sollte –

›Aber ich will ihn sehen, ich muß ihn sehen‹, sagte sie zu sich selbst, als das Auto vor dem imposanten Portal ihrer neuen Wohnung am Grosvenor Square hielt.

Sie war bestürzt, als sie die große Schar der Diener sah, die herauskam, um ihr behilflich zu sein. Aber es tat ihr doch gut.

»Mrs. Groat möchte Sie sehen, Miss«, sagte ein finster dreinschauender Mann.

Sie wurde in einen kleinen Raum auf der Rückseite des Hauses gebracht, der ihr dürftig möbliert erschien, obwohl ihn Mrs. Groat schon für luxuriös ausgestattet hielt.

Die alte Frau lehnte jede Ausgabe für Dekorationen oder schöne Möbel ab. Nur die Furcht vor ihrem Sohn hielt sie davon ab, sich über jeden kleinen Betrag aufzuregen, der für sie ausgegeben wurde. Eunice war enttäuscht über ihre Unterhaltung mit der Frau. Sie hatte Mrs. Groat nur in dem fotografischen Atelier in vornehmer Kleidung gesehen, und nun saß eine alte, dürftig gekleidete Frau mit wachsgelbem Gesicht vor ihr und musterte sie mit feindseligen Blicken.

»Sie sind also die junge Dame, die meine Sekretärin werden soll?« fragte sie vorwurfsvoll. »Haben Sie schon Ihr Zimmer gesehen?«

 

»Noch nicht, Mrs. Groat.«

»Ich hoffe, daß es Ihnen hier gefallen wird«, sagte Mrs. Groat mit einer Stimme, die vermuten ließ, daß sie am liebsten das Gegenteil gesagt hätte.

»Wann kann ich mit meiner Tätigkeit beginnen?« fragte Eunice, die sich in dieser Umgebung durchaus nicht wohl fühlte.

»Sie können jederzeit beginnen«, erwiderte die alte Frau schnell und sah sie argwöhnisch von der Seite an. »Sie sind sehr schön«, sagte sie mürrisch, und Eunice errötete, denn das Kompliment erschien ihr fast wie eine Beleidigung. »Das wird wohl auch der Grund sein«, sagte Mrs. Groat abwesend.

»Wofür denn?« fragte Eunice liebenswürdig.

Sie hatte den Eindruck, daß diese Frau geistesschwach war, und hatte schon alle Lust an der neuen Stellung verloren.

»Das hat nichts hiermit zu tun«, sagte die alte Frau und entließ sie mit einem Kopfnicken.

Das Zimmer, in das sie jetzt geführt wurde, erschien ihr über alle Maßen schön, und sie war zuerst sprachlos über all diesen Luxus.

»Sind Sie auch sicher, daß ich hier wohnen soll?« fragte sie ungläubig.

»Jawohl, Miss«, sagte die Haushälterin und sah das Mädchen sonderbar an.

»Aber das ist doch eigentlich zu prächtig und schön für mich!«

Der Raum wäre selbst in einem Schloß aufgefallen. Die Wände waren mit Brokatseide überzogen, und die Möbel waren sehr kostbar. Ein französisches Bett, das in der reichsten Weise geschnitzt und vergoldet war, lud zur Ruhe ein. Ein großer Baldachin aus prächtiger Seide war darüber angebracht. Draußen sah sie einen Balkon, der mit farbenprächtigen Blumen geziert war. Sie stand auf einem dicken, dunkelblauen Teppich, mit dem der ganze Raum ausgeschlagen war, und schaute staunend auf diese Pracht.

Der reichgeschnitzte Toilettentisch war im Stil Louis XV. gehalten und hatte eine goldeingelegte Platte. Der dazugehörige Kleiderschrank mußte allein ein Vermögen gekostet haben. In der Nähe des Fensters stand ein hübscher Schreibtisch, und ein prachtvoller Bücherschrank mit wunderbaren Ganzlederbänden war vom Bett aus zu erreichen.

»Aber das ist doch gar nicht möglich, daß ich hier wohnen soll«, sagte sie wieder.

»Doch, Miss. Sehen Sie, das ist Ihr Badezimmer. Wir haben hier bei jedem Schlafzimmer ein besonderes Bad. Mr. Groat hat das ganze Haus umgebaut, als er es kaufte.«

Eunice öffnete eins der bis auf den Boden gehenden Fenster und trat auf den kleinen Balkon hinaus, der sich bis zu einer viereckigen Veranda hinzog, die über der Eingangshalle des Hauses errichtet war. Man konnte sie von dem Podest der Treppe aus erreichen.

Eunice sah Mrs. Groat an diesem Tage nicht wieder. Als sie nach ihr fragte, erfuhr sie, daß die alte Dame sich mit bösen Kopfschmerzen zurückgezogen hatte. Auch Digby Groat begegnete sie nicht und aß ihre erste Mahlzeit ganz allein.

»Mr. Groat ist noch nicht vom Lande zurückgekehrt«, erklärte Jackson, der sie bei Tisch bediente. »Ist alles nach Ihrem Wunsch, Miss?«

»Jawohl, ich danke.«

Sie empfand wenig Sympathie für diesen Mann. Nicht, daß er es an Respekt ihr gegenüber hätte fehlen lassen oder daß er plump vertraulich gewesen wäre – aber es lag etwas Anmaßendes in seinem Benehmen. Sie war froh, als sie ihre Mahlzeit beendet hatte und ging enttäuscht in ihr Zimmer. Sie hätte Mrs. Groat gern noch so vieles gefragt, vor allem, wann sie ausgehen konnte.

Sie schaltete das Licht aus, öffnete das große Fenster und trat hinaus, um den kühlen, duftenden Abend zu genießen. Die letzten Schimmer des Abendrotes färbten die Wolkenränder. Der Platz unten war schon erleuchtet, und ein endloser Strom von Autos fuhr unter ihrem Fenster vorbei, denn Grosvenor Square war die Hauptverbindung zwischen Oxford Street und Piccadilly.

Die Nacht brach allmählich herein, und der gestirnte Himmel wölbte sich über ihr. Die Dächer und Türme der großen Stadt hoben sich wundervoll von dem magischen Licht des Firmaments ab. Die majestätische Einsamkeit und Schönheit der Nacht bezauberten Eunice so, daß ihr fast der Atem verging. Aber nicht das märchenhafte Licht der Sterne, nicht das melodiöse Rauschen der Bäume ließ ihr Blut aufwallen, sondern das Bewusstsein, daß es noch einen Menschen in der Welt gab, der zu ihr gehörte. Irgendwo in dieser großen, dunklen Stadt lebte ein Mann, der jetzt vielleicht an sie dachte. Sie sah sein Gesicht ganz deutlich vor sich, seine lieben Augen, sie glaubte den festen Druck seiner starken Hand zu spüren ...

Mit einem Seufzer schloß sie das Fenster wieder und zog die schweren, seidenen Vorhänge zu. Fünf Minuten später lag sie in tiefem Schlummer.

Wie lange sie geschlafen haben mochte, wußte sie nicht, aber ihrer Meinung nach mußten es Stunden gewesen sein. Der lebhafte Verkehr auf der Straße war allmählich verstummt, und das summende Geräusch der Großstadt war verklungen, nur hin und wieder hörte sie eine Hupe. Der Raum lag im Dunkeln, dennoch war sie davon überzeugt, daß jemand im Zimmer war!

Sie setzte sich aufrecht, ein kalter Schauer überlief sie. Es war jemand hier! Sie tastete mit der Hand nach der Stehlampe und hätte beinahe einen Schreckensschrei ausgestoßen, denn sie berührte eine Hand, eine kalte, kleine Hand, die auf dem Nachttisch lag. Einen Augenblick war sie vor Entsetzen gelähmt. Dann wurde die Hand plötzlich zurückgezogen, sie hörte das Rauschen des Vorhangs und sah einen Augenblick lang den Schatten einer Gestalt am Fenster. Sie zitterte am ganzen Körper; dann raffte sie sich zusammen, sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Das Zimmer war leer, und das große Fenster war nur angelehnt.

Und dann entdeckte sie auf dem kleinen Tisch am Bett eine graue Karte. Mit zitternden Fingern hob sie sie auf und las: ›Jemand, der Sie liebt, bittet Sie, um Ihrer Sicherheit und Ihres Rufes willen dringend, dieses Haus sobald als möglich zu verlassen.‹

Eine kleine, blaue Hand bildete die Unterschrift.

Sie ließ die Karte auf die Bettdecke fallen, starrte eine Weile darauf, dann schlüpfte sie in ihren Morgenrock, schloß ihre Tür auf und trat in den Gang hinaus. Ein schwaches Licht brannte am Anfang der Treppe. Sie war vollständig außer sich vor Schrecken und wußte kaum, was sie tat, als sie die Treppe hinuntereilte. Sie mußte jemand finden, irgendein lebendes Wesen, etwas Wirkliches, an das sie sich halten konnte. Aber das Haus lag in tiefem Schweigen. Die große Lampe in der Halle brannte, und Eunice sah eine altmodische Uhr stehen. Das kam ihr schwach zum Bewusstsein, als sie das feierliche Ticken hörte. Es war drei Uhr. Aber vielleicht war doch noch jemand im Hause wach. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und sie eilte den Gang hinunter, bis sie zu einer Tür kam, die sie für den Zugang zu den Dienstbotenräumen hielt. Sie öffnete sie und kam in einen einsamen Korridor, der nur durch ein Licht am äußersten Ende schwach erhellt war. Eine weiße Tür schloß ihn ab. Sie versuchte, sie zu öffnen, aber sie fand keinen Griff oder Drücker.

Es war überhaupt eine merkwürdige Tür, denn sie war nicht aus Holz, sondern aus geflochtenem Rohr.

Sie stand entsetzt still, denn sie hörte einen langgezogenen Schmerzensschrei aus dem Raum hinter der Tür. Er war so fürchterlich, so gräßlich, daß ihr Blut zu Eis erstarrte.

Sie wandte sich um und floh zurück durch die Gänge, die Halle, zur Haustür. Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel um, das Schloß schnappte, und die Tür flog auf. Sie schwankte auf die breite Treppe hinaus. Auf der obersten Stufe saß ein Mann.

Er dreht sich um, als sich die Tür öffnete, und in dem Licht, das aus der Halle drang, erkannte sie ihn. Es war Jim Steele!

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